Arvid Jansens Ehe ist gescheitert, seine Frau mit den drei Töchtern auf und davon. Sie findet neue Freunde, er nennt sie nur »die Farbenfrohen«, und er bleibt allein. Auch seine Kinder entgleiten ihm immer mehr. Arvids Weg führt steil nach unten, er scheitert als Mann, als Vater, bis er wieder zu sich kommt und seine Verantwortung für die große Tochter erkennt, die am meisten unter der Scheidung leidet. Wenn Per Petterson die Konflikte und den existentiellen Schmerz dieses Mannes beschreibt, entsteht große Literatur voll Melancholie und Zärtlichkeit; keiner schreibt über private Katastrophen so diskret und behutsam wie er.
Per Petterson
Männer in meiner Lage
Roman
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger
Carl Hanser Verlag
Für Geir B.
Es war Sonntag, September 1992, kurz vor sieben. Ich war gestern Abend aus gewesen, die letzte Stunde in einer Apotheke in der Tollbugata, die jemand in eine Bar verwandelt hatte, aber ich war mit niemandem nach Hause gegangen. Das war damals, in diesem Jahr, fast schon ungewöhnlich, denn ich fuhr nicht selten in die Innenstadt von Oslo und ging wider meine Natur in Bars und Kneipen und trat durch die Eingangstüren der lauten, verrauchten Lokale, in denen ich mich plötzlich so heimisch fühlte, und sah mich immer noch wider meine Natur gründlich um und dachte, wo werde ich heute die Nacht verbringen. Wenn ich Stunden später die Kneipe oder den Pub oder die Bar verließ, war ich selten allein. Als diese Monate hinter mir lagen, war ich in mehr Schlafzimmern, mehr Häusern und mehr Stadtteilen gewesen, als ich es zuvor für einen Mann wie mich für möglich gehalten hätte. Es hörte jedoch von selbst wieder auf, ich wäre gern ein loderndes Feuer gewesen, aber in meinem Feuer gab es mehr Asche als Flammen.
Als das Telefon heute Morgen klingelte, lag ich daher in meinem eigenen Bett. Ich hatte keine Lust ranzugehen, ich war hundemüde. Ich hatte getrunken, das ja, aber nicht viel und garantiert nicht nach elf, und ich war mit dem Tåsen-Bus von der Innenstadt hierhergefahren und an der Kreuzung ausgestiegen, wo sich heute ein Verkehrskreisel befindet, und dann war ich in dem sanften Regen an der Kirche Sagene vorbeigegangen Richtung Bjølsen. Als ich die Wohnung betrat, fühlte ich mich gut und schien keine Promille mehr zu haben.
Dass ich mich so müde fühlte, lag an meinen Träumen. Es ist nicht leicht, schon hier auf Seite zwei näher darzulegen, was mich an ihnen so mitnahm, das muss ich auf später verschieben.
Ich hatte vorgehabt, mindestens noch eine weitere Stunde liegen zu bleiben, um dann aufzustehen und Wasser für den Kaffee aufzusetzen und mich an das Schreibpult zu hocken und wenn möglich ein paar Stunden zu schreiben, obwohl Sonntag war. Doch das Telefon ließ nicht locker, deshalb schwang ich mich aus dem Bett und ging rasch ins Wohnzimmer und nahm den Hörer ab, und das tat ich, weil es sich nahezu illegal anfühlte, es einfach klingeln zu lassen. Ich hatte schon immer und habe heute noch die Vorstellung, dass ich den Hörer abnehmen muss und mir Strafverfolgung droht, wenn ich es unterlasse.
Es war Turids Stimme. Es war ein Jahr her, seit sie gegangen war und die Mädchen mitgenommen hatte und mit ihnen in ein Reihenhaus in Skjetten gezogen war. Sie heulte, und wenn ich mich nicht irrte, dann mit der Hand vor dem Mund, um das Geräusch zu dämpfen, und da sagte ich, Turid, was ist los, aber darauf wollte sie nicht antworten. Bist du daheim, fragte ich, aber das war sie nicht, sie war nicht daheim. Mensch Turid, wo bist du denn, sagte ich, doch das wusste sie nicht. Du weißt nicht, wo du bist, fragte ich, und sie heulte und sagte, nein. Sie wusste nicht, wo sie war.
Verdammt, dachte ich. Wenn sie so heult und nicht daheim ist, wo sind dann die Mädchen. Es gibt schließlich drei davon. Sie waren jedenfalls nicht bei mir, und Turids Mutter war in Singapur. Meine Mutter war tot, und mein Vater war tot, und meine Brüder waren fast alle tot. Soll ich dich abholen, fragte ich, denn ich ging davon aus, dass sie kein Auto dabeihatte, dort, wo sie sich befand, und sie heulte immer noch und sagte, ja, darum rufe ich an, ich habe sonst niemanden, und ich dachte, wenn du sonst niemanden hast, hast du nicht viel. Doch das sagte ich nicht, ich sagte, aber dafür muss ich wissen, wo du bist. Wie sieht es dort aus, wo du stehst. Hier ist ein Bahnhof, heulte sie, der ist gelb, aber es gibt keine Züge. Tja, sagte ich, vielleicht ist es noch zu früh, es ist schließlich Sonntag, und da sagte sie, nein, das meine ich nicht, ich meine, dass es keine Schienen gibt, auf denen der Zug fahren könnte.
Ich dachte nach, wo könnte das sein, es gab nicht viele entsprechende Orte im näheren Umkreis, es war bestimmt Bjørkelangen, etwas anderes fiel mir nicht ein, mein Gott, bis dahin sind es fünfzig Kilometer oder mehr, vielleicht sechzig, warum befand sie sich dort, ohne Auto, ohne einen anderen Menschen, um diese Tageszeit. Aber das konnte ich sie nicht fragen, es ging mich nichts an, ich musste mich um meine eigenen Dinge kümmern, was ich im Großen und Ganzen auch tat. Alles andere war sowieso aus und vorbei. Ich vermisse es nicht einmal, dachte ich, nicht mehr, nach einem derart langen Jahr, doch als ich zu Ende gedacht hatte, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, ob es stimmte.
Ich weiß, wo du bist, sagte ich. Ich fahre in fünf Minuten los. Danke, sagte sie, und ich sagte, es dauert aber seine Zeit, bis ich da bin. Das ist mir klar, sagte sie, und ich dachte, wie kann ihr das klar sein, sie weiß ja gar nicht, wo sie ist.
