MERKUR    

Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken

 

Herausgegeben von Christian Demand

 

Begründet 1947 von Hans Paeschke und Joachim Moras

 

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Herausgeber 1984–2011 Karl Heinz Bohrer

 

Herausgeber 1991–2011 Kurt Scheel

 

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Heft 10, Oktober 2014, 68. Jahrgang

Inhalt

HERFRIED MÜNKLER
Politische Urteilskraft

T. J. CLARK
Veroneses Allegorien der Liebe

ILJA BRAUN
Zweierlei Maß

BERND HÜPPAUF
Zur Wiederkehr der Kontroverse über den Ersten Weltkrieg

KRITIK

HARALD BODENSCHATZ
Urbanismuskolumne

RUDOLF STICHWEH
Soziologiekolumne

JULIA ENCKE
Dinge ohne Wiederkehr

JAN VON BREVERN
Ganz große Kunst

HOLGER SCHULZE
Das afrikanische Europa

MARGINALIEN

GERWIN ZOHLEN
Kulturforum, neu verortet

ANTON TANTNER
Nummerierung

GÜNTER HACK
Spatz und Klassenbewusstsein

STEPHAN HERCZEG
Journal (XIX)

NOTIZEN

VORSCHAU

HERFRIED MÜNKLER

Politische Urteilskraft

Zum Wandel von Entscheidungs- und Deutungseliten

In seinem Vortrag Politik als Beruf vom Winter 1918/19 hat Max Weber die berühmte, weil danach immer wieder apostrophierte Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik vorgetragen. Knapp zusammengefasst besagt sie, dass der Gesinnungsethiker Entscheidungen von seinen Motiven her trifft, während der Verantwortungsethiker sie von den absehbaren – oder auch nicht absehbaren – Folgen seines Tuns her entwickelt. Motive wie Folgen unterliegen gemäß Webers Begrifflichkeit einer ethischen Evaluation.

Das Dilemma dieser Evaluation besteht darin, dass man sich der Motive seines Handelns gewiss sein kann, während die Folgen des Handelns mehr oder weniger ungewiss sind und ungewiss bleiben müssen. Wenn Weber gleichwohl die Verantwortungsethik als genuin politische Ethik kennzeichnet, während er die Gesinnungsethik als Leitlinie von auf Gott – oder die Geschichte – vertrauenden Menschen bezeichnet, weil sie sich mit der Reinheit ihrer Motive begnügen und die Folgen ihres so motivierten Handelns Gott oder einer vernünftigen Geschichte anheimstellen, so hat er dabei eine politische Welt vor Augen, in der man sich auf das ordnende Eingreifen Gottes oder eine immanente Teleologie der Natur beziehungsweise der Geschichte nicht (mehr) verlassen kann. Man steht allein in einer Welt, die gleichgültig ist gegenüber menschlichem Tun und Wollen. Das ist die Ausgangslage, aus der heraus Weber die Frage nach dem spezifischen Beruf der Politik stellt. Daraus folgt, dass er das Erfordernis der politischen Urteilskraft dramatisiert: Da wir in einer uns gegenüber wenn nicht feindlichen, so doch gleichgültigen Welt auf uns allein gestellt sind, ist das einzige Hilfsmittel, das uns zur Selbstbehauptung in dieser Welt zur Verfügung steht, unsere Fähigkeit, Ausgangskonstellationen abzuschätzen und Handlungsfolgen zu beurteilen; das ist das weite Feld der politischen Urteilskraft.

Man muss sich diese Ausgangskonstellation vor Augen führen, um zu verstehen, warum Weber sich bei der Entwicklung seiner Fragen und Antworten auf Niccolò Machiavelli und nicht auf Immanuel Kant als intellektuellen Wegbegleiter stützt, obwohl doch Kant sich mit Fragen der Urteilskraft eingehend beschäftigte, während Machiavelli nur Ratschläge für erfolgreiches politisches Handeln gegeben hat. In seiner Kritik der Urteilskraft hat Kant das Schöne und den Organismus ins Zentrum seiner Überlegungen gestellt, um in diesem Kontext die ästhetische und die teleologische Urteilskraft zu untersuchen. Vor allem bei Letzterer ist Kant von einer immanenten Zweckhaftigkeit der Naturveranstaltungen ausgegangen, die er in den bald danach verfassten kleinen politischen und geschichtsphilosophischen Schriften vorsichtig von der Natur auf die Geschichte ausgedehnt hat, um aus deren Verlauf eine gewisse Sinnhaftigkeit des Geschehens herauszulesen.

