Seit mehr als einem Jahrzehnt habe ich am Institut für Religionswissenschaft der Universität Graz regelmäßig Lehrveranstaltungen zu Religionen des Alten Orients gehalten, so daß die meisten Inhalte, die in diesem Studienbuch angesprochen werden, in irgendeiner Form im akademischen Unterricht zur Sprache gekommen sind. Die hier vorgelegte Form ist dabei völlig neu konzipiert, um dadurch zugleich Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Religionen der hier behandelten drei Bereiche deutlicher werden zu lassen. Da es sich um ein Studienbuch handelt, ist eine Bemerkung zu den Literaturangaben sowie zu den Anmerkungen notwendig: Es wurde bewußt darauf verzichtet, alle einschlägige Literatur anzuführen, sondern als Grundregel wird in erster Linie die Literatur der beiden letzten Jahrzehnte genannt, so daß der Leser vielleicht das Fehlen des einen oder anderen (älteren) klassischen Werkes zu den betreffenden Religionen und Kulturen bemängeln könnte; solche Werke sind deswegen nicht angeführt, um darin vermittelte z.T. veraltete Ansichten nicht – unbewußt oder irrtümlicherweise – zu prolongieren. Bei vertiefter Beschäftigung mit der Materie wird jeder früher oder später auf diese Werke stoßen, wobei dann besser gewährleistet sein dürfte, das nach wie vor Gültige von Überholtem zu trennen. Hinsichtlich der Anmerkungen war es notwendig, daß ich mich auf weniges beschränkt habe. Manche Aussagen im Text, bei denen man eine Anmerkung erwarten würde, finden sich in der zu Beginn des betreffenden Abschnittes genannten Literatur, auch wenn ein Einzelnachweis nicht gegeben ist. Insofern sind die jedem Kapitel vorangestellten Literaturangaben als primärer “Nachweis” der wissenschaftlichen Diskussion der Thematik zu betrachten, während sich die wenigen Anmerkungen lediglich auf Einzelaspekte beziehen.
Durch die Wahl einer kleineren Schrift für einzelne Textpassagen wird nicht nur eine optische Gliederung versucht, sondern auch eine inhaltliche Gewichtung angestrebt. Die auf diese Weise geschriebenen Details zu Quellenangaben, Hinweise zur Forschungsproblematik oder Textzitate können dabei in einem ersten Studiendurchgang, der zunächst einen Überblick verschaffen soll, im Hintergrund bleiben.
Für das Buch hat meine Frau Sylvia Hutter-Braunsar nicht nur – wie schon oft – mehrfach frühere Versionen sowie Korrekturen gelesen, sondern als Althistorikerin, deren Arbeitsschwerpunkt auf der kleinasiatischen Geschichte in altorientalischer Zeit liegt, auch den kurzen historischen Abriß beigesteuert (A. 2.), der nicht nur ein chronologisches Gerüst bieten soll, sondern auch insofern wichtig ist, als Religionen des Alten Orients nie ohne historische Beziehung sind. Für all ihre Mithilfe danke ich meiner Frau ganz herzlich.
Texte und Übersetzungen: Dalley, S.: 1990. Myths from Mesopotamia. Creation, the Flood, Gilgamesh, and Others, Oxford; Falkenstein, A. / Soden, W. von: 1953. Sumerische und Akkadische Hymnen und Gebete, Zürich; Foster, B.R.: 1993. Before the Muses. An Anthology of Akkadian Literature. Vol. 1: Archaic, Classical, Mature; vol. 2: Mature, Late, Bethesda, Maryland; Jacobsen, Th.: 1987. The Harps that Once ... Sumerian Poetry in Translation, New Haven / London; Kaiser, O. (Hg.): 1982–1985. Texte aus der Umwelt des Alten Testaments. Bd. 1: Rechts- und Wirtschaftsurkunden / Historisch-chronologische Texte, Gütersloh; Kaiser, O. (Hg.): 1986–1991. Texte aus der Umwelt des Alten Testaments. Bd. 2: Religiöse Texte, Gütersloh; Kaiser, O. (Hg.): 1990–1995. Texte aus der Umwelt des Alten Testaments. Bd. 3: Weisheitstexte, Mythen und Epen, Gütersloh; Labat, R.: 1970. Les grands textes de la pensée babylonienne, in: Ders. / A. Caquot / M. Sznycer / M. Vieyra: Les religions du Proche-Orient asiatique, Paris, 13–350; Pritchard, J.B. (ed.): 1969. Ancient Near Eastern Texts Relating to the Old Testament. 3rd Edition with Supplement, Princeton; Reiner, E.: 1985. Your Thwarts in Pieces, your Mooring Rope Cut. Poetry from Babylonia and Assyria, Michigan; Schmökel, H.: 1975. Mesopotamische Texte, in: W. Beyerlin (Hg.): Religionsgeschichtliches Textbuch zum Alten Testament, Göttingen, 95–168.
Einzelstudien: Black, J. / Green, A.: 1992. Gods, Demons and Symbols of Ancient Mesopotamia. An Illustrated Dictionary, London; Bottéro, J.: 1985. Mythes et rites de Babylone, Genève; Bottéro, J.: 1987. Mésopotamie. L’écriture, la raison et les dieux, Paris; Bottéro, J. / Kramer, S.N.: 1989. Lorsque les dieux faisaient l’homme. Mythologie mesopotamienne, Paris; Dijk, J. van: 1971. Sumerische Religion, in: HRG 1, 431–496; Ebeling, E. / Meissner, B. u.a. (Hg.): 1928–1995. Reallexikon der Assyriologie. Bd. 1–8, Berlin; Edzard, D.O.: 1965. Die Mythologie der Sumerer und Akkader, in: H.W. Haussig (Hg.): Götter und Mythen im Vorderen Orient, Stuttgart (= WdM 1), 17–139; Haas, V.: 1986. Magie und Mythen in Babylonien. Von Dämonen, Hexen und Beschwörungspriestern, Gifkendorf; Hirsch, H.: 1972. Untersuchungen zur altassyrischen Religion, 2. Aufl., Osnabrück (= AfO B 13/14); Jacobsen, Th.: 1976. The Treasures of Darkness. A History of Mesopotamian Religion, New Haven / London; Klengel, H. (Hg.): 1989. Kulturgeschichte des alten Vorderasien, Berlin; Leick, G.: 1991. A Dictionary of Ancient Near Eastern Mythology, London; McCall, H.: 1993. Mesopotamische Mythen, Stuttgart; Moortgart, A.: 1982. Die Kunst des alten Mesopotamiens, Köln; Nougayrol, J.: 1973. Einführende Bemerkungen zur babylonischen Religion, in: U. Mann (Hg.): Theologie und Religionswissenschaft, Darmstadt, 28–46; Oberhuber, K.: 1991. Linguistisch-philologische Prolegomena zur altorientalischen Religionsgeschichte, Innsbruck (= IBS V 53); Oppenheim, A.L.: 1964. Ancient Mesopotamia. Portrait of a Dead Civilization, Chicago; Reiner, E.: 1978. Die akkadische Literatur, in: W. Röllig (Hg.): Altorientalische Literaturen, Wiesbaden, 151–210; Ringgren, H.: 1979. Die Religionen des Alten Orients, Göttingen, 64–184; Römer, W.H.Ph.: 1969. The Religion of Ancient Mesopotamia, in: C.J. Bleeker / G. Widengren (eds.): Historia Religionum. Vol. 1: Religions of the Past, Leiden, 115–194; Römer, W.H.Ph.: 1994. Die Sumerologie. Versuch einer Einführung in den Forschungstand nebst einer Bibliographie in Auswahl, Neukirchen-Vluyn (= AOAT 238); Soden, W. von: 1985. Einführung in die Altorientalistik, Darmstadt; Soden, W. von: 1985. Bibel und Alter Orient. Altorientalische Beiträge zum Alten Testament, hrsg. von H.-P. Müller, Berlin; Soden, W. von: 1989. Aus Sprache, Geschichte und Religion Babyloniens. Gesammelte Aufsätze, hrsg. v. L. Cagni und H.-P. Müller, Neapel.