Ein rotes Telefonhäuschen, ein stillgelegter Bahnhof, gelb gestrichen, den sie von dem Häuschen aus vermutlich sehen konnte. Wenn ich richtiglag, sollte es nicht allzu schwierig sein. Es konnte sich natürlich um einen ganz anderen stillgelegten Bahnhof handeln, zig Kilometer entfernt in einer völlig anderen Richtung, aber mir fiel keiner ein.
Ich duschte schnell, zog die kurze James-Dean-Jacke an, und mit einem halben Brötchen in der Hand rannte ich die Treppe hinunter auf den Parkplatz gleich neben der Bushaltestelle vor dem gelben Wohnblock, in dem ich am Advokat Dehlis Platz in Bjølsen wohnte, und ich setzte mich in meinen dreizehn Jahre alten Kombi, einen champagnerfarbenen Mazda 929.
Nach einer Dreiviertelstunde war ich da. Das war schnell. Schneller hätte Gefängnis bedeutet.
An der Kreuzung bei der Tankstelle an der Ortseinfahrt zu Bjørkelangen bog ich nach links und fuhr ganz nach unten, vorbei am Landhandel Felleskjøpet, dessen gelbes Logo direkt auf den himmelhohen zylinderförmigen Getreidesilos angebracht war, eine Getreideähre in der Mitte und daneben in Grün die Buchstaben F und K. An der nächsten Kreuzung, an der sich ein kleines Hotel mit Bistro befunden hatte, bog ich nach rechts in den Stasjonsveien; alle Fenster waren schwarz, nicht eine Lampe brannte, es hatte vermutlich dichtgemacht, seit ich zuletzt hier gewesen war, das war keineswegs abwegig, wie sollte sich hier ein Hotel halten, in Bjørkelangen.
Ein Stück weiter vorne in der Straße stand wie erwartet das rote Telefonhäuschen, nicht weit entfernt von dem alten Bahnhofsgebäude. Ich fuhr ganz dicht ran, hielt vor dem Bahnhof und stieg aus, und dort gab es eine Bushaltestelle, wie es aussah, die letzte auf der Strecke, aber Turid war nirgendwo zu sehen.
An der Haltestelle stand kein Bus, es war ganz still, und mein Wagen war einer von dreien, die am Bahnhof parkten. Die beiden anderen waren eine Limousine und ein Kombi, beide Volvo, beide blau, keiner neu. In Bjørkelangen wussten bestimmt alle, welches Auto wem gehörte, und deshalb stach der Mazda heraus mit seinem leicht rostigen champagnerfarbenen Charme mit Nummernschildern, die hier bisher kein Mensch gesehen hatte, und vielleicht sagte ein Bewohner zu einem anderen, wem gehört bloß dieses Auto, wenn er es vom Fenster eines der umliegenden Häuser aus sah. Der Gedanke machte mich rastlos. Hier galt es, schnell her- und wieder wegzukommen, und natürlich saß sie nicht hier auf der Vorderseite des Bahnhofsgebäudes mitten im Blickfeld, darum lief ich um das Gebäude herum zu dem, was strenggenommen wohl die eigentliche Vorderseite war oder gewesen war, als die glänzenden Schienen von Sørumsand im Westen noch hier zum Bahnhof führten und auf der anderen Seite wieder herauskamen, dieses Mal mit einem Zug darauf, und als sich der Schaffner auf dem Trittbrett mit der flatternden grünen Flagge in der Hand weit hinauslehnte und mit der Pfeife im Mund Abfahrt! Abfahrt! blies, und er blies erneut, er war stolz auf seine Pfeife und den Ton, den sie von sich gab, das wären wohl alle gewesen.
Das Gleis gehörte zu den Schmalspurbahnen und hatte vor einem Menschenalter oder länger den Kampf um die Zukunft verloren, und doch, vor nur zwei, drei Jahrzehnten kam der Zug noch nichtsahnend hier nach Bjørkelangen und fuhr weiter nach Skullerud im Süden, bis zum See und zu dem Dampfschiff, das dich durch die Schleusen vom tiefsten Binnenland zum äußeren Oslofjord bringen konnte, und von dort in die ganze Welt, nach Spanien, nach Amerika, wenn man das wollte, und es war nicht besonders weit nach Sørumsand oder Skullerud, der Dialekt war in etwa derselbe, aber die Schienen waren längst herausgerissen und als Metallschrott abtransportiert worden, und es wurden keine neuen mehr verlegt.
Sie saß im Gras, die Stirn auf den Knien, an der Böschung hinunter zu dem Flüsschen, das, wie ich wusste, Lierelva hieß. Ich wusste alles über diese Orte, in einem großen Umkreis über ganz Ostnorwegen verteilt. Ich war unzählige Male durch sie hindurch und an ihnen vorbei gefahren, allein, tagsüber und nachts, manchmal mit den Mädchen auf dem Rücksitz, mit allen dreien oder nur mit einer, dann in der Regel mit Vigdis, der Ältesten. Ich war gefahren und gefahren, bis ich genug davon hatte, zur Zeit hatte ich ganz unfassbar genug davon. Von den Straßen. Den Autos, den Mazdas und Fords, den Opels, egal von welcher Marke, von Autos mit Gangschaltung oder Automatik, von Benzinern oder großen Dieselautos, von leisen Autos und Autos, die über dem Asphalt kohlschwarzen Rauch ausstießen, aus dem Auspuffrohr regelrecht einen Schwanz hinter sich herzogen. Ich hatte nie ausgerechnet, wie viel CO2 ich auf diesen Fahrten in die Luft geblasen hatte, es war vermutlich sträflich viel, und offen gestanden belastete es mich, ich musste oft daran denken, lag nachts wach und zählte die Liter Treibstoff, zählte im Traum die Kubikmeter Abgase, aber was sollte ich tun, sollte ich Tabletten schlucken. Wie verschmutzend war nicht die Pharmaindustrie. Ganz sicher sehr verschmutzend, obwohl ich nicht wusste, mit welchem Stoff und wie, giftige Abwässer im Boden, Dreck in der Luft oder einfach nur allgemein gefährlich süchtig machend.