Der Mensch ist bei Kant keineswegs auf sich allein gestellt, wie Weber dies annimmt, sondern er agiert als Schaffner, Wegbahner und Beschleuniger dessen, was die Natur zu seinem Besten will. Kants Formeln von der »ungeselligen Geselligkeit« der Menschen oder dem »Mechanism der Antagonismen« stehen für das Vertrauen in einen geschichtsimmanenten Fortschritt zum Besseren, der für den klugen Beobachter erkennbar ist und dementsprechend befördert werden kann. Es gibt für uns also Gründe, einigermaßen vertrauensvoll in die Zukunft zu schauen. Das ist die Position Kants.

Dagegen hat Max Weber seine Beschreibung von Politik und politischer Urteilskraft so angelegt, dass ein solches Vertrauen nicht gerechtfertigt ist. Wer Politik treibe, so erklärt er, lasse sich mit »dämonischen Mächten« ein, deren Wirken darin bestehe, Gutgemeintes ins Gegenteil und auch Gutes in Schlimmes zu verkehren. Das ist die Gegenposition zu dem, was Kant in den Formeln von der sich durch die Ungeselligkeit der Menschen vollziehenden Gesellschaftsbildung oder dem Zusammenwirken der Gegensätze zum allgemeinen Besten zum Ausdruck gebracht hat; der »Mechanism der Antagonismen«, so Kant, führe dazu, dass selbst ein »Volk von Teufeln« so agiere, als handele es sich bei ihnen um Engel. Die Dämonie der Macht hingegen, die bei Weber im Zentrum des Politischen steht, führt dazu, dass das Handeln selbst von Engeln teuflische Wirkungen haben kann. Das ist der Grund, warum für Weber die Direktiven der Gesinnungsethik für die Politik nicht taugen, warum man sich auf die eigenen Motive nicht verlassen kann, sondern sich auf ein Durchdenken politischer Entscheidungen von deren Folgen her einlassen muss – wobei man den genauen Weg zu diesen Folgen nicht kennt, sondern ihn unter erheblichen Risiken abschätzen muss. Man betritt, wenn man Politik betreibt, also ein Feld der Ungewissheit.

Hier ist zwischen Urteilsfähigkeit und Urteilskraft zu unterscheiden. Um Urteilskraft zu haben, bedarf es der Urteilsfähigkeit, aber sie allein genügt nicht, sondern es muss, damit aus der Fähigkeit eine Kraft wird, das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten der Orientierung im Ungewissen hinzukommen. Erst dann kann aus dem bloßen Beobachter ein Akteur werden, aus einem Kommentator des Geschehens dessen politischer Gestalter. Diese Kraft zum Urteil muss umso größer sein, je mehr wir realisieren, dass wir uns nicht nur auf einem Feld der Ungewissheit bewegen, wo uns weder ein Gott noch die Geschichte an die Hand nehmen und leiten, sondern dass zur Ungewissheit auch noch die Paradoxien hinzukommen, in deren Folge sich das von uns Angestrebte ins Gegenteil verkehren kann – kann, nicht muss, weswegen wir nicht wissen, ob wir es nun mit Paradoxien oder einsinnigen Konstellationen zu tun haben. Das eben meint Weber, wenn er vom Spiel mit Dämonen spricht, auf das wir uns einlassen, wenn wir Politik treiben.

Die von Weber angenommene Ausgangslage politischen Handelns steht uns inzwischen sehr viel näher als die Kants, nachdem es lange so ausgesehen hat, als ob es durch eine Vielzahl institutioneller Arrangements möglich würde, das Feld der radikalen Ungewissheit zu verlassen und in eine politische Ordnung einzutreten, in der sich die Urteilskraft auf das Bewegen von Stellschrauben beschränkt. Das kam unserer Neigung entgegen, Vertrauen in den Fortgang der Geschehnisse zum Guten zu haben. Wir halten die »Eiseskälte der Polarnacht«, wie Webers Metapher für die Verbindung von Ungewissheit und Paradoxie lautet, nicht anders aus, als dagegen mit Annahmen über immanente Teleologien anzugehen, die uns wenigstens von innen ein wenig wärmen. Was lebenspraktisch angängig ist, ist in der Politik jedoch, so Webers Warnung, gefährlich und kann verhängnisvoll enden. Das Glück der deutschen Nachkriegsgeschichte bestand darin, dass politische Urteilskraft in großem Stil überflüssig zu werden schien und dass man glaubte, auf eine Entwicklung vertrauen zu können, in der das Erfordernis riskanter Entscheidungen in normativen Selbstbindungen verschwinden würde.