Literatur: Edzard, D.O.: 1976–1980. Keilschrift, in: R1A 5, 544–568; Soden, W. von: 1960. Zweisprachigkeit in der geistigen Kultur Babyloniens, Wien (= SÖAW phil.-hist. Kl. 235/1); Soden, W. von: 1985. Einführung in die Altorientalistik, Darmstadt, 30–39; Walker, C.B.F.: 1987. Cuneiform, London.
Die politische und kulturelle Geschichte Mesopotamiens wurde von mehreren Völkerschaften geprägt, deren eigenständige religiöse Vorstellungen sich im Laufe der Zeit nicht nur gegenseitig befruchteten, sondern auch zu manchen Synthesen führten. Eine wesentliche Komponente in diesem Prozeß stellt die Keilschrift dar, ursprünglich eine aus administrativen Notwendigkeiten hervorgegangene Erfindung, deren allgemeine Nützlichkeit von den Sumerern frühzeitig erkannt wurde, so daß Verschriftlichung religiöser oder wissenschaftlicher Themen schon vor der Mitte des 3.Jts. faßbar wird.
Das Medium “Schrift”, dessen sich die Sumerer im Süden bedienten, wurde alsbald von den nördlicher siedelnden semitischen Akkadern aufgegriffen, wobei mit der Übertragung der Schrift auf ein völlig vom Sumerischen abweichendes Sprachsystem nicht nur eine große denkerische Leistung erbracht wurde, sondern zugleich ein wesentlicher Schritt gesetzt war, mit der Form auch Inhalte religiöser Art über Kultur- und Sprachgrenzen hinweg zu transportieren. Der erstmalige semitische Prozeß der Schriftübernahme und Adaptierung durch die Akkader zu einem noch nicht näher bekannten Zeitpunkt des 3.Jts. ist dabei nicht nur innermesopotamisch mehrfach fortgesetzt und verbessert worden, sondern hat u.a. auch Eblaiter (ab 2400), Elamier (23.Jh.), Hurriter (Ende 3.Jt.), Hethiter (17.Jh.) und Urartäer (um 900) betroffen. Aber auch die Erfindung der Keilschriften von Ugarit und der Achämeniden ist von der babylonischen Keilschrift inspiriert.
Daraus ergeben sich einige religionsgeschichtliche Konsequenzen: Die gemeinsame Schriftlichkeit und dennoch bewahrte Zweisprachigkeit erfordert eine dauernde Auseinandersetzung zwischen Sumerern und Akkadern; sie ermöglicht aber auch die Amalgamierung von religiösen Ideen und Konzepten unterschiedlicher Art, was in erster Linie für das Weiterleben von Themen der sumerischen Religion im babylonischen Bereich hervorzuheben ist. Selbst als die sumerische Sprache und Religion als lebendige Systeme längst obsolet geworden sind, werden zweisprachige religiöse Texte weiter überliefert. Im 2.Jt. läßt sich als gewisses Analogon die – durch politische Machtverhältnisse mitbedingte – weitgehende Verschmelzung babylonischer und assyrischer Religiosität feststellen, wobei Assyrien der nehmende Part war.
Der Religionshistoriker wird dabei bemüht sein, die offenkundig liegenden unterschiedlichen Traditionslinien auseinanderzuhalten und zumindest die unterschiedliche Gewichtung derselben zu betonen. Als erwähnenswerter Punkt des assyrischen Nordens sind darüber hinaus nicht nur Berührungen mit der osthurritischen Religionswelt zu nennen, sondern zugleich die Vermittlung mesopotamischer Traditionen in diesen Bereich.
Aufgrund des Mediums Keilschrift sind die Träger der Schriftlichkeit der Religion über weite Strecken gelehrte Kreise – religiöse Funktionäre und Beamte, Priester und Schriftgelehrte –, deren schriftliche Hinterlassenschaft uns Einblick in die offizielle Religion gibt, die weitgehend auf das Wohl des Staates ausgerichtet ist.
Damit ist verbunden, daß manche Quellen Produkte der Schreiberausbildung sind, d.h. Übungstexte, wobei es nicht immer sicher zu entscheiden ist, ob deren Inhalte zur Zeit der Entstehung noch religiöse Relevanz besitzen oder als traditioneller Text, der dem Schreiber-Curriculum dient, zu werten sind. Ferner ist zu berücksichtigen, daß die Schreibkenntnis Ergebnis einer Ausbildung ist, die traditionsgeschichtlich unterschiedliches (religiöses) Wissen kumulativ vermittelt.
Ein Großteil der so überlieferten religiösen Texte läßt sich dabei nicht mehr auf einen individuellen Verfasser zurückführen, so daß wir nur gelegentlich deren Namen kennen. Erwähnenswert ist beispielsweise Sin-leqe-unnini, der der babylonischen Tradition als “Autor” der 11 (12) Tafeln umfassenden Version des Gilgamešepos gilt. Da seine Gilgamešdichtung aber z.T. deutlich auf altbabylonische Vorlagen zurückgreift, ist es präziser, ihn lediglich als Redaktor zu bezeichnen. Auch Kabti-ilani-Marduk, dem in einer einzigen Nacht die Dichtung “Išum und Erra” geoffenbart worden ist (TUAT III, 801), ist als individueller Autor eines religionsgeschichtlich wichtigen Textes zu nennen.
