Deuticke eBook

 

Monika Helfer

 

Bevor ich

schlafen kann

 

Roman

 

Deuticke

 

Für Michael,

Oliver,

Undine,

Lorenz und

Paula

 

eBook ISBN 978-3-552-06162-0

Alle Rechte vorbehalten

© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2010

Das Gedicht von Robert Frost (Originaltitel: Stopping by woods on a snowy evening) wird zitiert nach dem Film »Telefon« von Don Siegel, USA 1977.

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

 

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

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Des Waldes Dunkel

zieht mich an,

doch muss zu meinem Wort

ich stehn

und Meilen gehn, bevor

ich schlafen kann

und Meilen gehn,

bevor ich schlafen kann.

 

Robert Frost

ERSTER TEIL

Erstes Kapitel

 

1

 

Das Glück, meine Liebe, wird die Frau zur Deckenlampe hinauf sagen, wenn es überhaupt kommt, kommt nur einmal, höchstens zweimal, und wenn es tatsächlich zweimal kommt, dann vergeht vom einen zum anderen Mal eine ziemlich lange Zeit. Beim Unglück sieht es anders aus. Es kommt immer zweimal oder dreimal oder viermal sogar, und immer kommt es kurz hintereinander.

Und nun stell dir eine Frau vor, wird sie weiter zur Deckenlampe sagen, und diese Frau geht zur Routineuntersuchung, Mammographie, was bei ihren winzigen Brüsten gar nicht so einfach ist, und man stellt Brustkrebs fest. Befallen sind beide Seiten. Ich könnte zwei Schmucknarben versuchen, sagt der Arzt. Bitte, was sind Schmucknarben, fragt die Frau. Oh, zum Beispiel, sagt der Arzt, könnte ich die Haut auf jeder Seite zu je einem Stern zusammenziehen. Zu einem Stern? Ja, zu einem Stern, sagt der Arzt, es gibt fünfzackige Sterne, davon rate ich aus verschiedenen Gründen ab, es gibt sechszackige, auch davon rate ich ab, es könnte missverstanden werden, überall spielt die Politik hinein, ich habe einen sehr schönen siebenzackigen Stern entwickelt, sieben ist eine interessante Zahl. Nein, keine Sterne, ruft die Frau aus, nur ja keine Sterne, Sterne wären ja Glück, und hier wird vom Unglück gesprochen. Muss ja nicht sein, sagt der Arzt, dann eben nicht Sterne. Sondern? Ach, sagt die Frau, wenn Sie Sterne können, können Sie sicher auch Kreuze, das ist bestimmt sogar um einiges weniger Arbeit. Irrtum, sagt der Arzt, das ist mehr Arbeit, da kann ich nicht so viel vertuschen, das wird immer wie Kreuze mit Strahlen aussehen. Wollen Sie wirklich Kreuze? Ja, Kreuze, sagt die Frau, richtig schöne Kreuze.

 

Sie hieß Josefine Bartok und wurde Josi genannt. Was sie immer geliebt hatte. Was sie gefördert hatte: »Alle sagen Josi zu mir, sag doch du auch Josi! Nur bitte nicht Tschosi.« Sie hatte Überblick über die Menschen, die sie so nannten. Viele waren es nicht, es waren schon mehr gewesen.

Sie lebte in Wien und war Psychiaterin im Otto-Wagner-Spital auf der Baumgartnerhöhe, wo die Raben von Wien ihre Schlafplätze haben und in der Dämmerung zu Hunderten einfliegen. Bis zu ihrer Krankheit hatte sie dort gearbeitet. Danach hatte sie um Frühpension angesucht. Das Verfahren lief noch.

Ihr Mann hieß Tomas, seine Eltern war 1956 aus Ungarn geflohen, er unterhielt ein Fitnesscenter und war im Begriff, eine Kletterwand zu errichten, wie es vergleichbare nur in Amerika gab. Ihre Kinder waren Anfang und Mitte zwanzig, der Sohn hieß Bruno, die Tochter Karla. Karla arbeitete am Theater, Bruno wollte Maler werden.

Was noch?