Das Problem der Ungewissheit und die Suche nach historischen Analogien

Als Max Weber seinen Vortrag über Politik als Beruf hielt und darin die Anforderungen an die politische Urteilskraft radikal zuspitzte, befand er sich in einer besonderen Situation, die für den politischen Betrieb keineswegs alltäglich war. Draußen in München hatten Intellektuelle und idealistisch Gesinnte eine sozialistische Räterepublik errichtet, und ein Teil der studentischen Zuhörer Webers dürfte von diesem Projekt fasziniert, wenn nicht sogar an ihm beteiligt gewesen sein. Gleichzeitig blickte Weber zurück auf einen mehr als vierjährigen Krieg, in dem »Literatengeschwätz«, wie er das nannte, eine für die deutsche Politik verhängnisvolle Rolle gespielt und, so Weber, mit zur Niederlage der Deutschen beigetragen hatte.1

Seit 1915/16 hatte Weber mit den ihm eigenen Mitteln der Denkschrift und des politischen Kommentars gegen die Annexionisten und Anhänger eines uneingeschränkten U-Boot-Kriegs angekämpft und ihnen vorgeworfen, sie würden die Folgen der von ihnen geforderten Politik nicht überschauen, ja nicht einmal bedenken. Sie verhinderten durch ihr »Gerede« Verhandlungen über eine Beendigung des Krieges und zwängen Deutschland zur Fortführung eines Erschöpfungskrieges, den es am Ende nur verlieren könne. Außerdem riskierten sie den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten, der die deutsche Niederlage definitiv besiegeln werde. In Webers Augen waren diese Leute Gesinnungsethiker, die von der Aufrichtigkeit ihres eigenen Wollens her in die Politik eingriffen und glaubten, deren Fortgang werde sich nach ihren Hoffnungen und Erwartungen richten. Weber selbst hat stattdessen die sehr viel vorsichtigere und zurückhaltendere Politik des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg unterstützt. Mit Bethmanns Sturz im Frühsommer 1917 war auch Weber politisch gescheitert. In der Radikalität seiner Überlegungen in Politik als Beruf kommt die Erfahrung dieses Scheiterns zum Ausdruck.

Das Problem der politischen Urteilskraft wird von Weber in Politik als Beruf also nicht von einer alltäglichen, sondern von einer Ausnahmesituation des politischen Betriebs her gedacht; insofern lässt sich einwenden, es sei durch seine Dramatisierung verzerrt. Weber hat das selbst gesehen, weswegen er im Gang seiner Argumentation zwischen dem Politiker und dem Bürokraten unterschieden hat. Letzterer vermag das Ungewissheitsproblem zu entschärfen, indem er sich, nachdem er seine Einwände vorgebracht hat, an die Vorgaben des Betriebs und seiner Vorgesetzten hält und danach handelt. Gegen den Bürokraten stellt Weber den Politiker, dem diese Bewältigungsform des Ungewissen verwehrt und dessen politische Urteilskraft darum unbegrenzt herausgefordert ist. Für ihn, so Weber im Hinblick auf diesen »Ernstfall des Politischen«, gibt es keine Rückzugsmöglichkeit in die institutionellen Arrangements der politischen Ordnung. Die Rolle des Politikers wird von Weber aus einer Situation der dramatisierten Ungewissheit heraus definiert.