Die unterschiedlichen von der überregionalen Verwendung der Keilschrift geprägten Aspekte der schriftlichen Quellen der Religion der Babylonier und Assyrer sind bei der religionsgeschichtlichen Auswertung derselben im Auge zu behalten. Unter diesem Blickwinkel steht eine große Anzahl von relevanten Texten zur Verfügung, die nutzbar gemacht werden können; ein repräsentativer Querschnitt dieses Schrifttums liegt dabei in der von O. Kaiser seit 1982 herausgegebenen Serie “Texte aus der Umwelt des Alten Testaments” in wissenschaftlich fundierter, aber auch gut lesbarer deutscher Übersetzung vor. In erster Linie sind dabei religiöse Texte im engeren Sinn zu nennen, v.a. Götterhymnen, unterschiedliche Gebete, Gebetsbeschwörungen, Festbeschreibungen sowie Ritualanweisungen für verschiedene Kulthandlungen, beispielsweise Reinigungen oder Orakelanfragen. Als weitere Gruppe sind jene Texte zu nennen, die primär als Literatur zu werten sind, allerdings häufig religionsgeschichtlich wichtige Themen beinhalten: Mythen, Epen und die sogenannte Weisheitsliteratur. Ins Genre wissenschaftliche Literatur fallen die Götterlisten und Kompendien von Omina, dennoch ist auch ihr Wert für die vorliegende Darstellung nicht zu unterschätzen. Die genannten Textgruppen – einzelne Abschnitte in Königsinschriften könnte man noch hinzufügen – erlauben ein Bild der offiziellen Religion zu zeichnen. Schriftliche Quellen für die persönliche Frömmigkeit sind spärlicher: Aufschluß darüber gewinnt man aus der Analyse von Personennamen, aus Einzelhinweisen in Briefen, gelegentlich aus Beischriften zu Siegeln. Die Auswertung dieser Keilschriftquellen stellt die Grundlage der Beschreibung der Religionswelt Mesopotamiens dar, auch wenn man sich immer das Problem des richtigen Verstehens vor Augen halten muß. Die Frage, die B. Landsberger1 1926 aufgeworfen hat, hat ihre grundsätzliche Gültigkeit auch sieben Jahrzehnte später nicht verloren.
“Wie weit ist es mit Mitteln der Philologie möglich, eine alte, fremde Kultur, ohne die Stütze einer bis auf den heutigen Tag fortdauernden Tradition, lebendig und treu wiederherzustellen?”
Es ist daher unbedingt notwendig, – als Ergänzung, Korrelativ und zur Verdeutlichung der Texte – immer auch die archäologischen und kunstgeschichtlichen Quellen zu berücksichtigen. Mauerreste von Tempelbauten – in Verbindung mit dem Grabungsbefund, mit gefundenen Götterstatuen und Kultgegenständen – oder die archäologische Untersuchung von Gräbern und Grabbeigaben sind für die Erforschung der unterschiedlichen Kulte genauso entscheidend wie beispielsweise die ikonographische Analyse von Reliefs, Statuetten oder Siegelbildern. Daß dabei eine gewisse Subjektivität in der Deutung dieser Quellen nicht völlig vermieden werden kann, ist darin begründet, daß archäologische und schriftliche Quellen nicht immer in der erwünschten Weise in Übereinstimmung zu bringen sind.
Trotzdem wird man die Zusammenschau dieser Quellen versuchen, um Einblicke in die Religion der Babylonier und Assyrer zu gewinnen. Daß dabei nur in wenigen Ausnahmefällen die Namen persönlicher Tradenten feststellbar sind, die als religiöse Autorität ihre Auffassungen als Norm darbieten, ist ein Charakteristikum der Religionsgeschichte Mesopotamiens. Der Religionshistoriker wird daher in erster Linie nur Hauptrichtungen, die gemeinsames Glaubensgut sind, beschreiben, obwohl er auf Differenzierung in chronologischer, lokaler, oder religionspolitischer Hinsicht bedacht sein wird. Positionen von “theologischen Außenseitern” werden durch das vorhandene Quellenmaterial nur sporadisch faßbar. Denn die Keilschrift gibt in gewisser Hinsicht Mesopotamien eine Kulturkonstante, die auch auf dem Gebiet der Religion ihren – z.T. vereinheitlichenden – Niederschlag gefunden hat. Dennoch ist als – nicht immer zu realisierender – Idealfall anzustreben, daß der Mensch als Träger und Subjekt der Religion gesehen wird, d.h. darzustellen, wie Religion die Lebenswirklichkeit mitbestimmt.
Literatur: Johanning, K.: 1988. Der Bibel-Babel-Streit. Eine forschungsgeschichtliche Studie, Frankfurt a.M. / Bern; Kraus, F.R.: 1954. Wandel und Kontinuität der sumerischbabylonischen Kultur, Leiden; Oppenheim, A.L.: 1964. Ancient Mesopotamia. Portrait of a Dead Civilization, Chicago, 172–183; Römer, W.H.Ph.: 1969. The Religion of Ancient Mesopotamia, in: C.J. Bleeker / G. Widengren (eds.), Historia Religionum. Vol. 1: Religions of the Past, Leiden, 115–194, hier 115–120.
Der Vortrag, den George Smith am 3. Dezember 1872 vor der Society of Biblical Archaeology in London hielt, worin er erstmals eine mesopotamische Fluterzählung mit Einzelheiten der Erzählung in Gen 6–8 verglich, kann als Geburtsstunde für vergleichende Studien zwischen Altem Testament und mesopotamischer Keilschriftliteratur gelten. Dadurch hat die junge Wissenschaft der Keilschriftforschung zwar eine Legitimation erhalten, die allerdings Kehrseiten hatte.
Forschungsgeschichtlich zu nennen ist sicherlich der Vortrag des Assyriologen Friedrich Delitzsch, Sohn des Alttestamentlers Franz Delitzsch, den er am 13. Januar 1902 in Anwesenheit des Deutschen Kaisers Wilhelm II. vor der Deutschen Orient Gesellschaft in Berlin hielt. Delitzsch zeigte dabei nicht nur richtige Zusammenhänge zwischen Babylonien (“Babel”) und der Bibel auf, sondern vertrat mit Nachdruck den Standpunkt, daß die Bibel vollkommen von “Babel” abhängig sei. Der sich daran entzündende “Bibel-Babel-Streit” dauerte etwa zwei Jahrzehnte und ist heute nur noch von wissenschaftsgeschichtlichem Interesse, auch wenn er indirekt den Nährboden für eine zweite Zeitströmung, den Panbabylonismus, bereitet hat. Als Hauptvertreter dieser Richtung kann man Hugo Winckler, Peter Jensen und Alfred Jeremias nennen. Die Grundthese des Panbabylonismus besagt, daß die altorientalische Kultur, speziell das Sumerertum, Ursprung aller weiteren kulturellen Entwicklungen sei, wobei diese These zugleich mit einer Astralmythologie verknüpft worden ist. Auch diese Richtung ist seit Anfang der 30er Jahre unseres Jahrhunderts prinzipiell überwunden.
