UMBERTO ECO

JEAN-CLAUDE CARRIÈRE

 

Die große Zukunft

des Buches

 

Gespräche mit

Jean-Philippe de Tonnac

 

Aus dem Französischen

von Barbara Kleiner

 

Carl Hanser Verlag

 

Die französische Originalausgabe

N’espérez pas vous débarrasser des livres

erschien 2009 bei Grasset in Paris

 

Diese Übersetzung wurde mit einem Arbeitsstipendium

des Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

 

eBook ISBN 978-3-446-23616-5

© 2009 Editions Grasset & Fasquelle

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München 2010

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

 

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

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und viele andere Informationen finden Sie unter:

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Inhaltsverzeichnis

 

Vorwort

5

 

Ouvertüre:

Das Buch wird nicht sterben

13

 

Nichts Vergänglicheres

als dauerhafte Datenträger

19

 

Die Hühner haben

ein Jahrhundert gebraucht, um zu lernen,

dass sie nicht über die Straße laufen dürfen

40

 

Die Namen sämtlicher Teilnehmer

der Schlacht von Waterloo auflisten

60

 

Die Rache der Ausgefilterten

73

 

Jedes heute veröffentlichte Buch

ist eine Post-Inkunabel

99

 

Bücher, die unbedingt

zu uns gelangen wollen

131

 

Unser Wissen über die Vergangenheit

verdanken wir Idioten, Dummköpfen oder Gegnern

152

 

Nichts wird der Eitelkeit Einhalt gebieten

164

 

Lob der Dummheit

178

 

Das Internet oder die Unmöglichkeit

der damnatio memoriae

197

 

Zensur durch Feuer

208

 

All die Bücher, die wir nicht gelesen haben

227

 

Buch auf dem Altar und Bücher in der »Hölle«

244

 

Was wird aus meiner Bibliothek

nach meinem Tod?

274

Vorwort

»Dieses wird jenes töten. Das Buch wird das Gebäude töten.« Dieses berühmte Diktum legte Victor Hugo dem Archidiakon von Notre-Dame de Paris, Claude Frollo, in den Mund. Gewiss wird die Architektur nicht sterben, aber in einer sich verändernden Kultur wird sie ihre kulturelle Leitfunktion verlieren. »Das zum Buch hindrängende Denken benötigt nur ein wenig Papier, Tinte und eine Feder. Wer dies erwägt und vergleicht, wird sich kaum darüber wundern, dass das Denken von der Architektur zur Druckerei hinübergewechselt hat.« Sie sind nicht verschwunden, unsere »Bibeln aus Stein«, aber die Gesamtheit der von Hand geschriebenen und dann der gedruckten Texte, dieser »Ameisenhaufen aller tätigen Geister, in den die phantasiebeflügelten Gedanken, diese goldschimmernden Tierchen, ihren Honig tragen«, hat am Ende des Mittelalters ihre Bedeutung mit einem Schlag empfindlich geschmälert. Auch wenn sich das elektronische Buch in ähnlicher Weise auf Kosten des gedruckten Buches durchsetzen sollte, besteht doch wenig Aussicht, dass es ihm gelingen könnte, das gebundene Buch aus unseren Häusern und unseren Gewohnheiten zu verdrängen. Das E-Book wird das Buch nicht töten. Ebenso wenig wie Gutenberg und seine geniale Erfindung von heute auf morgen den Gebrauch von Kodizes unterbunden hat oder den Handel mit Papyrusrollen und volumina. Die jeweiligen Praktiken und Gewohnheiten bestehen nebeneinander weiter, und nichts lieben wir mehr, als das Spektrum unserer Möglichkeiten zu erweitern. Hat der Film die Gemälde getötet? Das Fernsehen den Film? Willkommen seien daher Rechner und periphere Lesegeräte, die uns über einen einzigen Bildschirm Zugang zur mittlerweile digitalisierten Universalbibliothek gewähren.