»Weil der erste Hieb«, wird Josi zur Deckenlampe in ihrer neuen Wohnung in der Piaristengasse im 8. Wiener Gemeindebezirk sagen, »ja, weil der erste Hieb so überaus gut gelungen war, schlug das Unglück gleich noch einmal zu, ließ mir gerade eine kleine Verschnaufpause …«

 

2

 

Im vorangegangenen Jahr war Tomas oft spät in der Nacht nach Hause gekommen, manchmal erst in den Morgenstunden. Das Fitnesscenter, das er betrieb, ging gut, er wollte ausbauen. Die Sensation sollte eben diese Kletterwand werden, »vergleichbare sind nur in Amerika zu finden«. Es war geplant, die Fassade einer alten Fabrik in Ottakring zu mieten und daran einen Klettergarten aus Zement hochzuziehen, mit Klüften, Kaminen und überhängenden Felsen, das Ganze gespickt mit Griffen in allen Farben, die von innen beleuchtet werden sollten. Er treffe sich mit möglichen Partnern, für ihn allein sei die Sache zu groß. Diese Leute seien anspruchsvoll, niemand fahre von wer weiß woher nach Wien und wolle dann Wien nicht sehen, vor allem Wien bei Nacht.

Was Josi nicht im Geringsten interessierte.

Bei Redensarten wie »Wien bei Nacht« oder, was er auch schon gesagt hatte, »die halbe Stadt ist auf den Beinen«, fuhr ihr ein Giftstoß ins Hirn, und sie dachte, er lügt. Er will mich beschwichtigen. Der Wortschatz der Harmlosigkeit besteht aus leeren Hülsen. Dahinter ließ sich viel verbergen. Sie musste achtgeben, dass sie nicht die Augen verrollte, wenn er zu erzählen begann. Kaum ein Satz, der nicht aus Phrasen, Stereotypen, Floskeln, Klischees bestand. Sonst redete er nicht so. Das irritierte sie. Natürlich lief das nicht bewusst bei ihm ab, Tomas war nicht raffiniert. Aber vielleicht war ja sein Unterbewusstsein raffiniert. Wenn die Kollegen im OWS geahnt hätten, was für Vorstellungen von der Seele Frau Dr. Josefine Bartok hatte, nämlich dass es dort unten zugehe wie in Zeichentrickfilmen mit kleinen bunten quiekenden Fantasietieren oder, wie im Fall von Tomas’ Unterbewusstsein, kleinen durchtrainierten grinsenden Neunjährigen, die Kollegen hätten – was hätten sie? Wahrscheinlich wären sie begeistert gewesen und hätten ihre eigenen Vorstellungen ausgebreitet, die nicht weniger kindisch, nicht weniger riskant, nicht weniger verrückt gewesen wären. Psychiater glauben ebenso wenig an die Seele wie Theologen an Gott.

Und dann war Tomas zwei Tage und zwei Nächte gar nicht mehr nach Hause gekommen. Hatte nicht angerufen. Hatte sein Handy abgedreht. Es tat ihr weh, sie konnte ihn verstehen, und das tat noch mehr weh. Sie war darauf vorbereitet gewesen.

Eine der Krankenschwestern, Irene, die in ihrer Abteilung beschäftigt war und mit der sie manchmal nach ihrem Dienst ein Bier getrunken hatte (was ihr nicht schmeckte, was sie aber auf den Boden brachte und gleichgültig werden ließ gegenüber der durch und durch bewussten Verrücktheit in der Psychiatrie), hatte irgendwann ausführlich die Geschichte ihrer gescheiterten Ehe erzählt und dabei so viel Vertrauen über Josi ausgeschüttet, dass sie ihrerseits zu erzählen begann, hauptsächlich, um die Frau nicht zu beschämen, denn ganz sicher hätte sie sich geschämt, wenn nur ihr Innerstes nach außen gekehrt worden wäre. Damals hatte Josi noch nichts Dramatisches zu bieten gehabt, ihre Ehe mit Tomas war normal, sie hätte jedenfalls normal dazu gesagt – abgesehen davon, dass er nur zwei Abende pro Woche zu Hause verbrachte und am Morgen nach seinen zwanzig Minuten Pilates und zehn Minuten Frühstück mit angewinkelten Armen hinunter zum Parkplatz lief und in seine merkwürdige Welt davonbrauste. Irene aber runzelte die Stirn. Da bahne sich etwas an, sagte sie. Nichts Gutes. Gar nichts Gutes. »Was denn?«, hatte Josi gefragt. »Was habe ich dir denn erzählt, das so einen Schluss zulässt?« »Ich höre heraus, dass er ein furchtbar armer Mann ist«, hatte Irene geantwortet. »Wenn du nicht aufpasst, ist das der Anfang vom Untergang.« Josi war erschüttert gewesen, sie hatte keinen Tau, worauf Irene anspielte. Augenblicklich konnte sie diese Frau nicht mehr leiden. »Du bist ihm in allem überlegen, das ist sein Problem«, fuhr Irene fort. »Er hat Sport und Geographie studiert, du Medizin und Psychologie. Du hast den Doktor mit Auszeichnung gemacht, er hat sein Studium abgebrochen. Du verdienst ein Vielfaches von ihm und hilfst den Menschen in ihrer größten Not. Er probiert hier etwas und dort etwas, treibt sich mit blöden Bodybuildern herum, riecht den ganzen Tag ihren Achselschweiß und muss sich ihre Körper anschauen, die von Anabolika aufgebläht sind, und wird am Ende von niemandem anerkannt. Dich schätzen alle.« Und dann hatte sie noch gesagt: »Mach dich gefasst, dass er eine Freundin hat. Aber mach dir keine Sorgen, sie wird ein dummes Ding sein, die ihn für einen Traummann hält.« »Ich halte ihn auch für einen Traummann«, hatte Josi gesagt und war sich bewusst gewesen, dass dies in Irenes Ohren wie Spott klingen musste. »Außerdem habe ich den Doktor nicht mit Auszeichnung gemacht, sondern mit im Gegenteil, und Tomas verdient nicht weniger als ich.«