Unzweifelhaft wurde (und wird) dabei die babylonische Religion in – gelegentlich überzogene – Relation zum Alten Testament gestellt. Daß dies eine gewisse Berechtigung hat, ist durch die politischen Beziehungen Mesopotamiens mit den Königreichen von Israel und Juda, aber auch durch die wenigstens teilweise vergleichbare gesellschaftliche und wirtschaftliche Situation in beiden Bereichen begründet. Dennoch ist mit Nachdruck darauf hinzuweisen, daß Babylonien, Assyrien und Israel jeweils in ihrer Eigenheit – auch in religiöser Hinsicht – betrachtet werden müssen, eine Forderung, die schon 1926 B. Landsberger mit seiner Betonung der “Eigenbegrifflichkeit” der babylonischen Welt erhoben hat.
Der Eigenwert der Religion der Babylonier und Assyrer – auch in einer Darstellung von Religionen in der Umwelt des Alten Testaments – ist gerade deswegen hervorzuheben, da – mitbedingt durch die vorhin beschriebene Quellensituation – der Versuchung nicht immer widerstanden wird, zur Deutung Aussagen des AT – als einer Religion des Alten Orients, deren Traditionen bis heute lebendiges Glaubensgut geblieben sind – heranzuziehen. Um dieser Versuchung nicht zu unterliegen, darf man nur Aussagen zu religiösen Phänomenen aus genuin mesopotamischen Quellen zu gewinnen versuchen. Dies ist insofern erwähnenswert, als bei der Darstellung von syrischen Glaubensinhalten manchmal durchaus auch dem AT indirekter Quellenwert zukommt.
Der Eigenwert und die Eigenständigkeit der babylonischen und assyrischen Religion werden deutlich, sobald man sich einige zentrale Charakteristika dieser Religionswelt vor Augen hält: Primär ist der Polytheismus zu nennen, verbunden mit einer im Regelfall sehr großen Toleranz. Das babylonische Pantheon ist offen für neue Götter, die in eroberten Gebieten verehrt werden und ohne weiteres integriert werden können. Als Ausnahme mag vielleicht die Ablehnung der Verehrung Marduks in Assyrien gelten, was aber nicht religiös, sondern v.a. politisch bedingt war. Genauso kann der kosmische bzw. astrale Charakter der Religion erwähnt werden. Der Anthropomorphismus ist dabei eine den Göttern angemessene Erscheinungsform, auch wenn – auf metaphorischer Ebene – der Physiomorphismus nicht völlig unbekannt ist. Weiters kann als Charakteristikum genannt werden, daß besonders die Götterwelt soziologisch betrachtet wird, d.h. die Götter sind untereinander durch (komplizierte) Verwandtschaftsgrade bzw. durch Diener-Herren-Beziehungen verbunden, so daß die Götterwelt z.T. ein Abbild der irdischen Sozialstruktur wird. Der Anthropomorphismus und das Pandaimonion sind jene grundlegenden Komponenten der Religion, die den Kult in all seinen Formen – wie beispielsweise Opfer, Pflege der Götter, Beschwörung zum Schutz vor oder zur Befreiung von Dämonen – nachhaltig bestimmen. Gleichzeitig ist als Unterschied gegenüber der sumerischen Religion festzustellen, daß ab der altbabylonischen Zeit eine Ethisierung erkennbar wird.
Literatur: Dietrich, M.: 1992. Das Kultbild in Mesopotamien, in: M. Dietrich / O. Loretz: “Jahwe und seine Aschera”. Anthropomorphes Kultbild in Mesopotamien, Ugarit und Israel, Münster, 7–38; Krebernik, M.: 1986. Die Götterlisten aus Fāra, in: ZA 76, 161–204; Lambert, W.G.: 1990. Ancient Mesopotamian Gods: Superstition, Philosophy, Theology, in: RHR 207, 115–130; Seidl, U.: 1989. Die babylonischen Kudurru-Reliefs. Symbole mesopotamischer Gottheiten, Göttingen (= OBO 87); Soden, W. von: 1984. Reflektierte und konstruierte Mythen in Babylonien und Assyrien, in: StOr 55, 147–157.
Der altbabylonische Atramhasis-Mythos beginnt wie folgt: “Als die Götter (auch noch) Mensch waren.” Diese Übersetzung durch W. von Soden2 bezieht das “Menschsein” der Götter zwar v.a. auf die Tatsache, daß sie wie Menschen arbeiten müssen. Wesentlich daran ist jedoch, daß es für den babylonischen Menschen nicht unmöglich – vielleicht sogar naheliegend – war, über seine Götter im Mythos und im Kult anthropomorph zu denken. Aus mythologischen Texten erfahren wir daher viel über das Verhältnis der Götter zueinander und zu den Menschen bzw. über ihr Wesen, wobei genealogische Verflechtungen in Mythen Zeugnisse für die familiäre Organisation des Pantheons, das sich auch an politisch-soziologischen Gegebenheiten eines Stadtstaats orientiert, für Aufstieg und Machtzuwachs einzelner Götter, aber auch für die Verdrängung einzelner Götter aus ihrem angestammten Machtbereich sein können.
Beispielsweise illustriert der sumerische Mythos “Enlil und Ninlil” solche Beziehungen unter den Göttern: Nachdem Enlil die Göttin Ninlil verführt hat, wird er von der Götterversammlung aus Nippur in die Unterwelt verbannt. Die mit dem Mondgott Suen schwangere Ninlil folgt ihm, so daß Enlil mit ihr noch drei weitere Söhne zeugt, die mit der Unterwelt verbunden sind: Nergal, Ninazu und Enbilulu. Dabei geht es dem Mythos nicht nur um die Verwandtschaft dieser Götter zueinander, sondern er erklärt auch, wie der astrale, der atmosphärische und der Unterweltsbereich zusammenhängen. Andere Mythen erklären Umstrukturierungen im Pantheon: Der Konflikt zwischen der alten und der jungen Göttergeneration und die Lösung des Konflikts zugunsten Marduks im Enuma eliš ist eine (nachträgliche) Legitimierung historisch gewachsener Umstrukturierungen im babylonischen Pantheon, die zugleich für religionspolitische Propaganda für den Gott Marduk nutzbar gemacht wird. Eine andere Umstrukturierung zeigt der Mythos “Nergal und Ereškigal”, der erzählt, wie Nergal zum Herrscher in der Unterwelt und Gatte der Ereškigal wurde. Der Mythos ist ein Zeugnis dafür, wie ein neues durch Nergal präsentiertes theologisches System das ältere durch Ereškigal repräsentierte System ablöst.
Die genannten Beispiele sind – in der Terminologie W. von Sodens – reflektierte Mythen. Neben der archaischen mythologischen Tradition enthalten sie immer auch Anspielungen auf die Ansichten ihres literarischen Gestalters, wodurch sie auch soziologische oder historische Gegebenheiten der Zeit ihrer Literaturwerdung erkennen lassen. Diese Kategorie von Mythen wird ab dem Ende des 2.Jts. nicht mehr gravierend verändert. Anders verhält es sich mit der Neuschaffung “konstruierter Mythen” im 1.Jt., deren Handlung völlig neu erfunden ist und einer Aussage aufgrund der Gattung “Mythos” Autorität verleihen soll. Das bekannteste Beispiel dieser Art ist die Dichtung “Išum und Erra”, die zeigt, daß wegen der Schuld der Menschen und der mangelhaften Verehrung Marduks das Gericht der Götter über sie kommt und Babylon verwüstet wird. Mythologie will somit durch das Erzählen vom Schicksal oder von den Taten der Götter religiöse Erkenntnis vermitteln, wobei die Mythen jeweils ein gekürztes bzw. zweckgebundenes Gottesbild zeigen und nur einzelne Aspekte der Gottesvorstellungen widerspiegeln.