Die Frage ist vielmehr, welche Veränderungen die Lektüre am Bildschirm für den Prozess bedeutet, den wir bisher nur als Umblättern von Buchseiten kannten. Was gewinnen wir durch diese neuen weißen Geräte und vor allem, was verlieren wir? Überholte Gewohnheiten vielleicht. Eine gewisse sakrale Aura, die das Buch umgab innerhalb einer Kultur, die es auf den Altar erhob. Eine besondere Intimität zwischen Autor und Leser, die durch den Begriff der Hypertextualität zwangsläufig außer Kurs gesetzt wird. Die Idee der »Geschlossenheit«, die das Buch verkörperte und davon ausgehend gewisse Praktiken der Lektüre. »Indem sie die überkommene Bindung zwischen den Diskursen und ihrer Materialität zerbricht«, erläuterte Roger Chartier in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France, »zwingt die digitale Revolution zu einer radikalen Neubestimmung der Tätigkeiten und Begriffe, die wir mit dem Geschriebenen verbinden.« Tiefgreifende Umwälzungen wahrscheinlich, von denen wir uns aber erholen werden.

In dem Gespräch zwischen Jean-Claude Carrière und Umberto Eco ging es also nicht darum zu beurteilen, welche Veränderungen und Konflikte die Verbreitung (oder Nicht-Verbreitung) des E-Book im großen Maßstab mit sich bringen würde. Ihre Erfahrungen als Bücherliebhaber und Sammler von alten und seltenen Büchern, als Jäger von Inkunabeln, brachten sie hier eher dahin, das Buch ähnlich wie das Rad als etwas unübertrefflich Vollkommenes zu betrachten. Sobald also die Zivilisation das Rad erfindet, kann sie sich nur bis zum Überdruss wiederholen. Ob man die Anfänge des Buches auf die ersten Kodizes (etwa im 2. Jahrhundert n. Chr.) datiert oder auf die wesentlich älteren Papyri, man hat doch stets ein Werkzeug vor sich, das sich trotz aller Wandlungen, die es durchgemacht hat, selbst erstaunlich treu geblieben ist. Das Buch erscheint hier als eine Art »Rad des Wissens und des Imaginären«, das die absehbaren oder befürchteten technologischen Veränderungen nicht zum Stillstand bringen werden. Hat man diese beruhigende Feststellung getroffen, kann die eigentliche Debatte beginnen.

Dem Buch steht eine technologische Revolution bevor. Aber was ist ein Buch? Was sind die Bücher, die in unseren Regalen, in denen der Bibliotheken der ganzen Welt stehen und in sich das Wissen und die Träume bergen, die die Menschheit angehäuft hat, seitdem sie imstande ist zu schreiben? Welches Bild haben wir von dieser Odyssee, die der Geist durch sie zurückgelegt hat? Welche Spiegel halten sie uns vor? Und wenn wir nur die herausragenden Werke dieser Produktion betrachten, solche, die der allgemeine Konsens zu Meisterwerken erklärt hat, so fragt sich: Werden wir ihrer eigentlichen Funktion gerecht, die doch einfach darin besteht, das ständig vom Vergessen Bedrohte irgendwo sicher zu verwahren? Oder müssen wir ein weniger schmeichelhaftes Bild von uns selbst akzeptieren, wenn wir an die extreme Dürftigkeit denken, die für diese Fülle an Geschriebenem eben auch charakteristisch ist? Ist das Buch notwendigerweise ein Symbol unserer Fortschritte über uns selbst hinaus, heraus aus der Finsternis, die wir für immer hinter uns gelassen zu haben glauben? Wovon genau erzählen uns die Bücher?