Aber damit nicht genug: In der Dämonenformel hat Weber das Problem der Ungewissheit noch um das der Paradoxie verschärft, von der wir wissen, dass sie unsere Absichten und den ersten Anschein radikal verkehren kann, ohne dass wir sagen können, wann und wo wir auf die Macht der Paradoxie stoßen. Kontingenz und Paradoxie spielen also zusammen. Wir wissen, dass es das Paradoxe gibt, aber wo es auftritt, wissen wir nicht. Dieses Auftreten wenigstens abzuschätzen, ist eine weitere Aufgabe der politischen Urteilskraft. Was das heißt, lässt sich zur Zeit an der Frage exemplifizieren, welche Politik in der Ukraine-Krise gegenüber Russland richtig und zielführend ist: eine Politik der flexiblen Zurückhaltung, die russische Ängste vor einer geostrategischen Einkreisung respektiert und jede Zuspitzung vermeidet, oder aber ein entschlossenes Auftreten, das von dem Imperativ des Ziehens roter Linien gekennzeichnet ist. Dies angemessen zu beurteilen, ist nicht zuletzt darum so schwer, weil man nicht weiß, wie die Gegenseite reagieren wird und wie sie bei ihrer Reaktion das Handeln der anderen Seite beurteilt, das heißt ob und unter welchen Umständen sie darin ein Zeichen von Schwäche oder eines von Stärke sieht, und was diese Zeichen für sie bedeuten. In der jüngsten Diskussion ist das in der Gegenüberstellung der Jahreszahlen 1914 und 1938 verhandelt worden; beide Jahreszahlen stehen für entgegengesetzte Konfliktverläufe mit zuletzt ähnlichen Folgen.

Die Herausforderung der politischen Urteilskraft ist damit sowohl eine der Kontingenz, also einer radikalen Entteleologisierung der Geschichte, in deren Folge alle Hinweise und Ratschläge Kants an Plausibilität verloren haben, als auch eine im Umgang mit strategischen Gegenspielern, die unsere Handlungen durchkreuzen wollen und zu diesem Zweck unsere Ziele und Absichten interpretieren und daran ihr eigenes Gegenhandeln ausrichten. In dieser Situation kann sich der politische Akteur auf keine Naturabsicht oder einen wie auch immer gearteten verborgenen Plan der Geschichte verlassen, sondern er befindet sich in einem chaotischen Geschehen, bei dem sich die Konstellationen fortgesetzt verändern. Also sucht er nach historischen Analogien, um die Ungewissheit zu begrenzen und die Risiken der politischen Urteilskraft zu vermindern. In der Regel läuft die Hilfestellung durch historische Analogien darauf hinaus, in das Feld der Ungewissheit zwei alternative Entscheidungsoptionen einzubringen und dadurch die Fülle der Möglichkeiten zu begrenzen. Die unüberschaubare Gefahr wird so in ein kalkulierbares Risiko verwandelt:2 Man muss die richtige Analogie wählen, um die Wahrscheinlichkeiten im Feld des Ungewissen zu erkennen. Aber es bleiben Ungewissheiten und das Risiko der falschen Entscheidung.

Alternative Strategien der Ungewissheitsreduktion: Szientifizierung und Administrierung

Angesichts solcher Herausforderungen ist eine kluge und vorausschauende Politik darauf bedacht, verlässlichere und weniger riskante Arrangements der Ungewissheitsreduktion einzurichten und Institutionalisierungen vorzunehmen, die Paradoxien ausschalten und Gewissheiten hinsichtlich der zu erwartenden Entwicklungen und zukünftigen Herausforderungen mehren. Es handelt sich dabei vornehmlich um die zu historischen Analogien und ihrer riskanten Beurteilung komplementäre Strategie der Szientifizierung und Administrierung politischer Herausforderungen: Man versucht, Zukunft zu planen und damit berechenbar zu machen, um so den Druck auf die politische Urteilskraft zu entdramatisieren.