Ich hätte damals ein Fahrtenbuch führen können. Es hätte für ein Buch mit vielen hundert Seiten gereicht, und es könnte interessant sein, dachte ich, in geografischer, topografischer und nicht zuletzt biografischer Hinsicht, ich war rastlos und das schon lange, und dann war es nicht leicht, sich vom Auto fernzuhalten. Im letzten Jahr hatte ich es als Doping benutzt. Wo sollte ich sonst an den Abenden bleiben. Es gab nur die Innenstadt oder den Mazda, und genauso oft, wie ich in Bars ging, setzte ich mich ans Steuer.
Ihren Schultern konnte ich ansehen, dass sie immer noch heulte, und ich dachte, wie kann sie bloß so lange durchhalten. Das war nicht leicht zu verstehen. Aber ich wusste ja auch nicht, was passiert war, und hatte nicht vor zu fragen, es war ihr Leben, nicht unseres.
Nach einem reichlich missglückten Versuch, den Gamstragegriff anzuwenden, bugsierte ich sie auf den Beifahrersitz. Das war nicht leicht, ihre Beine waren wie aus Gummi ohne spürbare Gelenke, und zuerst dachte ich, sie sei betrunken, und das war sie sicher auch gewesen, vielleicht sogar sehr, aber jetzt war sie es nicht mehr, sie sagte, Entschuldigung, Arvid, ein paarmal, und ich sagte, entspann dich, Turid, alles wird gut, obwohl es besser gewesen wäre, wenn sie sich nicht ganz so entspannt hätte. Ich hatte sie noch nie in einer solchen Verfassung gesehen, in unserem ganzen langen Zusammenleben nicht, und jetzt musste ich sie im Arm halten, aber ihr Körper fühlte sich nicht an wie früher, das war verwirrend, ich hatte zumindest mit einer leisen Form des Wiedererkennens an den Händen gerechnet, oder etwas, das wie Wiedererkennen wirkte, aber jetzt fühlte sich ihr Körper sehr intim an und gleichzeitig deutlicher, ja, gerade deswegen, nicht wie ein Körper auf dem Weg fort, sondern wie ein völlig neuer, klar abgegrenzter Körper auf dem Weg hierher, aber so war es ganz und gar nicht, er war nicht auf dem Weg zu mir, und deshalb musste ich meine Hände so platzieren, dass sie nicht an Stellen zu liegen kamen, an denen sie vorher schon gelegen hatten, es war ja erst ein Jahr her, ich konnte mich aber auch nicht daran erinnern, ob ich sie da noch im Arm gehalten hatte, ganz sicher nicht, damals hatte ich zu viel Angst gehabt, mich eingekapselt in mir selbst, alles Mögliche konnte passieren, wenn ich sie im Arm hielt.
Ich hielt am Reihenhaus hinter ihrem, damit sie es leichter hatte und den kürzesten Weg über den Rasen zu der Wohnung gehen konnte, wo sie lebte, in einem Reihenendhaus, und so den neugierigen Blicken der nächsten Nachbarn entging. Ich stellte mir vor, dass das für sie wichtig war. Soll ich mit reinkommen, fragte ich und dachte sofort, das hätte ich besser nicht gefragt, denn das wollte ich ja gar nicht. Willst du das tun, fragte sie. Das kann ich gern machen, sagte ich, und sie sagte mit fast schon inniger Dankbarkeit, oh, das wäre toll, aber es war mir unangenehm, es war demütigend, ich wurde sauer, am Telefon hatte sie gesagt, sie hätte niemanden außer mir, aber ich wollte nicht ihr Ritter sein, ihr Retter und im Gegenzug nichts als Dankbarkeit bekommen. Was sollte ich mit Dankbarkeit. Als wir einander vor einem Jahr ein letztes Mal in der gemeinsamen Wohnung am Advokat Dehlis Platz in Bjølsen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, hatte sie gelächelt und geradezu wehmütig gesagt, und dabei war ich davon überzeugt gewesen, wir würden zusammen alt werden, und ihre Freunde, die nicht meine Freunde waren, sondern viele Jahre jünger, genau wie Turid, standen draußen auf dem Gehweg und warteten neben dem vollbeladenen Lieferwagen, einem VW Caravelle, das weiß ich noch genau, er war grellgelb, und dort, wo ihre Freunde waren, schien die Sonne, und mir fiel plötzlich auf, dass ihre Kleider besonders farbenfroh waren, fast hippiehaft, ich würde niemals in solchen Klamotten herumlaufen, und ich sagte, dann musst du mir das geben, was vorher kommt, nach dem Jetzt, aber vor dem Alter, das, was in der Mitte ist, doch das wolle sie mir nicht geben, sagte sie, das könne sie nicht.
Dann halt nicht, verdammt.
Aber es stimmte, im letzten Jahr unseres Zusammenlebens waren die Tage und Nächte so langsam ineinander übergegangen, dass sie schließlich ganz innehielten und alles auf Pause stand, und immer öfter schaffte ich es abends nicht, mich in das Bett zu legen, in dem sie schon seit einer Stunde oder länger lag. Wir waren zu Magneten mit identischen Polen geworden, die zueinander zeigten, Plus zu Plus, Minus zu Minus. Ich konnte mich auf sie stürzen und im selben Moment aus dem Schlafzimmer geschleudert werden, über die Türschwelle hinweg, und auf dem Rücken ins Wohnzimmer schlittern, als hätte ich einen kräftigen Schlag auf die Brust bekommen, ich rutschte über den Boden und knallte gegen die gegenüberliegende Wand, das passierte immer wieder, und schließlich beschloss ich, lieber auf dem Sofa sitzen zu bleiben und die Platten aufzulegen, die sie durch die Wand bestens hören und erkennen konnte. Es war Musik aus unserer Anfangszeit, als wir frisch zusammen waren und ich noch nicht wusste, wer sie war, wer sich in ihrem Körper verbarg, und sie nicht, wer in meinem, wer ich war, und wir wollten nichts anderes als genau das herausfinden, denn ich hing damals in der Luft, ich löste mich von dem, der ich war, ich war verliebt, das war der Grund, diese Platten legte ich auf. Doch mit der Zeit ließ ich auch das mit den Platten, und weit nach Mitternacht ging ich im Treppenhaus die Stufen hinunter, über die fast hundert Jahre alten, zum Teil mehrfach gesprungenen, rotblauen marokkanischen Fliesen mit Sternenmuster auf den Absätzen, die ich immer schon sehr gemocht hatte, und durch die Toreinfahrt vom Hinterhof mit dem ehemaligen Stall, der jetzt dem dienstältesten Nachbarn als Garage