Zu dieser Sorge um die Art des Beitrags, den unsere Bibliotheken zu einer ehrlicheren Selbsterkenntnis leisten können, traten sodann Fragen danach, was wirklich bis zu uns gelangt ist. Sind die Bücher getreues Abbild dessen, was der menschliche Geist mit mehr oder minder glücklicher Inspiration geschaffen hat? Kaum gestellt, ruft diese Frage einen Zweifel wach. Wie sollte man nicht sogleich an die Scheiterhaufen denken, auf denen immer noch Bücher verbrennen? Als ob die Bücher und die Meinungsfreiheit, deren Symbol sie recht bald wurden, ebenso viele Zensoren hervorgebracht hätten, die ihren Gebrauch und ihre Verbreitung überwachen und sie manchmal für immer beschlagnahmen. Und wenn es keine Frage von systematischer Vernichtung war, so sind doch ganze Bibliotheken in Flammen aufgegangen, allein durch das Wüten des Feuers in Schutt und Asche gelegt und zum Verstummen gebracht – als ob diese Scheiterhaufen sich einer am anderen entzündeten, bis hin zu der Idee, die unkontrollierbare Verbreitung von Büchern könne derlei Regulierungsmaßnahmen rechtfertigen. Daher ist die Geschichte der Buchproduktion unauflöslich mit jener anderen verknüpft, der eines regelrechten, immer wieder erneuerten Bibliocausts. Zensur, Ignoranz, Dummheit, Inquisition, Autodafé, Nachlässigkeit, Zerstreutheit, Brände stellten sich den Büchern als manchmal verhängnisvolle Hindernisse in den Weg. Sämtliche Bemühungen der Archivierung und Konservierung konnten daher nie verhindern, dass Werke vom Rang einer Göttlichen Komödie für immer unbekannt blieben.

Ausgehend von solchen Überlegungen zum Buch und zu den Büchern, die trotz aller Zerstörungswut bis zu uns gelangt sind, kristallisierten sich zwei Ideen heraus, um die diese sehr lockeren, mäandernden Gespräche kreisten; stattgefunden haben sie in der Pariser Wohnung von Jean-Claude Carrière und im Haus von Umberto Eco in Monte Cerignone. Was wir Kultur nennen, ist in Wirklichkeit ein langer Prozess des Auswählens und des Filterns. Ganze Sammlungen von Büchern, Filmen, Comics, Kunstwerken sind durch Inquisitoren unterdrückt worden oder den Flammen zum Opfer gefallen. War es der beste Teil des immensen Vermächtnisses, das die früheren Jahrhunderte uns hinterlassen haben? War es der schlechteste? Haben wir auf diesem oder jenem Gebiet des schöpferischen Ausdrucks lauteres Gold oder bloß den Bodensatz geerntet? Wir lesen heute noch Euripides, Sophokles, Aischylos, die uns als die drei großen Meister der griechischen Tragödie gelten. Aber wenn Aristoteles sich in seiner Poetik mit der Tragödie befasst und die Namen der berühmtesten Autoren seiner Zeit anführt, nennt er keinen dieser drei Namen. War das, was wir verloren haben, besser, repräsentativer für das griechische Theater als das, was uns erhalten geblieben ist? Wer könnte diesen Zweifel heute noch beheben?

Sollen wir uns mit dem Gedanken trösten, dass unter den Papyrusrollen, die dem Brand der Bibliothek von Alexandria zum Opfer fielen, dass in allen Bibliotheken, die in Flammen aufgegangen sind, vermutlich entsetzliche Schmöker waren, Meisterwerke des schlechten Geschmacks und der Dummheit? Werden wir imstande sein, angesichts der Schätze an Nichtigkeit, die unsere Bibliotheken heute bergen, die immensen Verluste an Vergangenem, die freiwillige oder unfreiwillige Vernichtung unseres Gedächtnisses zu relativieren, uns zu erfreuen an dem, was uns erhalten geblieben ist und was unsere mit allen Technologien der Welt hochgerüsteten Gesellschaften sicher zu bewahren trachten, ohne dass ihnen das nachhaltig gelänge? Sosehr wir uns auch bemühen, die Vergangenheit zum Sprechen zu bringen, niemals werden wir in unseren Bibliotheken, unseren Museen oder Cinematheken anderes finden als Werke, die die Zeit nicht hat verschwinden lassen, nicht hat verschwinden lassen können. Mehr denn je werden wir gewahr, dass die Kultur genau das ist, was übrigbleibt, wenn alles andere vergessen wurde.