Eines der erfolgreichsten Modelle dieser Form von Ungewissheitsreduktion war die Errichtung der sogenannten Westfälischen Ordnung, also des europäischen Staatensystems im Frieden von Münster und Osnabrück, mit dem der institutionelle Flächenstaat zum Monopolisten des Politischen aufstieg. Dadurch wurde das Innen und Außen der Staaten voneinander getrennt, und für beide Bereiche wurden eigene Regel- und Normensysteme entwickelt, die Erwartbarkeiten und Berechenbarkeiten begründeten. Der Prozess der funktionalen Differenzierung im Sinne von Niklas Luhmann ist – auch – ein Projekt der Ungewissheitsreduktion, bei dem durch die institutionelle Ordnung, durch geregelte Verfahren und die Verständigung auf gemeinsame Normhorizonte der Bereich des Erwartbaren, wenn nicht Gewissen gegenüber dem Ungewissen ausgeweitet wird. Gleichzeitig werden dadurch die Optionen potentieller Gegenspieler begrenzt, was die Wahrscheinlichkeit von Paradoxien vermindert. Die Westfälische Ordnung hat politische Urteilskraft in kleinerer Münze brauchbar gemacht. Man hatte nunmehr Leitplanken für die Beurteilung der Lage, und man hatte verantwortliche Entscheidungen nicht länger auf einem völlig offenen Feld zu treffen. Situationen dramatischer Ungewissheit sind dadurch nicht verschwunden, aber sie wurden seltener und blieben zumeist auf das Gebiet der internationalen Politik beschränkt.

Das Basisarrangement des institutionellen Territorialstaats, die Trennung von Innen und Außen, hatte zur Folge, dass im Innern der Staaten ein immer größerer Bereich entstand, in dem Motive und Folgen des Handelns zur Deckung gebracht und der Einfluss des Dämonischen begrenzt wurde, während sich die Außenpolitik als ein davon abgegrenzter, wenn nicht ausgegrenzter Bereich entwickelte, in dem weiterhin Ungewissheit herrschte und das Paradoxe dominierte. Aber auch das erwies sich auf Dauer als zu gefährlich, zumal nach den Katastrophen der beiden Weltkriege. Die Vorstellung von einem System kollektiver Sicherheit steht für das Projekt, dass auch in der äußeren Politik das Feld des Ungewissen und Paradoxen zunehmend eingegrenzt wird, sodass Szientifizierung und Administrierung auch hier greifen können. Die herausfordernden Ungewissheiten und großen Paradoxien wurden in der Westfälischen Ordnung zunächst auf das Außen der Staaten verlagert, um so im Innern Raum für einen Prozess der Juridifizierung und Bürokratisierung des Politischen zu schaffen. Riskante Politik wurde in eine »Verwaltung von Sachen« (Friedrich Engels) überführt, damit man nicht ständig auf riskante historische Analogiebildung zurückgreifen musste, und als diese auch in der internationalen Politik zu riskant wurde, sollte auch dieses Feld qua Juridifizierung und Bürokratisierung entschärft und entdramatisiert werden.

Die Planungseuphorie, die in Westeuropa während der 1960er und 1970er Jahre bezüglich der inneren Ausgestaltung des Staates vorherrschte, war Folge des Projekts einer weiteren »Versachlichung« von Politik. Man hoffte, Politik rational machen, Verluste durch destruktives Agieren verringern und den Einsatz knapper Ressourcen optimieren zu können. Diese Hoffnungen sind inzwischen zwar nicht verflogen, aber doch erheblich geringer geworden, und dabei spielt die Erosion des Westfälischen Systems im Gefolge der Globalisierung eine zentrale Rolle. Die Staaten sind nicht mehr die uneingeschränkten Monopolisten des Politischen, und das Basisarrangement der Trennung von Innen und Außen ist nur noch in Teilbereichen wirksam. Globalisierung hat ökonomisch viele Vorteile, aber sie ist mit politischen Kosten verbunden, nämlich einer wachsenden Ungewissheit und der neuerlichen Zunahme von Paradoxien. Man könnte auch sagen, Globalisierung habe eine politische Interferenzsteigerung zur Folge, aufgrund derer die Steuerbarkeit von Prozessen mit politischen Mitteln schwindet. Dennoch findet die aus den Hochzeiten der Planung und Kontrolle stammende politische Semantik weiterhin Verwendung, ja sie beherrscht nach wie vor die politische Sprache. Sie ist zur semantischen Krücke geworden, die über die Gewissheitsverluste im Gefolge der Globalisierung hinwegtäuscht. In dieser Semantik macht sich die politische Klasse selber Mut im Hinblick auf ihre Fähigkeit, den Herausforderungen der Zukunft mit einer »Urteilskraft in kleiner Münze« gewachsen zu sein und keine wirklich riskanten Entscheidungen treffen zu müssen.