Ein wichtiger Aspekt, den die Mythen hinsichtlich der Gottesvorstellung hervorheben, ist der ausgeprägte Anthropomorphismus, wodurch erkennbar wird, daß ab sumerischer Zeit das Pantheon durchgehend anthropomorph konzipiert war. Man kann sagen, daß die sumerischen und babylonischen Menschen nach “ihrem eigenen Bild” die Götter machten. Die Götter leben in einer Form zusammen, die den irdischen Lebensformen entspricht, so daß jeder große Stadtgott von einer Art Hofstaat umgeben ist. Im inneren Kreis ist seine Kernfamilie mit den Verwandten, außen herum die Dienerschar mit Göttern als Verwaltern, Boten, Handwerkern, mit ähnlichen Funktionen und sozialen Abstufungen wie im Palast, wobei in einem so strukturierten “Pantheon” auch Konflikte3 nicht ausbleiben. Somit bewirkt der Anthropomorphismus eine vielschichtige Dynamik der mesopotamischen Religionsgeschichte, die beim Zusammentreffen verschiedener extern-ethnischer Komponenten, aber auch bei einer notwendigen Synthese von unterschiedlichen regionalen Vorstellungen virulent wird. In gleicher Weise belegen die schon vor der Mitte des 3.Jts. v.Chr. einsetzenden sumerischen Götterlisten den Anthropomorphismus.
Eine der ältesten Listen dieser Art, die große Götterliste aus Fara, muß in ihrer vollständigen Form etwa 560 Götternamen enthalten haben, wobei die in der Liste greifbare Tradition aus Uruk stammen oder zumindest die dort dominierende Stellung der genannten Götter belegen könnte. Zu Beginn der Liste sind die Hauptgötter genannt, anschließend sehr viele mit nin gebildete Namen, welche vielleicht auf die wichtige Rolle des weiblichen Elements unter diesen frühen Götternamen hinweisen.
Die Zahl der in den sumerischen Götterlisten genannten Götter wächst dabei bis in die neusumerische Zeit deutlich an. Für den altsemitischen Bereich in Nordmesopotamien ist hingegen zunächst mit der Verehrung von wesentlich weniger Göttern zu rechnen,4 doch kommt es ausgehend vom babylonischen Süden ab dem Beginn des 2.Jts. zu einem Wandel, da die zunehmende Vermischung von sumerischen und semitischen Bevölkerungsteilen in den religiösen Anschauungen ihre Spuren hinterläßt: Es nimmt nicht nur die Zahl der Götter auch im semitischen Bereich zu, sondern das Verhältnis der Götter zueinander muß ebenso neu geklärt werden, wie über die Idee des Göttlichen überhaupt reflektiert werden muß. Der Anthropomorphismus bleibt dabei aber auch bei diesem religiösen Wandel unangetastet.
Soweit der Religionshistoriker die Entstehung der Götterwelt Mesopotamiens zu erhellen vermag, wird klar, daß anthropomorphe und nichtanthropomorphe Darstellungen von Göttern seit dem Beginn des 3.Jts. nebeneinander existieren. Sumerische Siegelbilder stellen Götter seit dem 3.Jt. in menschlicher Gestalt dar, wobei die Unterscheidung zwischen Menschen und Göttern v.a. durch die Hörnerkrone oder durch ein Postament, auf dem nur eine Gottheit steht, gesichert ist. Statuen von Göttern sind bislang für das 3.Jt. archäologisch noch nicht nachgewiesen, obwohl sumerische Texte mit den Begriffen dùl bzw. alam Götterstatuen bezeichnen. Daneben steht aber im 3.Jt. auch die theriomorphe Darstellung von Göttern, wobei als Bezugspunkt für die theriomorphe Darstellung entweder vergleichbare (z.B. die Stärke des Stieres ähnelt der Kraft des Wettergottes) bzw. konträre Eigenschaften (z.B. das todbringende Gift der Schlange kann der Heilgott überwinden) zwischen Gott und Tier dienen. Auch dingliche Symbole (etwa Himmelserscheinungen wie Mondsichel oder Sterne, Pflanzen, Waffen) werden seit dem 3.Jt. zur Darstellung von Göttern verwendet, wobei diese Darstellungsweise auf den kudurru des 2.Jts. deutlich zunimmt. Allerdings lassen sich Göttersymbole nicht als Darstellungsform interpretieren, die das ursprüngliche Wesen des Gottes reflektiert, sondern es kommen dadurch lediglich einzelne Züge des Gottesbildes zum Ausdruck. Genauso mag die Wahl eines Symbols auch von praktischen Gegebenheiten mitbedingt sein, wenn eine symbolische Darstellung einfacher zu realisieren ist als eine menschlich-figürliche Abbildungsweise. Erst das 1.Jt. führt schließlich zu einer eindeutigen Dominanz der anthropomorphen Götterdarstellung. Dieses Nebeneinander verschiedener Darstellungsweisen erlaubt dabei den Schluß, daß seit Beginn der sumerischen Religionsgeschichte die anthropomorphe Rede von Göttern vorhanden ist, während einzelne göttliche Eigenschaften durch Theriomorphie oder Symbolik betont werden. Eine ausschließlich präanthropomorphe Gottesvorstellung hat es aber wohl nie gegeben.
Literatur: Bottéro, J.: 1977. Les noms de Marduk, l’écriture et la “logique” en Mésopotamie ancienne, in: M. de Jong Ellis (ed.): Essays on the Ancient Near East in Memory of Jacob Joel Finkelstein, Hamden, 5–28; Dijk, J.van: 1967. Einige Bemerkungen zu sumerischen religionsgeschichtlichen Problemen, in: OLZ 62, 229–244; Farber, G.: 1987–1990. me (gârza, parṣu), in: R1A 7, 610–613; Glassner, J.J.: 1992. Inanna et le me, in: M. de Jong Ellis (ed.): Nippur at the Centennial. Papers read at the 35e Rencontre Assyriologique Internationale, Philadelphia, 55–86; Komoroczy, G.: 1976. Das Pantheon im Kult, in den Götterlisten und in der Mythologie, in: Or. 45, 80–86; Lambert, W.G.: 1957–1971. Götterlisten, in: R1A 3, 473–479; Lambert, W.G.: 1975. The Historical Development of the Mesopotamian Pantheon. A Study in Sophisticated Polytheism, in: H. Goedicke (ed.): Unity and Diversity, Baltimore, 191–200; Livingstone, A.: 1986. Mystical and Mythological Explanatory Works of Assyrian and Babylonian Scholars, Oxford, 91–112; Soden, W. von: 1936. Leistung und Grenze sumerischer und babylonischer Wissenschaft, in: Die Welt als Geschichte 2, 411–464. 509–557; Soden, W. von: 1985. Monotheiotetistische Tendenzen und Traditionalismus im Kult in Babylonien im 1. Jahrtausend v. Chr., in: SMSR 51, 5–19.