diente, einem Typen in absurd makellosem Blaumann, der jeden Sonntag in dem gepflasterten Hof auf einem Schemel stand und seinen uralten Volvo Duett polierte, mit dem er keinen Meter gefahren war, zumindest hatte ich davon nichts mitbekommen, und es war stockfinster in der Toreinfahrt auf dem Weg zu meinem Mazda, den ich in dem vorgesehenen Feld vor dem Mietshaus geparkt hatte, nur wenige Meter von der Bushaltestelle entfernt. Und ich setzte mich auf den Beifahrersitz, schob ihn ganz nach hinten, legte die Rückenlehne um und hing, eingepackt in den warmen Mantel, halb sitzend, halb liegend auf dem Sitz, um wenn möglich ein Weilchen zu schlafen nach dem Tag, der mir geschenkt worden war, in dem Fall von Gott, bis die ersten Busse von der Ebene oben, wo die große Bushalle zusammen mit dem Sportplatz und der Margarinenfabrik im Dämmerlicht lag, den Berg herunterkamen. Die Busse kamen fast unsichtbar und leise zur Haltestelle und hielten und öffneten die Türen mit einem Geräusch, an das ich mich anschließend gut erinnern konnte, es war ein diskretes, leises und intimes Geräusch, ganz nah, ein weicher Luftstoß der gutgeschmierten Türen, denn die Busse waren vermutlich neu, und danach die müden Schritte derjenigen, die mitfahren wollten, zwei Stufen hinauf und einen Schritt auf den Fahrer zu, und die gedämpften Stimmen zwischen ihnen, jedes Wort auf Sparflamme, als wären sie die Glut des gestrigen Lagerfeuers, allesamt Laute, die selten von anderen als solchen wie mir gehört wurden. Ich sah sie vor mir, all die Autos, die an Stellen wie dieser parkten, an Wegen und Straßen, an Bushaltestellen, in Garagen und Auffahrten, mit Männern in meiner Lage, halb liegend, halb sitzend, fest eingepackt in den Mantel und das Auto um mich herum bei dem Versuch, ein paar Stunden allein zu schlafen und am Ende von der schwarzen Nacht, von sanften Händen und lautlosen Seilwinden geholt zu werden, zusammengezogen, in langen Reihen hintereinander, Kotflügel an Kotflügel, Lack an Lack, Knopf an Knopf, eine Gemeinschaft sortiert nach dem Alter des Mannes und der Marke des Wagens, fast auf die Letzte Ölung wartend, auf die Auslöschung, in Embryonalstellung schlafend, mit den unrasierten Wangen an den harten kalten Handrücken, vorsichtig atmend in der kalten Dunkelheit.
Nicht ein einziges Mal kam es mir in den Sinn, dass sie die Treppe herunterkommen könnte, hinaus in die Dunkelheit, zur Bushaltestelle, nur in Nachthemd und Stiefeln, die vordere Tür aufmachen und mich auffordern, wieder hereinzukommen, hinaufzukommen, hinauf in das warme Bett, dass sie sagen könnte, Mensch Arvid, hier kannst du nicht sitzen bleiben, es ist doch so kalt, komm lieber hinauf ins Warme. Das hätte alles verändert. Doch erst als mir klar wurde, dass es mir nie in den Sinn gekommen war, dass sie hätte herunterkommen können, und dass ich mich nicht daran erinnern konnte, es mir auch nur ein einziges Mal gewünscht zu haben, begriff ich, dass alles verloren war.
Jetzt folgte ich ihr über den Rasen zum Reihenhaus, und meine Schuhe versanken in dem weichen Gras, und ihre auch, denn der Boden war immer noch feucht nach der Nacht und dem Regen, und von hinten konnte ich sehen, dass ihr rechter Strumpf eine Laufmasche hatte, die ganz oben am Rocksaum begann und über den Oberschenkel bis zur Kniekehle ging, unter der die Haut entblößt war, matt und weiß, in einem breiten Streifen und daneben der glänzende Stoff, und ich dachte, wann hat sie angefangen, solche Strümpfe zu tragen. Nicht zu meiner Zeit jedenfalls, und vor meiner Zeit gab es nichts: Vor dir gab es nichts, hatte sie einmal frühmorgens gesagt, in unserem ersten gemeinsamen Frühling, und ich weiß noch, wie heiß meine Wangen davon geworden waren, vor kindlichem Stolz. Aber jetzt konnte ich nicht umhin, auf ihre Haut zu starren, hinten am Oberschenkel durch den gerissenen Strumpf, und es fühlte sich an wie ein plötzliches Pochen im Bauch, wie eine rote Säule bis hinauf zu den kurzen Haaren, aber das konnte sie nicht sehen, sie konnte mich und meinen Blick nicht sehen, sondern ging unwissend und niedergeschlagen über das Gras zum Haus, und es war ein Gefühl, das nur schwer wiederzuerkennen war, und ich konnte mich auch nicht erinnern, ob es schon einmal da gewesen war, vor einem Jahr oder mehr, oder ob es ganz am Anfang da gewesen war. Dieses Pochen. Ich wusste, dass es nicht so war, das hier war etwas anderes, und ich könnte mich wegen dieses Gefühls auch schämen, wenn ich sie so sah wie jetzt, direkt vor mir, der gebeugte Rücken, die einsamen Handflächen.
Wir traten in den Eingang, sie sperrte die Tür hinter uns ab und lehnte sich mit geschlossenen Augen an die Wand, und dort im Gang spürte ich etwas Verwirrendes, denn obwohl die Frau, mit der ich viele Jahre verheiratet gewesen war, in dieser Wohnung lebte und auch meine drei Töchter, meine eigenen Kinder, hier wohnten, war mir die Stimmung, die Luft, der Duft, war mir alles, was ich spüren und berühren konnte, alles, was ich sehen konnte, vollkommen fremd. Ich erkannte nichts wieder, was nicht so verwunderlich war, da ich die Wohnung noch nie betreten, sondern mich demonstrativ geweigert hatte, die Türschwelle zu überschreiten, und immer draußen auf dem Plattenweg gewartet hatte, in der Sonne oder im Regen, oder im Auto auf dem Parkplatz, bis ich die Mädchen mit ihren Reisetaschen, in denen sie Ersatzkleidung und vielleicht auch Schulsachen hatten, um die Ecke biegen sah. Und doch hatte ich mit etwas gerechnet, das nicht nur der Vergangenheit angehörte, einem letzten Rest meiner Person, den alle vier, jede auf ihre Weise, von Bjølsen mit hierhergenommen hätten, und sei es nur ein weiterhin spürbarer Mangel, eine Flasche, die noch nicht wieder ganz gefüllt war, aber da war nichts. Ich war wie ausgelöscht.