Inzwischen kommt es jedoch wieder zunehmend zu Situationen, in denen ohne Vorwarnung »große Urteilskraft« eingefordert ist, also eine, bei der weder die kleinteilige Bearbeitungsstruktur der Verwaltung und ihrer Spezialisten noch die Anfrage bei der Wissenschaft weiterhelfen. Das Bemerkenswerte an diesen Situationen ist, dass sie nicht mehr auf das klassische Feld der Außenpolitik beschränkt sind. Die Euro-Krise ist ein Beispiel dafür. In ihr tauchte obendrein ein drittes Element auf, das neben Ungewissheit und Paradoxien für die Dramatisierung der Anforderungen an Urteilskraft typisch ist: der Zeitdruck. Die Praxis des Moratoriums oder Aussitzens greift nicht mehr, die Probleme werden übermächtig. Es muss schnell gehandelt werden, ohne dass man mit Sicherheit weiß, welche Folgen die Entscheidung hat. Das ist der Augenblick, in dem nicht mehr von good governance, sondern von politischen Entscheidungen im emphatischen Sinn die Rede ist. Wenn diese die gewünschten Effekte haben, wird in solchen Situationen politisches Charisma akkumuliert, und es werden »politische Helden« geboren. Sie treffen einen Entschluss im Ungewissen, zumindest im Ungefähren, einen, der nicht hinsichtlich seiner Eventualitäten geprüft werden konnte, zu dem auch nicht die beteiligten Fachressorts Stellung genommen haben, bei denen man auch keine Gutachten aus der Wissenschaft einholen konnte, wo also weder Administration noch Szientifizierung die Risiken vermindert haben, sondern mit der Entscheidung auch die politische Urteilskraft dem vollen Risiko der Fehleinschätzung und des Misslingens ausgesetzt ist.

Politische Akteure, die solche Situationen durchstehen, gewinnen Legitimitätsglauben, das heißt Folgebereitschaft und Vertrauen seitens der Bevölkerung. Das ist gleichsam die Prämie dafür, sich der Ungewissheit auszusetzen, den Paradoxien entgegenzutreten und dem Zeitdruck standzuhalten. Insofern ist der Gebrauch der »großen Urteilskraft« tatsächlich die Stunde des Politischen, das im alltäglichen Betrieb durch die Dominanz von Szientifizierung, Administration und Normgeltung beziehungsweise Moralisierung kleingearbeitet worden ist. Nach Jahrzehnten, in denen das Politische zunehmend in Politikfelder (policies) oder eine juridisch geordnete Administration überführt worden ist, beobachten wir seit geraumer Zeit die gegenläufige Entwicklung in Form einer Wiederkehr des Politischen. Es hat den Anschein, dass der Höhepunkt einer Entdramatisierung der politischen Urteilskraft durch wissenschaftliche Beratung und Einrichtung von administrativem Betrieb überschritten ist und dass es ein wachsendes Erfordernis risikobereiter politischer Urteilskraft gibt, selbstverständlich in der Außenpolitik, aber auch in vielen anderen Politikfeldern. Das Problem ist, dass es dazu eines anderen Typs von Politikern bedarf als der jetzt vorherrschenden.

Die Urteilskraft bei Deutungs- und Entscheidungseliten

Politische Urteilskraft wird freilich nicht nur den Entscheidern in »heroischen« Augenblicken abverlangt, sondern auch den Deutern, die die keineswegs immer einsinnigen und eindeutigen Ergebnisse der Wissenschaft zusammenführen und daraus politische Handlungsnarrative oder Optionsalternativen entwickeln.3 Bei allen Unterschieden, die zwischen den verschiedenen Gruppen von Deutern bestehen: Als Eliten konstituieren sie sich in Situationen, in denen ihre Urteilsfähigkeit gefragt ist und sie die Kraft besitzen, von dieser Gebrauch zu machen. Urteilskraft ist also nicht nur eine Komponente von Problembewältigung, sondern auch eine Ressource bei der Strukturierung der Gesellschaft. Dabei liegt ein präskriptiver und kein deskriptiver Elitebegriff zugrunde. Eliten sind nicht nur da, weil sie sich einen relativ großen Einfluss zumessen und mehr Macht sowie Vermögen haben als der Rest der Gesellschaft – was zweifellos auch der Fall, aber hier nicht weiter von Interesse ist –, vielmehr werden Eliten auch benötigt, und in ihrem Benötigtwerden sind sie – im Vergleich mit dem Rest der Gesellschaft – einem erhöhten Risiko des Versagens oder Scheiterns ausgesetzt.4 Das unterscheidet Eliten von Prominenz, eine Unterscheidung, die im öffentlichen Sprachgebrauch häufig übersehen wird. Prominenz kann sich blamieren; Eliten scheitern. Die Blamage von Prominenten dient der Gesellschaft zum Amüsement; das Scheitern von Eliten führt zum Scheitern von Gesellschaften.