Wesentlich für die sumerische Religion im Unterschied zur babylonischen und assyrischen Religion ist jenes Konzept, das im 3. Jt. mit dem Begriff me verbunden ist. Die me, die traditionell als “göttliche Kräfte” übersetzt werden, kennzeichnen die göttliche Idee, die allem Existenten innewohnt, so daß man me etymologisch wahrscheinlich mit dem Verbum me “sein” verbinden kann. Dabei handelt es sich nicht um ein Abstraktum, sondern “Sein” wirkt sich subjektiv auf den Betrachter aus und wird für ihn konkret faßbar. Die me treten immer pluralisch auf und können als grundlegende Komponente der Dinge gelten, die individualisierend und differenzierend wirken, aber nicht personalisierend. Ferner werden sie als konkrete Attribute oder Insignien verstanden, von denen alle Bereiche, soziale Zustände, Berufe, Ämter etc. durchdrungen werden. Die Konkretheit der me wird in Mythen mehrfach ausgedrückt.
In “Inanna und Enki”5 ist davon die Rede, wie der betrunkene Enki die me der Göttin Inanna schenkt, die die etwa 110 me schnell auf ein Schiff ladet, um damit in ihre Stadt Uruk zu kommen, ehe Enki sich besinnt und sein überstürztes Geschenk zurückverlangt. Die Konkretheit der me illustriert auch der Mythos “Inannas Gang in die Unterwelt”, wenn sich die Göttin vor ihrem Abstieg in die Unterwelt mit den sieben me als “Schutzmantel” bekleidet, die ihr allerdings an den Unterweltstoren sukzessive weggenommen werden.
Man stellte sich die “göttlichen Kräfte” als eine Größe vor, die verloren gehen, aber nicht zerstört werden konnte, wobei sie insgesamt bei Enki in der Tiefe des Apsu waren. Ferner sieht man, daß es mehrere me gibt, auch wenn die Liste mit etwa 110 Begriffen in “Inanna und Enki” eher als assoziative ad hoc Bildung anzusehen und nicht unbedingt in allen Details Ausdruck eines sumerischen Weltbildes ist.
Versteht man me als göttliches Attribut, das dem Besitzer Anteil an der göttlichen Machtsphäre gibt, so heißt dies aber nicht, daß die “göttlichen Kräfte” deshalb selbst ein Numen sind. Daher darf man sie weder mit einem Totem gleichsetzen, noch kann man den sumerischen (und späteren babylonischen) Götterglauben und Gottesbegriff davon herleiten.6 Wer sie jedoch besitzt, wird von ihnen besonders durchdrungen und bekommt zusätzliche Machtfülle, so daß die Macht einer sumerischen Gottheit daraus resultiert, wieviele me sie bei sich vereinigt. Einen “allmächtigen” Gott hat es in der sumerischen Religion nicht gegeben. Diese Vorstellung ist selbst in der späteren babylonischen oder assyrischen Religion nie vollkommen entwickelt worden, auch wenn Tendenzen zur Machtkumulation und zur Anhäufung der Göttlichkeit greifbar werden. Vielmehr sind sumerische Götter Funktionsträger, wobei die Wichtigkeit dieser Funktionen mit dem Besitz der me korreliert. Charakteristisch ist für sie ferner, daß sie in einer – letztlich statisch empfundenen – Weltordnung ihren festen Platz und ihre Dienste auszuüben haben. Verläßt ein Gott seinen “Kompetenzbereich”, so gerät die Weltordnung dadurch außer Kontrolle oder aus dem Gleichgewicht. Dabei läßt sich schon in der sumerischen Religion unschwer feststellen, daß es kaum einen Bereich des Kosmos gab, für den nicht eine Gottheit zuständig war, wodurch eine entsprechend große Zahl von Gottheiten existierte; die politisch-soziologische Gliederung des Gebietes in häufig voneinander unabhängige Stadtstaaten führte dabei dazu, daß einzelne Positionen “mehrfach” besetzt waren, d.h. es gab beispielsweise unterschiedliche lokale Wetter- oder Sonnengottheiten. Die beschränkte “Macht” der Götter war einer solchen Vorstellung so lange nicht hinderlich, als die Götter untereinander in Beziehung gesetzt werden konnten.
Was für Sumer unproblematisch war, führte mit dem Aufkommen Babyloniens zu einem Wandel in der Religionsgeschichte Mesopotamiens: Anders als in Sumer waren für die semitischen Babylonier und Assyrer die Götter “Machtwesen”. Die Machtkomponente klingt etymologisch im Wort ilu (“Gott”) an, denn ilu dürfte auf die Verbalwurzel ’wl “stark sein, Vorrang haben” zurückzuführen sein. Da Macht aber nicht unendlich teilbar ist, macht dies eine theologische Neuorientierung notwendig. “Gott” (ilu) im babylonischen und assyrischen Kontext hat daher eine andere Komponente als in Sumer, auch wenn Elemente aus der sumerischen Religionsgeschichte weitertradiert worden sind. Abgesehen davon, daß auch in einem polytheistischen System unmöglich alle Götter wirklich verehrt werden können, stellt sich für den babylonischen Menschen (und v.a. theologisch-reflektierenden Priester) im Umgang mit dem Göttlichen folgende Frage: Wie verhält sich z.B. der Sonnengott von Sippar zum Sonnengott von Larsa? Denn es gibt ja nur eine Sonne, die täglich am Horizont zu sehen ist. Diese Fragestellung zeigt eine Denkleistung, die es ermöglicht hat, das polytheistische Pantheon nicht nur zu verstehen und als glaubwürdig zu bewahren, sondern zugleich zu strukturieren und zu systematisieren, d.h. eine “Theo-logie” zu entwerfen. Dadurch entstehen Beziehungsstrukturen unterschiedlicher Art, die aufgrund ihrer Abstufungen der Vorstellung der göttlichen Macht nicht zuwiderlaufen. Dabei ist es interessant, daß diese Strukturierung es einerseits ermöglicht, die Zahl der Götter zu reduzieren, andererseits können dadurch zugleich neue Götter entstehen. Beide Aspekte des Werdens und Vergehens von Göttern sind dabei ansatzweise schon in sumerischer Zeit vorhanden, voll entfaltet werden sie in der babylonischen Religionsgeschichte.
Für den Religionshistoriker werden solche theologisch-spekulative Reflexionen über die Götterwelt durch die Götterlisten greifbar.