Jetzt ist es also so weit, hatte Josi gedacht, als Tomas in der ersten Nacht nicht nach Hause gekommen war. Wenn ich jetzt nicht aufpasse, beginnt hier womöglich der Untergang. Und wenn die Neue gar nicht blöd ist? Sondern schöner als ich und jünger, umgänglicher als ich, an Sport interessierter als ich, lustig, aber nicht ironisch, und besser im Bett als ich? Ich bin nicht gut im Bett, dachte sie. Aber ich will gar nicht gut im Bett sein. Was soll das überhaupt heißen? Dass man sich bewegt wie in der Turnstunde? Dass in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Stellungen und möglichst viele andere Methoden der körperlichen Befriedigung jenseits des landläufigen GV absolviert werden? Oder dass man Sachen sagt, die man in angezogenem Zustand nicht sagen würde? Tomas war auch nicht besonders gut im Bett. Unauffällig. Gemütlich und gütig. Ihre Tage in der Klinik waren anstrengend. Nicht ein Tag, an dem sie sich nicht überfordert vorgekommen wäre, als eine Verbrecherin, die Hilfe verspricht und Gift gibt. Eine Dealerin. Sie zweifelte an der Existenz der Seele, aber nicht an den Schmerzen, die sie einem Menschen zufügen konnte. Manchmal sagte Tomas: »Was du machst, ist anstrengender als die Tour de France. Komm leg dich auf den Bauch, ich massier dich ein bisschen und wir schlafen gleichzeitig ein bisschen miteinander.« Mehr hatte sie nie erwartet. Und er? Er mochte es, wenn sie ihn mit der Hand befriedigte. Hätte sie deswegen misstrauisch sein sollen?

Dass Tomas etwas passiert sein könnte, daran hatte sie nicht gedacht. Sie war im Bett gelegen und hatte gewartet, war eingeschlafen, nach einer Stunde aufgewacht, hatte auf die Uhr gesehen und hatte gewartet. Hatte ein Xanor geschluckt, um nicht in Panik zu geraten, um ihre Atemfrequenz herunterzufahren, weil ihr beim schnellen Luftholen die Narben weh taten. Sie kühlte innerlich aus. Irene hatte einen Eindruck von Tomas gewonnen, und dieser Eindruck war grundfalsch. Aber sie, Josi, hatte ihr diesen Eindruck vermittelt. Wie war es dazu gekommen? Dass sie Tomas unbewusst niedermachen wollte? Das einzige Indiz für die Existenz der Seele, dachte sie, bestand darin, dass alle daran glaubten. Sie beobachtete ihren Mann, das hatte sie immer getan, und sie hatte es gern getan. Tomas war ein Musterbeispiel von schillernder Oberfläche. Was sollte daran nicht gut sein? Musste denn unbedingt etwas darunter liegen? Er war stark, durchtrainiert, erstaunlich biegsam, sie hatte sich an seinem Körper nie satt sehen können. Unter Minderwertigkeitskomplexen, wie Schwester Irene vermutete, litt dieser Mann mit Sicherheit nicht. Dass er kein Grübler war, hieß nicht, dass er nichts im Kopf hatte. Josi bewunderte ihn. Er war zu schnellen Entschlüssen fähig. Das war sie nicht. Er konnte verschlungene Zusammenhänge mit einem Blick erfassen. Das konnte sie nicht. Sie waren im Theatercafé an der Linken Wienzeile gesessen, an den Nebentisch setzte sich ein Paar, und nach einer Minute bereits sagte Tomas, er schätze, die beiden hätten sich übers Internet verabredet, dies sei ihr erstes Treffen und es werde nichts daraus werden. Der Mann war bald gegangen, die Frau hatte geweint, Josi hatte ihr ein Taschentuch gereicht (mit der gleichen Geste, mit der sie ihren Patienten die Kleenex Schachtel reichte), die Frau hatte erzählt, und alles war genau so gewesen, wie es Tomas mit einem Blick erfasst hatte. Ein kluger, gedankenschneller, empathischer Mann. Unsentimental. Träume nur solche, die sich innerhalb eines Jahres verwirklichen ließen.