Der öffentliche, folgenreiche und mit Risiken behaftete Gebrauch von Urteilskraft ist also ein Quellgrund für die Entstehung von Eliten. Eliten sind diejenigen, die sich der Ungewissheit, den Paradoxien und dem Zeitdruck stellen und dies aushalten. Sie stellen sich erhöhten Anforderungen im Gebrauch von Urteilskraft. Dabei sind Deutungseliten damit befasst, ein Wissen zu entfalten, das das Ungewissheitsproblem reduziert und damit Paradoxien durchschaubar sowie Zeitdruck aushaltbar macht. Entscheidungseliten profitieren davon; sie sind auf Deutungseliten angewiesen, konkurrieren mit ihnen aber immer auch um Rang und Stellung. Religiöse Deutungseliten generieren dieses Wissen durch sakral-rituelle Praktiken (Priester) oder durch gesteigerte Askese (Propheten), die ihnen Zugang zum Herrn des Ungewissen eröffnen. Sie verschaffen sich auf diese Weise ein Wissensmonopol, das die Grundlage ihres Anspruchs auf überlegene Urteilskraft bildet. Deutungseliten, die in postreligiösen Zeiten auf Wissenschaft setzen, arbeiten mit einem reduzierten Gewissheitsanspruch, der entweder auf der Kenntnis der Vergangenheit oder auf probabilistischen Kalkulationen beruht.

In Deutschland haben lange die Historiker an der Speerspitze der Ungewissheitsreduzierer gestanden, bis sie im Verlauf des 20. Jahrhunderts von den Sozialwissenschaftlern, insbesondere den Ökonomen, den »Wirtschaftsweisen«, abgelöst worden sind. Diese bringen eher Zukunftserfassungsmodelle als Vergangenheitsanalogien als Basis der Urteilskraft ins Spiel. Daneben gibt es noch eine Moralelite, die keine spezifisch szientifische Ungewissheitsreduktionskompetenz besitzt, sondern im Modus von Moralisierung und Skandalisierung ihren Anspruch auf Urteilskraft ins Spiel bringt. Diese unterschiedlichen Deutungseliten kämpfen um Einfluss auf die Entscheidungselite. Sollte die hier zugrunde gelegte Beobachtung zutreffen und es zu einem Wiederaufstieg der historischen Analogien als Grundlage von Entscheidungen kommen, ist auch mit einem Revirement der Deutungseliten zu rechnen. Die wachsende Ungewissheit im Gefolge des Schwindens staatlicher Ordnungsleistung wird nicht nur zu neuen Typen politischer Entscheider, sondern auch zu veränderten Profilen der gesellschaftlichen Deuter führen.

Anmerkungen

1  

Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920. Tübingen: Mohr Siebeck 1974.

2  

Die These, wonach die Moderne in soziopolitischer Hinsicht durch eine Transformation von Gefahren in Risiken gekennzeichnet sei, ist entwickelt bei Herfried Münkler, Strategien der Sicherung. Welten der Sicherheit und Kulturen des Risikos. In: Ders. / Matthias Bohlender / Sabine Meurer (Hrsg.), Sicherheit und Risiko. Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert. Bielefeld: transcript 2010.

3  

Zur Unterscheidung von Entscheidungs- und Deutungseliten vgl. Herfried Münkler, Der Wettbewerb der Sinnproduzenten. Vom Kampf um die politisch-kulturelle Hegemonie. In: Merkur, Nr. 681, Januar 2006.

4  

Vgl. Herfried Münkler, Vom gesellschaftlichen Nutzen und Schaden der Eliten. In: Ders. / Grit Straßenberger / Matthias Bohlender (Hrsg.), Deutschlands Eliten im Wandel. Frankfurt: Campus 2006.