Die ältesten derartigen einsprachig-sumerischen Listen aus der Zeit um etwa 2600 stammen aus Fara und Abu Salabih, eine weitere erwähnenswerte Liste stammt aus der Ur III Zeit. Ab der altbabylonischen Zeit werden einsprachige sumerische Listen durch jüngeres Material nicht nur erweitert, sondern zugleich wird eine zweite akkadische Spalte hinzugefügt. Dabei zeigt die linke Spalte eine große Zahl von Götternamen, die oft ursprünglich recht wenig miteinander zu tun haben; genauso ist in der linken Spalte Platz, um Götter fremder Völker (z.B. Elamier, Kassiten) oder Namensvarianten anzuführen, während rechts ein akkadisches Pendant steht, das oft über viele Zeilen hinweg unverändert bleibt.
Diese Listen haben einen zweifachen Zweck: Sie dienen dazu, die zahlreichen Götter zu kodifizieren, wobei mitspielt, daß es dem konservativen religiösen Denken nicht möglich ist, einzelne Götter völlig zu streichen und so für nichtexistent zu erklären, auch wenn sie längst keine Rolle mehr für die Frömmigkeit spielen. Ferner machen sie den religiösen status quo sichtbar, indem hierarchische Umschichtungen im Pantheon ausgedrückt werden, so daß rangniedrige Götter nur noch in ferner Verwandtschaft zu einem “großen” Gott stehen. Der religionsgeschichtliche Wert der Listen ist recht hoch einzuschätzen. Als Höhepunkt der Erstellung von Götterlisten darf man die große Liste an = Anum7 betrachten, die zugleich hinsichtlich des Synkretismus am weitesten fortgeschritten ist.
Der Text ist durch zwei mittelassyrische Tafeln überliefert, ferner gibt es ein Fragment aus der Kassitenzeit sowie je einen Text aus neuassyrischer bzw. neubabylonischer Zeit. Aus diesem Überlieferungsbefund kann man schließen, daß der Text vielleicht im 12. Jh. in babylonischen Kreisen redigiert wurde, die mit Marduk sympathisierten. Grundsätzlich hat die Liste einen geordneten vierteiligen Aufbau für jeden Gott:
Da auch bei den Kindern gelegentlich wieder Eheverbindungen, weitere Kinder und Diener eingefügt werden, und auch die “Haupteintragungen” in der rechten Spalte durch Erklärungen weiter (theologisch) spezifiziert werden können, ist die Liste an manchen Stellen unübersichtlich. Dadurch tragen solche Listenbildungen auch zur Vermehrung der Zahl der Götter bei; denn eine Liste neigt auch dazu, unter dem Aspekt der Vollständigkeit göttliche Attribute und Eigenschaften, aber auch Kultgegenstände so zu verselbständigen, daß sie zu untergeordneten Göttern des “Hauptgottes” werden. Daß die theologische Spekulation noch weiter gehen kann, zeigen die fünfzig Namen, die Marduk am Ende des Enuma eliš (VI 121 – VII 144) erhält. Die Namen sind Reminiszensen an ursprünglich kleine Götter, die durch Marduks Aufstieg aus ihrer Selbständigkeit verdrängt worden sind. Durch die Einarbeitung des Materials in die epische Überlieferung ist die strikte Listenform dabei insofern aufgegeben worden, als die Namen ausführlicher kommentiert werden, als dies in einer Liste möglich ist.
Solche priesterliche Versuche hat W. von Soden als “Gleichsetzungstheologie” bezeichnet, durch die der theologische Denkansatz, göttliche Macht mit dem offiziellen Polytheismus zu verbinden, gut umschrieben ist, obwohl klar ist, daß dadurch das Problem letztlich nicht gelöst wird; denn auch das Enuma eliš nennt noch immer etwa 200 Götter. Für die Glaubensvorstellung der Babylonier (und analog – mit anderen Göttern – auch Assyrer) bedeutet dies aber doch, daß dadurch Göttlichkeit und göttliche Macht immer stärker auf Marduk übertragen werden, so daß man sagen darf, daß solche Übertragungen Ansätze einer monolatrischen Überzeugung spiegeln, die zugleich dem Rechnung tragen soll, daß das Göttliche sich in einem Gott manifestiert.
Diesem Gedanken trägt eine kleine Götterliste (CT 24,50) insofern Rechnung, als Marduk darin durchaus mit “großen” Göttern gleichgesetzt wird, und Dämonen oder Göttinnen in dieser Liste vollkommen fehlen. Marduk ist nach Ausweis der Liste derjenige, der als einziger göttliche Macht besitzt, wobei die anderen Götter nur irgendwelche Aspekte Marduks sind;8 beispielsweise wird Nergal als Marduk des Kampfes bezeichnet, Enlil als Marduk der Herrschaft, Nabu als Marduk des Rechnens, Sin als Marduk, der die Nacht erleuchtet, Šamaš als Marduk der Wahrheit oder Adad als Marduk des Regens. Noch weiter geht die Gleichsetzung der Götter in einem Ninurta-Hymnus aus dem 1.Jt., in dem die einzelnen Götter nur noch als Körperteile Ninurtas beschrieben werden;9 so sind etwa Enlil und Ninlil die Augen bzw. Ea und Damkina die Ohren Ninurtas. Man wird diesen Text kaum als allgemeines Glaubensgut, sondern eher als eine metaphorische ad hoc Aussage eines Beters betrachten müssen, der zugunsten seines Gottes Ninurta die anderen Götter völlig degradiert. Dieser Redeweise über die Götter sind auch Götterbeschreibungstexte aus dem 1.Jt. vergleichbar, die ein priesterlicher Ausdruck dafür sind, wie der beschriebene Gott alle Seinsbereiche erfüllen soll. Für die Vergleiche werden Metalle, Nahrungsmittel und gelegentlich Tiere verwendet; weitere Bilder der Beschreibung sind aus der Natur gewählt, wodurch zum Ausdruck kommt, daß der betreffende Gott nicht nur mit der Vegetation vergleichbar, sondern in der Natur anwesend ist und das Gedeihen der Vegetation gewährleistet. Teilweise werden diese Vergleiche und Identifikationen mit der Natur noch dadurch verstärkt, daß bei der kultischen Rezitation solcher Texte die darin genannten Vergleichsobjekte zugleich Verwendung fanden.
Die genannten Spekulationen gehen somit immer weiter: Bringen die Götterlisten zunächst lediglich vergleichbare Götter in ein System, so kann man einen nächsten Schritt dahingehend skizzieren, daß Gleichsetzungen den Zweck haben, einen möglichst großen Anteil an Göttlichkeit auf einen Gott zu häufen, um dadurch dessen Macht zu erhöhen. Den Höhepunkt erreicht diese Vorgangsweise in den genannten Texten des 1. Jts., die praktisch alle Göttlichkeit auf einen Gott oder eine Göttin konzentrieren. Da damit jedoch äußerst selten die Leugnung der Existenz anderer Götter verbunden gewesen ist, kann man kaum von monotheistischen Tendenzen in der babylonischen und assyrischen Religion sprechen.