 

Tomas war der Feige gewesen.

Nachdem sie zwei Tage und zwei Nächte nichts von ihm gehört hatte, sperrte er abends die Tür auf, Josi stand gerade im Flur, im Begriff, das Haus zu verlassen, weil sie es nicht mehr unter dem Dach aushielt.

Tomas zog Edgar am Oberarm ins Haus und sagte: »Er ist mein Freund, er wird mit dir reden.«

Und war weg.

Edgar war weiß im Gesicht und sehr verlegen und holte zweimal, dreimal, viermal tief Luft. Hör auf, dachte sie, sonst hyperventilierst du und fällst um, bevor du mit mir reden kannst. Er setzte sich auf die Stiege, Josi stand beim Heizkörper, die Arme verschränkt.

»Ich bin sein Freund«, sagte er. »Damit ist eigentlich alles gesagt.«

Und Josi fügte aus diesen beiden Sätzen eine Geschichte. Jeder hätte das getan. Nie entstehen schneller Storys als in solchen Situationen. Man sollte ausgebrannte Drehbuchautoren gezielt solchen Situationen aussetzen. Er betrügt mich mit der Frau seines Freundes. Betrügt also doppelt. Betrügt genau genommen dreifach, denn er hat mir auch den Freund verheimlicht. Nicht, dass Tomas in der Vergangenheit Bekannte nach Hause eingeladen hätte, aber erzählt hatte er doch von ihnen. Von einem Freund hatte er nie erzählt. Er hatte nie den Eindruck erweckt, dass ihm Freundschaft etwas bedeute. Der da aber war sein Freund. Warum hatte er nie von ihm erzählt? Und dann hat er einmal einen Freund, dachte Josi, was ja etwas Wertvolles im Leben ist, und gleich zerstört er diese Beziehung wieder, indem er ihm die Frau ausspannt. Und warum bringt er ihn her? Will er ihn mit mir verkuppeln? Partnertausch übers Kreuz? Alle haben es am Ende gut? Und keiner hat ein schlechtes Gewissen?

Andere Gedanken waren ihr nicht gekommen.

»Wissen Sie denn, was ich damit meine?«, fragte Edgar, und er sah ihr direkt in die Augen.

»Ich habe so eine Idee«, sagte Josi.

»Eine Idee?«

»Ja«, sagte Josi und wusste, dass sie natürlich keine Idee hatte, dass die Geschichten, die sich in der Sekunde in ihrem Kopf zusammengefügt hatten, allesamt Unsinn waren.

»Was für eine Idee haben Sie?«, fragte Edgar.

»Sie fragen mich, und ich soll’s rauskriegen?«

»Nein, natürlich nicht. Entschuldigen Sie. Ich heiße Edgar.«

Er streckte ihr seine Hand entgegen. Sie streifte mit den Fingern an.