Ich musste ihr aus den Schuhen helfen, sie schaffte es nicht allein, sie bückte sich und fiel dann einfach um, und daraufhin zog ich die niedrige Kommode unter dem Spiegel zu mir heran und half ihr hoch und sagte, setz dich hier hin, Turid, und sie setzte sich hin, und ich ging auf die Knie, um ihre Schnürsenkel aufzuknoten, ein ikonischer Anblick vermutlich, und doch eine Positur, in der ich bisher nicht gesehen worden war, auf Knien vor ihr, obwohl wir fünfzehn Jahre lang zusammen gewesen waren.
Nun beugte sie sich vor, die linke Hand auf meiner Schulter, und dann rutschte die Hand langsam Richtung Nacken, und ihr Kopf kam hinterher, und ihre Haare kitzelten mich auf dem Weg nach unten am Ohr. Schließlich lag ihre Stirn schwer auf meiner Schulter, und auf der anderen hing ihr rechter Arm lose über meinen Rücken, eine Art Umarmung, wenn man so will, anders konnte man es schwerlich nennen. Es war eine merkwürdige Situation. Sie sagte nichts, sie bewegte sich nicht, und ihre Wange lag direkt an meiner, und ihr heißer Atem schob sich im Nacken unter meine Jacke und verteilte sich über die Haut zwischen den Schulterblättern. Das konnte ich deutlich spüren. Sie heulte nicht länger, jeder Atemzug folgte auf den vorherigen, wie es sich gehörte, und es war quälend für mich, ich konnte nur die Finger an ihren Schnürsenkeln bewegen, und ich dachte, ist sie auf meiner Schulter eingeschlafen, sie war plötzlich so still, bist du eingeschlafen, Turid, fragte ich. Nein, ich schlafe nicht, sagte sie fast direkt in mein Ohr, kann ich noch ein bisschen so sitzen bleiben, und ich sagte, ist schon in Ordnung, du kannst gern noch ein bisschen so sitzen bleiben. Dabei war es überhaupt nicht in Ordnung, aber verdammt, was hätte ich anderes sagen sollen.
Nachdem ich ihr die Schuhe ausgezogen hatte, führte ich sie durch die Tür ins Wohnzimmer, ich überlegte, ob ich sie ins Bett bringen sollte, wo sie jetzt ganz offensichtlich hingehörte, aber ich wollte ihr Bett nicht sehen, oder ich hätte es schon gern gesehen, das Fremde daran, das neue, quälend Attraktive daran, den Schlag in den Bauch, der kommen würde, das wusste ich, aber ich konnte nicht, auch wenn alles in mir wollte, ich musste hier wieder raus, ich musste weg.
Wir gingen ins Wohnzimmer, und ich lockerte vorsichtig den Griff und ließ sie vor dem Sofa langsam los, damit sie sich setzen konnte, doch sie rutschte einfach weiter, zu Boden, und ging auf die Knie, den Nacken gebeugt, die Hände schwer auf dem Teppich vor sich, und heulte wieder, und dann riss sie sich zusammen und krabbelte die wenigen Meter zur Wand und lehnte sich mit dem Rücken dagegen, genau zwischen der Küchentür und einem Schubladencontainer, den wir früher im Eingang unserer Wohnung in Bjølsen stehen hatten, sie hatte ihn demonstrativ blau gestrichen, vermutlich, um alle Erinnerungen zu tilgen, und ich erkannte den Container kaum wieder.
Ich hätte mich aufs Sofa setzen können, das wäre einfach gewesen und vielleicht auch ganz normal, aber ich setzte mich nicht, ich blieb stehen, ich sagte, Turid, wo sind die Mädchen. Was, sagte sie. Wo sind die Mädchen, fragte ich. Ach, die Mädchen, die sind bei einer Freundin. Sie nannte einen Namen. Das gefiel mir überhaupt nicht. Warum waren sie bei ihr. Warum sind sie dort, fragte ich, und sie sagte, sie war die Einzige, die sie genommen hat. Wollten sie denn zu ihr, fragte ich. Nicht unbedingt, sagte Turid. Sie ließ die Stirn auf die Knie sinken. Turid, sagte ich, soll ich sie für dich abholen. Ich fand, ich müsste das fragen, ich wurde unruhig. Willst du das tun, sagte sie. Das kann ich gern tun. Vielen Dank, das wäre toll, sagte sie. Vielleicht kannst du bis heute Nachmittag warten. Hm, sagte ich, dann warte ich. Eigentlich hatte ich keine Lust zu warten, aber es war immer noch frühmorgens. Turid, sagte ich, kann ich noch etwas für dich tun, bevor ich gehe. Sie zeigte mir ihr Gesicht, es war tränennass, und sie sagte, musst du denn gehen, und ich sagte, ja, das muss ich. Mir wäre lieber, du würdest bleiben, sagte sie, und ich sagte, das kann ich schon verstehen, aber es ist nicht richtig, wenn ich hierbleibe. Ich würde es mir wünschen, sagte sie, es gibt Dinge, die ich mit dir besprechen will, ich habe sonst niemanden, sagte sie zum zweiten Mal an diesem Tag, und ich spürte diesen plötzlichen Sog, nicht zu ihr, wie sie war, als wir noch zusammen waren, sondern zu ihr, wie sie jetzt war, und ich wusste genau, dass es daran lag, dass ich der Starke war und sie die Schwache, der wehrlose Körper, der geschwächte Wille, und ich sagte, verdammt, Turid, verschone mich mit deinem Leben. Und ich meinte, was ich sagte, ich wollte nichts damit zu tun haben.
Aus den Augenwinkeln nahm ich noch ihren ungläubigen Blick wahr, bevor ich mich umdrehte und schnurstracks aus dem Wohnzimmer ging, durch den Eingang, wo die Kommode noch mitten im Weg stand, und ich schob sie entschieden zur Seite, aber dann konnte ich sie genauso gut an ihren Platz an der Wand unter dem Spiegel stellen, wo sie vorher gestanden hatte, und das tat ich so mittig wie möglich, und draußen im Treppenhaus knallte ich die Tür hinter mir laut zu. Dann ging ich über den Rasen und setzte mich ins Auto, und in meiner Brust pochte es, und ich blieb viele Minuten lang so sitzen und atmete tief ein, bis es in mir wieder still wurde und ich in der Lage war loszufahren.