Literatur: Böhl, F.M.Th. de Liagre: 1953. De Zonnegod als de Beschermer der Nooddruftigen, in: Opera Minora, Groningen, 188–206; Bruschweiler, F.: 1987. Inanna. La deesse triomphante et vaincue dans la cosmologie sumerienne, Leuven; Driel, G. van: 1969. The Cult of Aššur, Assen; Galter, H.D.: 1983. Der Gott Ea/Enki in der akkadischen Überlieferung, Graz; Groneberg, B.: 1986. Die sumerisch-akkadische Inanna/Ištar: Hermaphroditos?, in: WO 17, 25–46; Groneberg, B.: 1986. Eine Einführungsszene in der altbabylonischen Literatur: Bemerkungen zum persönlichen Gott, in: K. Hecker / W. Sommerfeld (Hg.): Keilschriftliche Literaturen, Berlin (= BBVO 6), 93–108; Harris, R.: 1991. Inanna-Ishtar as Paradox and Coincidence of Opposites, in: HR 30, 261–278; Heimpel, W.: 1982. A catalogue of Near Eastern Venus deities, Malibu; Jacobsen, Th.: 1973. Notes on Nintur, in: Or. 42, 274–298; Kramer, S.N. / Maier, J.: 1989. Myths of Enki, the Crafty God, Oxford; Lambert, W.G.: 1983. The God Assur, in: Iraq 45, 82–86; Lambert, W.G.: 1984. Studies in Marduk, in: BSOAS 47, 1–9; Nötscher, F.: 1927. Enlil in Sumer und Akkad, Hannover; Pomponio, F.: 1978. Nabû. Il culto e la figura di un dio del pantheon babilonese ed assiro, Roma (= SS 51); Roberts, J.J.M.: 1972. The Earliest Semitic Pantheon, Baltimore; Sjöberg, A.: 1960. Der Mondgott Nanna-Suen in der sumerischen Überlieferung, Stockholm; Sommerfeld, W.: 1982. Der Aufstieg Marduks, Neukirchen-Vluyn (= AOAT 213); Tallqvist, K.: 1938. Akkadische Götterepitheta, Helsinki (= StOr. 7); Weiher, E. von: 1971. Der babylonische Gott Nergal, Neukirchen-Vluyn (= AOAT 11); Wohlstein, H.: 1976. The Sky God An-Anu. Head of the Mesopotamian Pantheon in Sumerian-Akkadian Literature, Jericho / New York; Wolkstein, D. / Kramer S.N.: 1983. Inanna. Queen of Heaven and Earth, New York.
Die große Zahl von Götternamen, die uns die keilschriftlichen Texte überliefern, steht nicht in völliger Relation zu den tatsächlich regelmäßig und überregional verehrten Gottheiten, zumal auch die vorhin angesprochenen theologischen Spekulationen der Priesterschaft kaum jedermann nachvollziehbar waren. Die Zahl der Götter, die das Leben der Babylonier und Assyrer prägten, dürfte etwa 20 nicht weit überschritten haben, d.h. wir finden zwar auch in der Glaubenspraxis ein durchwegs polytheistisches Pantheon, aber die Zahl der relevanten Götter war auf eine überschaubare Größe reduziert. Dabei ist bemerkenswert, daß es ab der altbabylonischen Zeit ein “praktisches” Pantheon gibt, das bis in die neubabylonische Zeit – als z.T. durch den aramäischen Einfluß einige Schwerpunktverschiebungen greifbar werden – in den Grundzügen gültig geblieben ist. Innerhalb dieses Pantheons spielen manche altsemitische Götter (z.B. Kamiš, Dagan, Rašap), die am Ende des 3.Jts. in (Nord)-Mesopotamien durchaus noch verehrt worden sind, keine Rolle mehr. Andere semitische Götter haben durch ihre Identifizierung mit sumerischen Göttern ein neues Profil gewonnen.
Es handelt sich dabei um vier Götter, die schon in der sumerischen Religion greifbar sind: Anu, Enlil und Enki/Ea bilden jene Trias, zu der als viertes eine Göttin hinzutritt, die als Muttergottheit zu charakterisieren ist, wobei ihr Name variabel ist. Sie verlieren auch in der altbabylonischen Zeit grundsätzlich nicht ihre Bedeutung, da sie dem Bedürfnis entgegenkamen, die Sorge für die Erhaltung der Schöpfung mit der Fürsorge für den einzelnen zu verbinden. Sie nehmen an Schöpfungsakten teil, bestätigen die Machtverhältnisse und können auf andere Götter einwirken, wobei ihre Schöpfertätigkeit und ihr Bezug zu den Menschen – obgleich in negativer Weise – auch vom Klagenden in der sogenannten “Babylonischen Theodizee” bestätigt wird (TUAT III, 156f):
“Der König der Götter Narru (= Enlil), der die ’Umwölkten’ schuf,
der stolze Zulummaru (= Ea), der für sie den Lehm abkniff,
die Königin, die sie formte, die Herrin Mami,
sie haben geschenkt der Menschheit die mehrdeutige Rede;
mit Lügen und Unwahrheit beschenkten sie sie für immer.”
An der Spitze der Vierheit steht Anu, der zugleich der personifizierte Himmel (sum. an) ist. Theoretisch ist er der höchste Gott, doch tritt er im Laufe der Zeit als Hochgott immer stärker in den Hintergrund und wird ein deus otiosus. Erstmals an der Spitze des Pantheons finden wird ihn in der Zeit von Gudea von Lagaš, wobei diese Position in der altbabylonischen Zeit kodifiziert wird, so daß er wegen dieser Vorrangstellung als “Vater der Götter” angesprochen wird, wie wir etwa im Atramhasis-Mythos lesen (TUAT III, 618):
“Anu, ihr Vater, der König,
ihr Ratgeber, der Kämpfer Enlil, ...
Anu stieg hinauf (fort) in den [Him]mel;
es nimmt die Erde der palatuššu (= Enlil).
[Die Riegel,] die ’Fallgrube’ für das Meer,
[wurden] dem Fürst-Weisen Enki hingelegt.”
Allerdings ist Anu den Menschen gegenüber nicht nur positiv eingestellt, sondern er schickt auch Dämonen, oder zeugt nach dem konstruierten Mythos “Išum und Erra” (I 28–38) mit der Erde die Sibitti, deren schädigendes Geschick er festlegt. Genauso gibt er nach dem Gilgamešepos (VI 92–95. 117–119) seiner Tochter auf ihr Drängen den Himmelsstier, damit er Gilgameš vernichte. Eventuell ist diese ambivalente Einstellung zu Anu darin begründet, daß man ihn als höchsten Gott für den gesamten Kosmos, also für Gutes und Schlechtes, als verantwortlich betrachtet hat. Obwohl Anu mehr ein deus otiosuscbzw.10