»Ich heiße Josefine. Aber alle sagen Josi zu mir.«

»Das klingt schön. Mit y, ie oder nur mit i?«

»Nur mit i.«

»Und immer schon Josi, nie Tschosi?«

»Immer Josi.«

»Auch als Mädchen nicht? Mädchen geben sich gern englische Namen.«

»Immer Josi.«

Weiß er das nicht? Warum weiß er das nicht? Hat ihm denn Tomas gar nichts von mir erzählt? Wäre wenig weitsichtig, wenn er beabsichtigte, das Puzzle neu zu ordnen. Und wenn sich tatsächlich am Ende ein harmonisches Bild ergäbe – ich mit dem da, Tomas mit dessen Frau, der schönen, jungen, umgänglichen, an Sport interessierten, lustigen, die im Bett besser ist als ich? Viermal sonnenbraune Haut, viermal blumenbuntes Gewand, die Vision eines gemeinsamen Urlaubs fuhr in ihr hoch wie eine bunt besprühte Mauer, der fröhlichste Teil im Berlin des Kalten Krieges. Wie werde ich in einer Stunde, in einem Tag, in zehn Tagen, in einem Jahr an diesen Augenblick denken?

Edgar sagte: »Ich würde gern Du sagen.«

»Meinetwegen«, antwortete sie.

»Josi«, sagte er, aber sie sagte nicht: Edgar.

Und endlich sprach er es aus. Langsam, weil es behutsam klingen sollte. Überdeutlich, damit weder nachgefragt noch definiert werden musste: »Tomas und ich. Tomas und ich. Wir haben eine homosexuelle Beziehung. Sie dauert seit einem Jahr.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Josi. Und glaubte es wirklich nicht, und sah sich bestätigt durch die Festigkeit ihrer Stimme. Meine Stimme glaubt es nicht, also glaube ich es auch nicht.

»Es ist so«, sagte Edgar. Sein Blick hielt stand.

Er glaubt, was er glaubt, ich glaube, was ich glaube. Sie weinte, und weil sonst niemand da war außer Edgar und er aufstand und sie in die Arme nahm, weinte sie an seiner Schulter.

Irgendwann schlich Tomas zur Tür herein. Sagte, man solle es nicht übertreiben. Da trat sie zurück, drei Schritte, vier, bis die beiden vor den Tränenschleiern ihrer Augen zu einer Masse wurden. Rechteckig, mit unruhigen Linien.

Irgendwann schrie Tomas: »Wir sind Menschen und keine Gegenstände, du brauchst mit uns nicht so zu reden!«

Und er schrie weiter: »Das Leben ist komplizierter, als man es haben will! Leider, meine Liebe! Leider! Leider! Leider, meine Liebe!«

Da lief sie bereits über die Markward Stiege hinunter. Lief zur U 4, fuhr bis zur Pilgramgasse. Sie hatte den beiden eine Predigt gehalten, das wusste sie, aber sie erinnerte sich an kein einziges Wort.

 

3

 

Sie war aus ihrem gemeinsamen Haus in Hütteldorf geflüchtet. Ohne zu wissen wohin. Zwanzig Jahre war dort am Hang zum Lainzer Tiergarten ihr Zuhause gewesen. Erst gemietet, dann besessen. »Mit der Nase am Unerschwinglichen.« So hatten sie dazu gesagt, durchaus glücklich in ihrer gemeinsamen finanziellen Verantwortungslosigkeit. Wie eine Schlafwandlerin war sie über die Markward Stiege hinunter zur U4 gelaufen, war ohne Ticket in die U-Bahn gestiegen und bis zur Station Pilgramgasse gefahren. Sie hatte nur ihre Handtasche bei sich gehabt und die rotschwarze Filzjacke, in der sie wie ein Krampus aussah. Sie hob beim Bankomat vierhundert Euro ab. Drehte sich ratlos im Kreis. Die Fünfzigeuronoten wie ein Spielkartenblatt in der Hand. Als zahle sie öffentlich Gewinne aus. Steckte das Geld in die Tasche, atmete tief in die hohlen Hände, weil Gefahr bestand, dass sie gleich zu hyperventilieren beginnen würde. Die Narben an ihrer Brust spannten. Ihr wurde übel und für einen Moment schwarz vor den Augen.

Das Hotel Ananas lag gegenüber der U-Bahn-Station. Es gehöre der Gewerkschaft, hatte ein Kollege in der Psychiatrie einmal behauptet. Es heiße so, weil die Arbeiterführer die Streikkasse in der Karibik verjubelt hatten.

Sie nahm ein Zimmer auf unbestimmte Zeit.

Auf dem Kopfpolster lag eine Praline. Sie zupfte das Goldpapier weg, die Schokolade mit der Mandel in der Mitte hatte einen Graustich. Sie warf sie in die Toilette. Sah zu, wie sie unterging.

Sie legte sich aufs Bett, blieb eine Stunde oder zwei auf dem Rücken liegen.