Das Vergnüglichste an diesen Unterhaltungen ist aber vielleicht die Hommage, die darin der Dummheit erwiesen wird, welche all die beharrlichen Anstrengungen der Menschheit stumm verfolgt und sich niemals für ihr gelegentlich vorlautes Benehmen entschuldigt. Und genau hier erhält die Begegnung zwischen dem Semiologen und dem Drehbuchautor, die beide Büchersammler und -liebhaber sind, ihren vollen Sinn. Der erste hat eine Sammlung von äußerst seltenen Werken über die Fälschung und den menschlichen Irrtum zusammengetragen, und zwar weil sie seiner Meinung nach jeden Versuch zur Begründung einer Theorie der Wahrheit konditionieren. »Der Mensch ist wirklich ein ganz außerordentliches Geschöpf«, erklärt Umberto Eco. »Er hat das Feuer entdeckt, Städte erbaut, großartige Gedichte geschrieben, sich an Weltdeutungen versucht, mythologische Bilder erfunden und so weiter. Gleichzeitig aber hat er nicht davon abgelassen, gegen seinen Nächsten Krieg zu führen, sich zu irren, seine Umwelt zu zerstören und so weiter. Wägt man die hohe intellektuelle Tugend und die platte Idiotie gegeneinander ab, so ist das Ergebnis fast pari. Indem wir uns entschließen, über die Dummheit zu sprechen, würdigen wir also in gewisser Weise dieses halb geniale, halb dumme Geschöpf.« Wenn Bücher als getreuer Reflex der Ambitionen und Fähigkeiten einer Menschheit gelten, die nach Höherem und Besserem strebt, so muss in ihnen zwangsläufig dieses Übermaß an Tugend wie diese Erbärmlichkeit zum Ausdruck kommen. Also sollten wir auch nicht darauf hoffen, die lügnerischen, falschen, von unserem unfehlbaren Standpunkt aus komplett dummen Werke loszuwerden. Sie werden uns bis ans Ende unserer Tage begleiten, treu wie Schatten, und werden unverfälscht davon Zeugnis ablegen, was wir waren, und mehr noch, was wir sind. Leidenschaftliche und beharrliche Forscher nämlich, aber, um ehrlich zu sein, auch ohne Skrupel. Für jede gelöste Gleichung, für jede bewiesene These, jedes verwirklichte Projekt, jede geteilte Anschauung wie viele Wege, die ins Nichts führten? So werfen die Bücher ein Licht auf den Traum einer endlich von ihrer strapaziösen Schändlichkeit erlösten Menschheit, aber zugleich trüben und überschatten sie ihn auch.

Als namhafter Drehbuchautor, Theatermann und Essayist hegt Jean-Claude Carrière nicht weniger Sympathien als Eco für dieses verkannte und nicht genügend besuchte Denkmal, das seiner Ansicht nach die Dummheit ist und dem er ein Werk gewidmet hat, das immer wieder neu aufgelegt wird: »Als ich in den sechziger Jahren gemeinsam mit Guy Bechtel das Dictionnaire de la bêtise (Wörterbuch der Dummheit) zusammenstellte, sagten wir uns: Warum sich immer nur an die Geschichte der Intelligenz halten, an die Meisterwerke, die großen Augenblicke des Geistes? Die Dummheit, die Flaubert so teuer war, schien uns unendlich viel verbreiteter, das versteht sich, außerdem aber auch fruchtbarer, erhellender und in gewissem Sinn richtiger.« Dieses Interesse an der Dummheit war es, das Carrière befähigte, Ecos Bemühungen auf Anhieb zu verstehen, wenn der die eklatantesten Beispiele für diese glühende und blindwütige Leidenschaft, in die Irre zu gehen, zusammentrug. Gewiss ließe sich zwischen dem Irrtum und der Dummheit eine Art Verwandtschaft ausmachen, besser gesagt, eine geheime Komplizenschaft, die im Lauf der Jahrhunderte scheinbar nichts hat außer Kraft setzen können. Aber noch erstaunlicher für uns: Zwischen den Fragestellungen des Autors eines Wörterbuchs der Dummheit und denen des Autors von Über Gott und die Welt bestehen Wahlverwandtschaften und Affinitäten des Temperaments, die in diesen Unterhaltungen sehr deutlich hervortraten.