Ich weiß nicht mehr genau, wann ich zum ersten Mal mit dem Bus in die Innenstadt fuhr, um abends durch die Straßen zu ziehen, in Bars zu gehen, Gasthäuser und Kneipen aufzusuchen, aber es muss kurz nach Turids Auszug gewesen sein, im selben Monat höchstwahrscheinlich, und somit ein gutes Jahr nachdem das Schiff mit meinen Angehörigen an Bord gebrannt hatte, wie es in den Abendnachrichten hieß, seine Angehörigen verbrannten in einem Schiff, in einer Kabine, in einem Korridor, sie blieben auf dem Meer, sie wurden aus diesem Leben hinauskatapultiert, neben einem Duty-free-Shop.
Was ich weiß, ist, dass ich auf meinem angestammten Platz ganz hinten im Bus saß, auf dem Weg von Bjølsen über Sagene ins Zentrum, in meinen besten Kleidern, also der Lotsenjacke, der guten alten, nur mit neuen Messingknöpfen, die ich bei einer hilfsbereiten Frau zusammen mit Nadel und Faden im Knopfladen hinter dem Parlamentsgebäude gekauft hatte, und alle Knöpfe glänzten und hatten eine Ankerprägung. Ich trug ein gelbes Tuch um den Hals, im Nacken geknotet, und eine Hose mit unzeitgemäßem, undramatischem Schlag, um den Seemannsfaktor zu erhöhen. Ich war frisch geduscht, meine Haare waren frisch gewaschen, ich wollte das Verlorene aufholen, was auch immer das Verlorene war, ich war achtunddreißig, alles war futsch, ich hatte nichts mehr.
Es war schon Herbst oder etwas, das wie Herbst aussah, schwer zu sagen. Es war zumindest kühl. An der Bushaltestelle direkt unter meiner Wohnung stellte ich den Jackenkragen auf, gegen den Nordwind, aber es kam kein Wind aus Norden, es war überall still, es fühlte sich an diesem Tag nur wie das Richtige an, und es sah eindeutig besser aus.
Als ich am Ende der Storgata ausstieg, war der Himmel über der Stadt schwarz, doch die Schaufenster waren hell erleuchtet, und die Straßenlampen brannten, und durch die Straßen verliefen je zwei doppelte Straßenbahnschienen, glänzend wie flüssiges Silber zwischen den Pflastersteinen im Asphalt, und die Neonschilder über den Türen der Buchhandlung, des Schuhladens strotzten vor hellem Gelb, vor Rot und Blau in der feuchtklebrigen Oslo-Luft, jeder Tropfen des Nieselregens eingefärbt, und die Farben auf den feuchten Gehwegen spiegelverkehrt, und in den fast zum Bersten gefüllten Lücken zwischen den Gebäuden fühlte sich die Luft an den Wangen besonders kalt an, als ich mit der warmen Lotsenjacke hier entlanglief, vorbei an der Strøget-Passage, vorbei an der Opernpassage, die Taschen gefüllt mit meinen eigenen Händen, und als ich mich dort umdrehte und in das große, nicht besonders schöne Gebäude schaute, wurde mir klar, dass ich das hier noch nie allein gemacht hatte, dass ich immer zusammen mit Turid hierhergekommen war, um andere junge Leute zu treffen, die wir kannten, Kommunisten und Dichter, Gewerkschafter, Schweißer und Dreher der Schiffswerft Akers Mek. und der Werkstatt Myra, um Bier zu trinken und über Politik und Bücher zu reden, im Cordial, in der Dovrehallen, im Lompa, Orten wie diesen, auch als die Kinder schon da waren. Doch dann war es langsam abgeebbt. Turid hatte sich abgewandt und neue Freunde gefunden, die nicht zu meinen Freunden wurden, und letztes Jahr war ich nur selten in die Innenstadt gefahren, um mit Audun zu essen, meinem Waffenbruder aus Veitvet, und noch seltener, um einen oder zwei meiner alten Freunde zu treffen, die nur meine Freunde waren oder es gewesen waren, bevor Turid und ich ein Paar wurden. Doch meistens ging es nicht gut. Ich war zu rastlos, ich konnte nicht stillsitzen und musste mich immer entschuldigen und raus, bevor das Treffen vorüber war, was mir manchmal übelgenommen wurde.
Ich wäre jetzt sowieso nicht gern mit ihnen unterwegs, zumindest nicht mit Turid, auch nicht mit Freunden, nicht einmal mit Audun, und das verlieh mir ein Gefühl von Tollkühnheit. Es war eine Sache, allein in einer Wohnung zu sein, in meiner eigenen Wohnung mit all meinem Kram um mich herum, den Buchrücken, den Bildern an den Wänden, dem Buddha auf dem Schreibpult und dem Messer im Sofa, oder in einem Bus oder einem U-Bahn-Wagen mit der Tasche meines Vaters und einer alten Pax-Ausgabe mit den mehr als tausend Jahre alten Gedichten des chinesischen Dichters Du Fu auf dem Schoß oder vielleicht Bertolt Brechts Kalendergeschichten, in dem Fall eine der frühen Lanterne-Ausgaben; eine andere Sache war es, in die Welt hinauszugehen, wo das Dach sich hob und die Wände auseinanderfielen und die Stadt hereinströmte. Das war riskant, aber offen gestanden, wenn es hart auf hart käme, könnte ich mir einfach ein Taxi suchen, mit dem ich innerhalb von fünfzehn, zwanzig Minuten zu Hause wäre, bevor die Panik zuschlug. In San Francisco, Berlin oder London wäre es schlimmer. Ein solches Taxi gab es dort nicht.
Aber Oslo war meine Stadt, und ich ging davon aus, dass alles gutgehen würde.
