Zsolnay E-Book

 

Henning Mankell

 

Erinnerung an

einen schmutzigen Engel

 

Roman

 

Aus dem Schwedischen von Verena Reichel

 

Paul Zsolnay Verlag

 

 

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel Minnet av en smutsig ängel beim Leopard Förlag, Stockholm.

 

 

ISBN 978-3-552-05589-6

© Henning Mankell 2011

Published by agreement with Leopard Förlag, Stockholm, and Leonhardt & Høier Literary Agency A/S, Copenhagen.

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe:

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2012

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

 

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

Inhalt

 

PROLOG

Africa Hotel, Beira, 2002   7

 

TEIL I

Die Missionare verlassen das Schiff   13

 

TEIL II

Die Lagune des guten Todes   75

 

Teil III

Der Bandwurm im Maul des Schimpansen   145

 

TEIL IV

Das Verhalten des Schmetterlings

angesichts einer Übermacht   227

 

EPILOG

Africa Hotel, Beira, 1906   337

 

Nachwort   347

Glossar   349

 

»Es gibt drei Arten von Menschen:

jene, die tot sind, jene, die leben, und jene,

die über die Meere segeln …«

PLATON

 

PROLOG

 

Africa Hotel, Beira,

2002

 

 

 

An einem Tag im kalten Juli 2002 hackte ein Mann namens José Paulo ein Loch in einen verrotteten Fußboden. Er suchte keinen Fluchtweg und auch kein Versteck. Er wollte einfach das morsche Parkett als Brennholz verwenden, da die afrikanische Kälte schlimmer war als seit vielen Jahren.

José Paulo war alleinstehend, hatte aber die Verantwortung für seine Schwester und ihre fünf Kinder übernommen, nachdem sein Schwager Emilio eines Morgens verschwunden war und nur ein Paar abgetretene Schuhe und unbezahlte Rechnungen hinterlassen hatte. Den größten Teil der Schulden hatte Emilio bei Donna Samima gemacht. Diese Dame betrieb in der Nähe des Fischereihafens eine illegale Kneipe, in der sie tontonto und selbstgebrautes Bier mit erstaunlich hohem Alkoholgehalt servierte.

Emilio hatte sich dem Trinken und dem Schwadronieren über ferne Zeiten gewidmet, als er in den südafrikanischen Goldminen Goldgräber war. Aber viele Leute behaupteten, er habe seinen Fuß noch nie nach Südafrika gesetzt, und einer geregelten Arbeit sei er erst recht nie im Leben nachgegangen.

Sein Verschwinden hatte man zwar nicht erwartet, aber es kam auch nicht völlig überraschend. Er war einfach in den stillen Stunden kurz vor Beginn der Morgendämmerung davongeschlichen, als alle schliefen.

Niemand wusste, wo er geblieben war. Es vermisste ihn wohl auch niemand besonders, nicht einmal seine eigene Familie. Ob Donna Samima ihn vermisste, konnte man nicht sagen, aber sie bestand darauf, dass die Rechnungen bezahlt würden.

Emilio, der Schwätzer und Trinker, hinterließ kaum eine Spur. Dass er jetzt weg war, machte eigentlich keinen Unterschied.

José Paulo wohnte mit der Familie seiner Schwester im Africa Hotel in Beira. Früher einmal, in einer Zeit, die jetzt fern und unbegreiflich erschien, galt es als eins der ersten Hotels im kolonialen Afrika. Man verglich es mit dem Hotel Victoria Falls an der Grenze zwischen Südrhodesien und Nordrhodesien, ehe diese Länder sich befreiten und die Namen Zimbabwe und Zambia annahmen.

Ins Africa Hotel kamen Weiße von weither, um zu heiraten, Jubiläen zu feiern oder um einfach nur zu zeigen, dass sie einer Aristokratie angehörten, die nicht an den Untergang ihres kolonialen Paradieses glaubte. Im Hotel wurden an den Sonntagnachmittagen Tanztees veranstaltet, Swing- und Tangowettbewerbe, und viele Gäste ließen sich vor dem großen Entree fotografieren.

Doch der koloniale Traum vom Paradies war ausgeträumt. Eines Tages flohen die Portugiesen aus ihren letzten Festungen. Das Africa Hotel begann zu verfallen, sobald die früheren Besitzer gegangen waren. Die verlassenen Zimmer und Suiten wurden von armen Afrikanern bevölkert, die ihre Habseligkeiten in ausgehöhlten Flügeln und Klavieren, in schwärzlichen Boudoirs und Badewannen unterbrachten. Die schönen Parkettböden wurden zu Brennholz für die kältesten Wintertage.

Schließlich wohnten mehrere tausend Menschen in dem, was einmal das Africa Hotel gewesen war.

An einem Tag im Juli hackte also José Paulo ein Loch und brach das Parkett auf. Im Zimmer war es eiskalt. Die einzige Wärmequelle bestand aus einer Eisenschale, in der die Bewohner über offenem Feuer ihr Essen zubereiteten. Ein Kaminrohr, das durch ein zerschlagenes und notdürftig abgedichtetes Fenster hinausragte, leitete den Rauch ab.

Das halb vermoderte Parkett hatte schon begonnen, von seiner düsteren Vergänglichkeit zu stinken. José glaubte, darunter würde eine tote Ratte liegen und ihren Verwesungsgeruch verbreiten. Aber das Einzige, was er fand, war ein Notizbuch, ein kleines, in Kalbsleder gebundenes Heft.

Er buchstabierte sich mühsam durch einen eigentümlichen Namen auf dem schwarzen Einband.

Hanna Lundmark.

Unter dem Namen stand eine Jahreszahl: 1905.

Aber was in dem Buch geschrieben stand, konnte er nicht deuten. Er kannte die Sprache nicht, und er wandte sich an den alten Afanastasio von Zimmer 212, der als weiser Mann galt: In seiner Jugend hatte er auf einer verlassenen Straße außerhalb von Chimoio eine Begegnung mit zwei hungrigen Löwen überlebt.

Aber nicht einmal Afanastasio konnte die Schrift deuten. Er fragte die alte Lucinda um Rat, die in der ehemaligen Rezeption hauste, aber auch sie wusste nicht, welche Sprache es war.

Afanastasio riet José Paulo, das Buch wegzuwerfen. »Es hat so lange unter dem Fußboden gelegen«, sagte er. »Jemand hat es in einer Zeit dort versteckt, als solche wie wir uns in diesem Gebäude nur als Kellner, Putzleute oder Kofferträger aufhalten konnten. Bestimmt enthält es eine unangenehme Geschichte. Verbrenn es, nimm es an einem richtig kalten Abend zum Heizen.«

José Paulo ging mit dem Buch wieder auf sein Zimmer. Aber er verbrannte es nicht, ohne eigentlich zu wissen, warum. Stattdessen fand er ein neues Versteck. Unter dem Fensterbrett gab es einen Hohlraum, in dem er sein mühsam verdientes Geld aufbewahrte. Jetzt ließ er die wenigen schmutzigen Geldscheine mit dem schwarzen Notizbuch den Platz teilen.

Er holte es nicht wieder hervor. Aber er vergaß es auch nicht.

 

TEIL I

 

Die Missionare verlassen

das Schiff