Jean-Claude Carrière und Umberto Eco, amüsierte Beobachter und Chronisten solcher Zwischenfälle, sind beide überzeugt, dass wir vom Abenteuer des Menschen sowohl durch seine Glanzleistungen als auch durch seine Misserfolge etwas lernen. Sie liefern sich hier geistvolle Improvisationen über die Erinnerung, ausgehend von den Lapsus, den Gedächtnislücken, dem Vergessen und den unersetzlichen Verlusten, aus denen die Tradition ebenso besteht wie aus den Meisterwerken. Es amüsiert sie, dabei zu zeigen, wie das Buch trotz der Schäden, die die Filterungen angerichtet haben, zuletzt durch die Maschen sämtlicher Netze geschlüpft ist, zu seinem Besten und manchmal auch zu seinem Schaden. Angesichts der Herausforderungen durch die umfassende Digitalisierung des Geschriebenen und den Einsatz der neuen Werkzeuge elektronischer Lektüre erlaubt diese Erzählung vom Wohl und Wehe des Buches eine Relativierung der angekündigten Umwälzungen. Die vorliegenden Gespräche sind eine schmunzelnde Hommage an die Galaxie Gutenberg, und sie werden all jene Leser entzücken, die das Buch als Gegenstand lieben. Und es ist nicht auszuschließen, dass sie bei den Besitzern von E-Books einige Nostalgie wachrufen.

Jean-Philippe de Tonnac

Ouvertüre:
Das Buch wird nicht sterben

JEAN-CLAUDE CARRIÈRE: Beim Weltwirtschaftsforum in Davos 2008 hat man einen Futurologen nach den Ereignissen befragt, die seiner Meinung nach in den kommenden fünfzehn Jahren die Menschheit erschüttern werden, und er meinte, mit Sicherheit ließen sich nur vier grundlegende Dinge vorhersagen. Das erste sei ein Erdölpreis von 500 Dollar pro Barrel. Das zweite betreffe das Wasser, das im Begriff sei, ein kommerzielles Handelsgut zu werden wie Erdöl: Es werde dann einen Börsenkurs für Wasser geben. Die dritte Vorhersage war, dass Afrika in den nächsten Jahrzehnten mit Sicherheit zur Wirtschaftsmacht aufsteigen werde, was sich ja alle wünschen.

Das vierte Ereignis ist diesem berufsmäßigen Propheten zufolge das Verschwinden des Buches.

Die Frage ist also, ob der endgültige Untergang des Buches, wenn er denn wirklich stattfindet, für die Menschheit die gleichen Folgen haben wird wie beispielsweise die gezielte Wasserverknappung oder unzugängliches Erdöl.

 

UMBERTO ECO: Wird das Buch verschwinden, weil das Internet auf den Plan getreten ist? Ich habe schon vor gut zwanzig Jahren über dieses Thema geschrieben, als die Frage zum ersten Mal aufkam und wirklich relevant schien. Seitdem kann ich, wenn man mich um Äußerungen dazu bittet, nur immer wieder dasselbe sagen. Niemand merkt das, vor allem, weil nichts weniger gegenwärtig ist als etwas bereits Publiziertes, aber auch, weil die öffentliche Meinung (oder zumindest die Journalisten) stets diese fixe Idee hat, dass das Buch verschwinden werde (oder die Journalisten meinen, ihre Leser hätten diese fixe Idee), und so stellen alle unablässig immer wieder dieselbe Frage.

Eigentlich gibt es zu dem Thema recht wenig zu sagen. Durch das Internet sind wir ins Zeitalter des Alphabets zurückgekehrt. Wenn wir je geglaubt hatten, wir seien in eine Kultur des Bildes eingetreten, so führt uns der Computer wieder zurück in die Ära Gutenberg, und heutzutage sieht sich jedermann gezwungen zu lesen. Zum Lesen braucht man einen Datenträger. Der Computer allein kann dieser Träger nicht sein. Setzen Sie sich zwei Stunden an den Computer und lesen Sie einen Roman, und Sie bekommen Augen wie Tennisbälle. Ich habe zu Hause eine Polaroid-Brille, um die Augen vor den schädlichen Folgen längerer Bildschirmlektüre zu schützen. Außerdem ist der Computer auf Stromversorgung angewiesen, man kann ihn also nicht in der Badewanne lesen und auch nicht im Bett auf der Seite liegend. Das Buch erweist sich da als weitaus flexibler.