Ich ging zuerst ins Cordial, ganz oben in der Storgata, dem Musikladen Hornaas gegenüber, wo die stillglänzenden, für mich fast okkulten Gitarren in einer Reihe im Schaufenster standen. Aber in der Gaststätte waren viel zu viele, die ich kannte, ich erinnerte mich gut an sie, sie arbeiteten bei der Straßenbahn, bei der Eisenbahn und waren ehemalige Freunde von mir, sie kamen seit einem Jahrzehnt oder mehr in diese Kneipe, das konnte man an ihrem Lachen und ihrer Lautstärke erkennen, daran dass ihre Stimmen seit dem letzten Mal rauer geworden waren. Viele waren auch Mitglieder im Fanclub von Vålerenga, was im Prinzip in Ordnung war, ich hielt selbst zu Vålerenga, schon immer, in dem Stadtteil war ich zur Welt gekommen, getauft worden, mein Vater hatte dort vor dem Krieg in der zweiten Mannschaft gespielt und war später zu den regelmäßigen Treffen der Alten Herren gegangen, wie sie sich nannten, neben der Vålerenga Kirche, und er war mit den alten Helden befreundet gewesen, mit Tippen Johansen, mit dem Prahlhans, you name them, und diejenigen, die noch lebten, kamen zu der großen Beerdigung mit Stock und schütterem Haar. Dein Vater war verdammt gut, sagten sie, und außerdem konnte er singen, er traf immer den Ton, er traf auch den Ball, sagten sie und lachten und husteten, und es stimmte, dass er gut singen konnte, aber ich wusste nicht, was ich zu ihnen sagen sollte, dass ich meinen Vater leider nicht würdigen konnte, dass ich keine Ahnung hatte, wer er war, auch nicht, dass er einer von ihnen war, von den Alten Herren, den Legenden, dem Stolz des ganzen Landes, ich hatte nicht zugehört, und draußen auf der Treppe der Kapelle sagte ich nur, vielen Dank, dass ihr gekommen seid, und sie nahmen die Mützen kaum hoch, denn es war kalt an jenem Tag, und nass.
Aber drinnen im Cordial blieb ich gleich hinter der Tür stehen, drehte mich um und ging sofort wieder hinaus, bevor jemand rufen konnte, hallo, Knut Hamsun, komm her und setz dich.
Nichts von dem, was ich geschrieben hatte, deutete auf Hamsun, zumindest konnte ich es nicht erkennen. Aber für gewöhnlich riefen sie das. Hallo, Knut Hamsun.
Draußen auf dem Gehweg ging ich wieder den gleichen Weg zurück, hinunter zur Dovrehallen auf der anderen Seite der Storgata, kurz vor Gresvig Sport, wo ich auf der Galerie ein Bier trank. Ich redete mit niemandem, ich kannte keinen dort, was schon merkwürdig war. Nicht, dass es mir etwas ausmachte, im Gegenteil, aber ich hatte mich an den falschen Tisch gesetzt, bevor ich mir das Bier geholt hatte, die Tische um mich herum waren leer, und ich hätte es peinlich gefunden, wieder aufzustehen und mich ohne Anlass dichter zu den anderen Anwesenden zu setzen, obwohl zwei von ihnen Frauen waren und eine allein an ihrem Tisch saß. Dazu war ich nicht der Typ. Und so beließ ich es bei dem einen Bier. Ich hätte ein Buch in der Innentasche haben sollen, einen Nouveau Roman, vorzugsweise Claude Simon, gern Die Straße in Flandern, das mir gut gefiel, oder etwas Philosophisches, Camus’ Tagebücher, was auch immer, dann hätte ich etwas, woran ich mich festhalten könnte, wenn es nötig werden sollte, und schon ein einziges dieser Bücher wäre abweisend genug, um allen und jedem klarzumachen, dass ich für mich sein wollte. Was ja aber eigentlich nicht stimmte.
Darüber hätte ich vorher nachdenken sollen, das hatte ich nicht getan. Also bezahlte ich, ging die Treppe hinunter und wieder hinaus in die Storgata.
Auf dem Gehweg blieb ich unschlüssig stehen. Rechts lag das Shopping Center Gunerius und um die Ecke in der Brugata Teddy’s Soft Bar; links ging die Storgata weiter bis zum Kirkeristen, wo sie sich teilte und man sich zwischen dem Weg hinunter zum Bahnhofsvorplatz oder der Straße hinauf zum Glasmagasinet am Stortorget entscheiden musste. Aber was sollte ich dort. Dort fühlte es sich nicht sicher an.
Ich zündete mir eine Zigarette an, eine Blue Master ohne Filter, es war meine Festtagszigarette. Ich mochte diese eher kurze Zigarette schon immer und den blauen Pferdekopf in der weißen Scheibe auf der weichen Packung, auch als ich noch nicht mit Rauchen angefangen hatte, vor meinem fünfzehnten Lebensjahr also. Ich konnte mich an all die Male erinnern, wenn mein Vater und ich mit dem Grorud-Bus von Veitvet zum Carl Berners Platz fuhren und die Kreuzung überquerten, um in die Tromsøgata zu kommen, wo wir in den 21er Bus stiegen, der damals noch ein Trolleybus war, gleich hinter dem Kino Ringen, nahe der Konditorei, in der mir meine Mutter fast fünfzehn Jahre später eine entscheidende Ohrfeige verpassen sollte. Von dort fuhr der Bus über die Dælenenggata hinauf zur Sannergata und in einem großen Bogen um das Zentrum von Oslo herum, und schließlich stiegen wir direkt am Eingang zum Bislett Stadion aus, um Vålerenga spielen und in dieser Saison die meisten Spiele verlieren zu sehen. Auf der Fahrt zwischen den Mietshäusern hindurch nach Bislett konnte man eine Reklame für Blue Master Virginia-Zigaretten sehen, die direkt auf eine Hauswand gemalt war, mit einem riesigen Pferdekopf, sie ging über die ganze Seitenwand, vier Etagen hoch, und bescherte meinem Körper ein gutes Gefühl, wie es nur ein kleiner Junge in kurzer Hose empfinden konnte, ein Zittern, eine Weitung der Lungen, ausgerechnet, die die Fantasie direkt in das weite Blau schickte, in die Hochebenen, hinauf in den ewigen Schnee.
Ich rauchte gern. Auch wenn ich heute, während ich dies schreibe, aus gutem Grund damit aufgehört habe, erinnere ich mich noch genau an die besten Zigaretten, sie beruhigten mich sofort, wenn mich die Rastlosigkeit überkam, und ich habe sie später im Leben unzählige Male vermisst.