Ich werde Tomas anrufen und ihm sagen, wo ich bin, dachte sie, sonst verständigt er die Polizei, weil er sich keine Schuld aufladen will, falls ich mich aufhänge, zum Beispiel mit der lindgrünen Vorhangschnur.

Sie brachte es nicht über sich, den Hörer abzunehmen. Sie wischte sich mit einem nassen Handtuch das Gesicht und die Arme ab und ging nach unten. Inzwischen stand eine Frau bei der Rezeption.

»Würden Sie eine Nummer für mich wählen?«

»Funktioniert der Apparat in Ihrem Zimmer nicht?«

Es war Josi nicht möglich, ein weiteres Wort zu sagen. Die Frau sah sie mitleidig an und schenkte ihr ein Wertkartenhandy. Ein Tourist aus China habe es liegen lassen.

 

Sie war in der Ananas verschollen, lehnte tagelang am Kissen, die Federdecke auf Brust, Bauch, Beinen, neben sich über die andere Hälfte des Doppelbettes die Anzeigenseiten des Kurier, des Standard, der Presse gebreitet. Telefonierte. Oder sie saß unten in der Halle am Computer. Studierte die Internetseiten des Bazar und diverser Makler. Schrieb Tomas ein Mail. Darin erklärte sie ihm, dass jedes Unglück eine Chance in sich berge, dass die Vorstellung, ein neues Leben zu beginnen, nicht weil man will, sondern weil man muss, aufregender sei, als wenn man nur will, und dass sie sich jung fühle. Diesem Unsinn ließ sie nur noch unpersönliche Abwicklungsmails folgen. Sie konnte an nichts anderes denken als an Liebe, Liebe, es war ekelhaft.

Sie verließ das Hotel selten. Wenn, dann spazierte sie zum Naschmarkt, frühstückte in einem türkischen Café Fladenbrot, Gurken, Tomaten und Milchkaffee. Kaufte Obst ein. Walnüsse fürs Hirn. Dörrpflaumen für die Verdauung. Oliven. Grüne Wasabinüsse. Schwarze Schokolade. Red Bull. Und Ananas, um wenigstens einen Witz in ihr Leben zu bringen.

An die Tapete des Hotelzimmers heftete sie mit Stecknadeln Bilder, die sie aus Zeitschriften ausschnitt, kunterbunt, was ihr gefiel: Vulkanausbrüche in der Südsee, junge Affen in den Armen ihrer Mütter, ein Mongolenkind, eine Zeichnung von Picasso, Schneesturm über North Dakota. Manchmal lud sie sich selbst zu einem Festessen ein: feinsten Käse vom Pöhl am Naschmarkt, Fiocco Salami, Serranoschinken, in Öl eingelegte Zucchini, Melanzani und Artischocken, getrocknete Tomaten und Kirschkapern, dazu Olivenbrot und eine Flasche Barolo. Sie streifte den Überzug vom zweiten Kopfkissen, breitete ihn über das Tischchen. Aß von einem Teller, den sie vom Frühstücksbuffet mitgenommen hatte, trank aus dem Zahnputzbecher und prostete der Deckenlampe zu.

Noch ein zweites persönliches Mail schrieb sie an Tomas, in der Nacht vor dem Scheidungstermin: »Ich habe mir ein Messer gekauft. Ich komm euch besuchen. Ich kastriere dich. Sollst auch etwas weggeschnitten bekommen. Ich bin dazu fähig, du kennst mich.«

 

Tomas holte sie vom Hotel ab. Er klopfte an die Zimmertür. Sie saß auf dem Bett, angezogen, überschminkt, noch in Strümpfen.

»Tomas«, sagte sie, »zieh mir die Stiefel an und schnür sie mir zu.«

Er ging vor ihr auf die Knie und nahm ihren linken Fuß in den Griff, wortlos.

Vielleicht hat er mein Mail gar nicht gelesen, dachte sie. Vielleicht hatte es Edgar gelesen und augenblicklich gelöscht. Wahrscheinlich hatte es Tomas doch gelesen und sich gedacht, eine solche Meldung steht ihr zu.

»Du solltest dich noch einmal im Spiegel kontrollieren«, sagte er, spuckte seinen Zahnreinigungskaugummi in den Plastiksack des hoteleigenen Papierkorbs. »Du siehst etwas grell aus. Bei diesem schlechten Licht kannst du dich auf nichts verlassen.«

»Wen sollte das stören?«, sagte sie.