Entweder – oder: Entweder bleibt das Buch materieller Träger des Lesens, oder es wird etwas geben, das dem gleicht, was das Buch seit jeher war, schon vor der Erfindung des Buchdrucks. Die Entwicklungen rund um den Gegenstand Buch haben seit über fünfhundert Jahren weder an seiner Funktion noch an den Arten seiner Verwendung etwas Grundlegendes verändern können. Das Buch ist wie der Löffel, der Hammer, das Rad oder die Schere: Sind diese Dinge erst einmal erfunden, lässt sich Besseres nicht mehr machen. An einem Löffel gibt es nichts zu verbessern. Designer bemühen sich, zum Beispiel den Korkenzieher zu optimieren, mit recht bescheidenem Erfolg, und im Übrigen funktionieren die meisten dieser Dinger nicht. Philippe Starck hat bei der Zitronenpresse etwas Neues versucht, aber weil er die Reinheit der ästhetischen Form wahren wollte, hat sein Gerät keine Vorrichtung, um die Kerne zurückzuhalten. Das Buch hat sich vielfach bewährt, und es ist nicht abzusehen, wie man zum selben Zweck etwas Besseres schaffen könnte als eben das Buch. Vielleicht wird es sich in seinen Komponenten weiterentwickeln, vielleicht werden seine Seiten nicht mehr aus Papier sein. Aber es wird bleiben, was es ist.

 

J.-C. C.: Mir scheint, in seinen neuesten Versionen tritt das E-Book in unmittelbare Konkurrenz zum gedruckten Buch. Das Modell »Reader« hat schon eine Speicherkapazität von 160 Titeln.

 

U. E.: Natürlich ist es für einen Staatsanwalt leichter, die 25000 Schriftstücke eines laufenden Prozesses in einem E-Book gespeichert mit nach Hause zu nehmen. In vielen Bereichen wird das elektronische Buch für den Nutzer außerordentliche Vorteile mit sich bringen. Ich frage mich allerdings nach wie vor, ob es selbst bei einer allen Leseanforderungen optimal angepassten Technologie wirklich sinnvoll ist, Krieg und Frieden auf einem E-Book zu lesen. Man wird ja sehen. Auf jeden Fall werden wir Tolstoi und all die anderen auf Papier gedruckten Bücher bald nicht mehr lesen können, ganz einfach weil sie in unseren Bibliotheken bereits begonnen haben, sich zu zersetzen. Die Bücher von Gallimard oder Vrin aus den fünfziger Jahren sind bereits weitgehend zerfallen. Etienne Gilsons Philosophie au Moyen Age, die mir zu der Zeit, als ich meine Dissertation vorbereitete, so nützlich war, kann ich heute gar nicht mehr in die Hand nehmen. Die Seiten zerfallen buchstäblich. Ich könnte natürlich eine neuere Ausgabe kaufen, aber ich hänge nun einmal an der alten mit all ihren Randnotizen in verschiedenen Farben, die die Geschichte meiner verschiedenen Lektüren widerspiegeln.

 

JEAN-PHILIPPE DE TONNAC: Wenn immer neue Datenträger entwickelt werden, die sich den unterschiedlichsten Anforderungen, sei es der Kausalitäten von Nachschlagewerken oder sei es der Lektüre von online-Romanen, immer besser anpassen, warum sollte man sich da nicht trotz allem vorstellen können, dass die Liebe zum Gegenstand Buch in seiner traditionellen Form allmählich schwindet?

 

U. E.: Möglich ist alles. Bücher können schon morgen nur noch für eine Handvoll unbekehrbarer Liebhaber von Interesse sein, die ihre rückwärtsgewandte Neugier in Museen und Bibliotheken befriedigen.

 

J.-C. C.: Wenn es dann noch welche gibt.