An diesem Abend in der Storgata, im ersten Jahr nach Turids Abschied, entschied ich mich für den rechten Weg als den sichersten; es war der Stadtteil meines Vaters, und die Storgata war seine Hauptstraße, und so trat ich recht bald durch die Tür von Teddy’s, und das kleine Lokal war voll mit Menschen und grauem Zigarettenrauch bis unter die Decke, und es gab höchstens einen Stehplatz im Gedränge vor der Theke, wo ich einen doppelten Ballantine’s bestellte, aber doppelte waren nicht erlaubt, daher bekam ich zwei einfache mit Eiswürfeln darin, und ich nahm ein Glas in jede Hand, trat zwei kleine Schritte zurück, goss den einen Drink in den anderen, stellte das leere Glas dicht an einer Tischkante ab und blieb mit dem vollen Glas an der Brust im Gedränge stehen. Ich sah mich um. Es gab ein paar Männer, die ich grob einordnen konnte, aber nicht kannte, von den Frauen kannte ich keine. Ein paar von ihnen sahen aus, als wären sie ohne Begleitung da, aber ich fand sie nicht attraktiv, fühlte mich nicht zu ihnen hingezogen, und außerdem war es zu eng im Lokal, es wäre mühsam, nahe genug an sie heranzukommen, und ich dachte, tja, das war’s dann wohl.
Ich leerte das Glas sehr schnell und spürte, wie der Whisky den Brustkorb wärmte. Es war ein sehr willkommenes und angenehmes Gefühl, darum blieb ich trotzdem stehen und bestellte einen weiteren Ballantine’s, diesmal einen einfachen, on the rocks, und trank ihn langsam und wartete darauf, dass vielleicht etwas passierte.
An der Wand war eine kleine Bühne aufgebaut, wo offensichtlich jemand spielen sollte, der Platz reichte knapp für einen roten Stuhl auf dem Podium und ein niedriges Mikrofon und ein Stativ mit einer Westerngitarre, die an eine PA-Anlage angeschlossen war, mit nur einem Lautsprecher. Vermutlich war das der Grund dafür, dass es im Teddy’s mitten in der Woche so voll war, weil jemand spielen sollte, eine lokale Größe vielleicht, aber ich war nicht gekommen, um jemanden spielen zu hören. Ich trank aus und stellte das Glas auf die Theke und dachte, Zeit zu gehen, da klopfte mir jemand auf die Schulter. In dem Gewimmel konnte das wer auch immer sein, ich stand vermutlich Leuten, die aufs Klo wollten, im Weg, aber so war es nicht, es war Randi. Wir waren in den Siebzigern zusammen in der Roten Jugend gewesen, hatten in derselben Fabrik gearbeitet, in verschiedenen Abteilungen, und wir hatten eine Weile engen Kontakt gehabt, auch nachdem sie in der Fabrik aufgehört hatte und ich immer noch dort arbeitete, aber ich hatte sie lange nicht gesehen und war mir sicher gewesen, sie sei aus Oslo weggezogen. Hallo Arvid, sagte sie. Hallo Randi, sagte ich. Bist du allein, fragte sie. Ich sah sie an. Ja, sagte ich, bin ich. Du bist doch wohl nicht geschieden, sagte sie lachend, für sie war es wohl ein lustiger Gedanke, ich mache nur Spaß, sagte sie und lachte erneut, aber ich lachte nicht, und da hörte sie auf zu lachen. Bist du, fragte sie, ist das wahr, dann entschuldige, ich habe nur einen Witz gemacht. Meinetwegen kannst du gern Witze machen, sagte ich, es ist nicht deine Schuld, ich wäre auch geschieden, wenn du keine Witze machen würdest. Aber ihr wart doch immer zusammen, sagte sie, ihr habt alles zusammen gemacht. War das so, fragte ich. Ja, sagte sie, oder etwa nicht. Hm, sagte ich, daran erinnere ich mich nicht. Aber, sagte Randi, ich weiß noch genau, wie ich am Fenster stand und euch vorbeilaufen sah, die Straße vom Advokat Dehlis Platz hinunter zur Bentsebrua, um dort in den 20er-Bus zu steigen, ihr habt immer so gut ausgesehen, habt Händchen gehalten, von allen, die ich kannte, hielt niemand auf der Straße Händchen, sagte Randi. Stimmt das, sagte ich, ja, sagte Randi, weißt du das nicht mehr. Nein, sagte ich, das weiß ich nicht mehr. Ich wusste aber sehr genau, wie wir einmal vom Kreisel zur Brücke gelaufen waren, an einem Sonntag, wir wollten mit Bus und U-Bahn nach Groruddalen, um bei ihren Eltern zu essen, aber wir hielten nicht Händchen, wir stritten uns, und mehr noch. Es war eine Bagatelle, die plötzlich außer Kontrolle geraten war, ich verstand nicht warum und wollte sie beenden, ich wollte da raus, aber ich wusste nicht wie, wir waren wie zwei Fahrradreifen in einer Straßenbahnschiene, und ich fand es unheimlich, mit ihr zu streiten, denn sie kannte keine Angst, was für mich nicht galt, und es fehlte nicht viel, und unter meinen Füßen hätte sich eine Falltür aufgetan. Aus Verzweiflung ballte ich die Hände zu Fäusten und nahm sie hoch, und das wirkte wohl bedrohlich, denn sie sagte, hast du vor, mich zu schlagen, hast du vor, mich zu schlagen, und dann boxte sie mir plötzlich in den Bauch, ziemlich fest sogar, aber ich hatte nicht vorgehabt, sie zu schlagen, warum sollte ich sie schlagen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, seit der Grundschule hatte mich niemand mehr geschlagen, und damals schlug ich immer zurück, das hatte ich von meinem Vater gelernt, schlag immer zurück, sagte er, sonst verlieren sie den Respekt, aber das konnte ich jetzt nicht, und ich wollte es auch nicht, und plötzlich hatten wir eine Grenze überschritten, und auf der anderen Seite kannte ich niemanden. Sollte ich nach Hause gehen, das wäre verständlich, wenn auch nicht heldenhaft. Ich blieb stehen, aber ich tat nichts, sagte nichts, und sie mit ihrem verschlossenen, abgewandten Gesicht und ich mit der Brust auf dem schmiedeeisernen Geländer und unter mir der nach dem Regen rauschende Bach von der Fabrik Lilleborg durch die Stromschnelle an der Werkstatt Myra hinunter zur Stadt und zum Fjord. Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen könnte, ich wusste nicht, welche Worte ich benutzen sollte, die nicht katastrophal, endgültig, nahezu lebenszersetzend wären, und es kann gut sein, dass es damals schon vorbei war. Vigdis war noch nicht einmal auf der Welt.
Roten Jugend