 

U. E.: Aber ebenso gut kann man sich vorstellen, dass in der Zukunft diese phantastische Erfindung, das Internet, ihrerseits verschwindet. Genau wie die Zeppeline, die von unserem Himmel verschwunden sind. Als die Hindenburg kurz vor dem Krieg in New York in Flammen aufging, bedeutete das das Aus für die Zeppeline. Dasselbe gilt für die Concorde: Das Unglück von Gonesse im Jahr 2000 wurde ihr zum Verhängnis. Trotzdem ist diese Geschichte bemerkenswert. Man erfindet ein Flugzeug, das für die Überquerung des Atlantik statt acht nur drei Stunden braucht. Wer wollte bestreiten, dass das ein enormer Fortschritt ist? Aber nach der Katastrophe von Gonesse verzichtete man darauf mit dem Argument, die Concorde sei zu teuer. Ist das ein ernst zu nehmender Grund? Die Atombombe ist auch sehr teuer!

 

J.-P. DE T.: Dazu möchte ich eine Äußerung von Hermann Hesse zitieren, vermutlich aus den fünfziger Jahren. Da sagt er über eine wahrscheinliche »Wiederaufwertung« des Buches, die durch den technischen Fortschritt bewirkt wird: »[…] je mehr mit der Zeit gewisse Unterhaltungs- und gewisse volkstümliche Belehrungsbedürfnisse durch andere Erfindungen werden befriedigt werden können, desto mehr wird das Buch an Würde und Autorität zurückgewinnen. […] Wir haben heute den Punkt noch nicht ganz erreicht, wo die jungen Konkurrenzerfindungen wie Radio, Film und so weiter dem gedruckten Buch gerade jenen Teil seiner Funktionen abnehmen, um den es nicht schade ist.«

 

J.-C. C.: In dieser Hinsicht hat er sich nicht getäuscht. Kino, Radio und sogar das Fernsehen haben dem Buch nichts genommen, »worum es schade wäre«.

 

U. E.: Irgendwann in seiner Geschichte hat der Mensch die Schrift erfunden, man kann die Schrift als eine Verlängerung der Hand betrachten, und in diesem Sinne ist sie nahezu biologisch. Sie ist eine unmittelbar an den Körper gebundene Kommunikationstechnologie. Hat man so etwas erst einmal erfunden, kann man nicht mehr darauf verzichten. Noch einmal: Das ist wie die Erfindung des Rads. Unsere Räder von heute sind noch genauso wie die vorzeitlichen. Während unsere modernen Erfindungen – Kino, Radio, Internet – nicht biologisch sind.

 

J.-C. C.: Sie betonen zu Recht: Noch nie musste man so viel lesen und schreiben wie in unseren Tagen. Man kann keinen Computer benutzen, ohne lesen und schreiben zu können. Und sogar in komplexerer Weise als früher, weil neue Zeichen, neue Codes hinzugetreten sind. Unser Alphabet hat sich erweitert. Lesen zu lernen wird immer schwieriger. Wir würden eine Rückkehr zur Oralität erleben, wenn der Computer das, was wir sagen, direkt verarbeiten könnte. Aber das wirft eine andere Frage auf: Kann man sich gut ausdrücken, wenn man nicht lesen und schreiben kann?

 

U. E.: Homer würde zweifellos antworten: ja.

 

J.-C. C.: Aber Homer gehört einer oralen Tradition an. Sein Wissen und seine Kenntnisse hat er durch das Medium dieser Tradition erworben, zu einer Zeit, als es in Griechenland noch nichts Geschriebenes gab. Kann man sich heute einen Schriftsteller vorstellen, der seinen Roman diktiert, ohne die vermittelnde Funktion des Geschriebenen, und der nichts kennt von der Literatur, die ihm vorausgegangen ist? Vielleicht würde sein Werk den Charme des Naiven besitzen, der Entdeckung, des Unerhörten. Mir scheint aber doch, es würde ihm etwas fehlen, etwas, was wir in Ermangelung eines besseren Ausdrucks Kultur nennen. Rimbaud war ein wunderbar begabter junger Mann, Autor unnachahmlicher Verse. Aber er war nicht das, was man einen Autodidakten nennt. Mit sechzehn Jahren besaß er bereits eine solide klassische Bildung. Er konnte lateinische Verse dichten.