Hanser E-Book

 

HERTA MÜLLER

 

HUNGER UND SEIDE

 

Essays

 

 

Carl Hanser Verlag

 

Die Erstausgabe erschien 1995 im Rowohlt Verlag

 

 

ISBN 978-3-446-24966-0

© Carl Hanser Verlag München 2015

Umschlag und Foto: Peter-Andreas Hassiepen, München

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Greiner & Reichel, Köln

 

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Kreutzfeldt digital, Hamburg

INHALT

Von der gebrechlichen Einrichtung der Welt.

Rede zur Verleihung des Kleist-Preises 1994

 

EINS

 

Und noch erschrickt unser Herz

Schmeckt das Rattengift

Zehn Finger werden keine Utopie

 

ZWEI

 

Hunger und Seide. Männer und Frauen im Alltag

Das Ticken der Norm

Der Einbruch eines staatlichen Auftrags in die Familie.

Frauentag und Diktatur

 

DREI

 

Lügen haben kurze Beine – die Wahrheit hat keine.

Das wahre Engagement in der Fälschung

Soldaten schossen in die Luft – die Luft war in den Lungen. Temeswar nach der Revolution

ER und SIE. Armut treibt die Menschen an Ceauşescus Grab

Der Staub ist blind – die Sonne ein Krüppel.

Zur Situation der Zigeuner in Rumänien

 

VIER

 

Die Tage werden weitergehen

Auf die Gedanken fällt Erde

 

Quellennachweise

 

 

VON DER GEBRECHLICHEN

EINRICHTUNG DER WELT

 

Rede zur Verleihung des
Kleist-Preises 1994

 

Man liest bei Kleist, wie die Welt weder im Wissen noch im Fühlen zu erfahren ist. Wie alles aufeinander hilflos angewiesen und einander ausgeliefert ist. Wie es sich selber aussucht, was vom Äußeren im Kopf innen stehenbleibt. Wie es im Stehen schläft und schlafend immer nach sich selber horcht. Und es horcht so, dass man ihm erliegt. Ob man, was das Leben ausmacht, durch sich selber oder durch andere erfährt, ob man es als Schweigen für sich behält oder als Satz aus dem Schädel hinausschickt, es kann seinen Ausgangspunkt nicht behalten, seine eigene Absicht nicht einlösen. Es gibt für das, was das Leben ausmacht, keinen Durchblick. Nur gebrechliche Einrichtungen des Augenblicks. Und Zurechtlegungen, die nicht bis zum nächsten Schritt halten.

 

Als ein sieben Jahre altes Kind damals am Dorfrand mit dem Pferd in den Fluss ritt, badeten im gleichen Wasser viele Kinder. Sie hatten die Sonne auf dem Kopf und nichts als ihre Haut an. Sie sahen eine Weile neidisch auf das Kind, das auf dem Pferd ins Wasser kam. Der Bauch des Pferdes glänzte, schon bevor er nass war.

Als das Pferd mitten in den Schlingen des Flusses dieses Kind von seinem Rücken abwarf und unter seinen Hufen zu Tode trat, sah niemand hin. Der Neid der Kinder war längst vorbei, jedes von ihnen schon längst mit seiner eigenen nassen Haut beschäftigt. Und dennoch waren alle dabei, als das Pferd dieses Kind unterm Wasser zu Tode trat. Auch der Vater des Kindes war dabei. Er stand am Ufer und schaufelte Sand. Er nützte den späten Sommer und baute ein Haus, das man im Winter, der bald kam, bewohnen konnte.

Erst als der Sand auf den Wagen geschaufelt war, sah der Vater im Fluss sein Pferd ohne Kind. Er schwamm in all seinen Kleidern und tauchte. Wenig später trug er das tote Kind ans Ufer und legte es hin.

Ein paar Kinder sahen damals, dass ein Mensch in einem Augenblick altern kann: Das Haar dieses Mannes wurde in der Schnelle eines Augenaufschlags grau. Ein Dutzend Augenpaare sahen alles, was geschah. Dennoch hatten die Kinder nichts gesehen, von dem sie hätten sagen können, wie es vor sich ging. Es war der offenste Vorgang und die glatteste Täuschung in einem gewesen, wie sich das Leben dieses Mannes so ähnlich und ganz anders als der Tod seines Kindes bis zum Ende streckte.

Der Vorgang zeigte alles und nicht mehr, als wenn sich jemand vor den Augen mit einem einzigen Handgriff eine graue Decke überwirft, die es vor dem Handgriff noch nicht gab.

Dann führte der grau gewordene Mann das Pferd aus dem Wasser und band es mit dem Strick an einen knotigen Holzapfelbaum. Dann nahm er die Axt vom Wagen und schlug dem Pferd auf die Stirn. Die kleinen, schiefen Äpfel fielen vom Baum. Das Pferd sah zwischen den Schlägen der Axt, bis es umfiel, Auge in Auge den Mann an. Und er schlug auf die liegende Stirn, bis sie brach. Der Mann konnte nicht aufhören, bis sein Entsetzen sich in Hieben verausgabt hatte. Erst dann kam der Schmerz, der ihn lähmte.

Alle blieben stumm. Nur das Wasser hörte man rauschen. Die Axt hörte man schlagen, aber viel zu leise für das, was sie tat. Die Äpfel hörte man fallen. Das Pferd hörte man Schreie zerbeißen, aber diese hörten sich zu klein an im Vergleich zu einem so großen Tier, das getötet hatte. Niemand störte den Mann mit der Axt.

Es war selbstverständlich und gerecht, dass jetzt auch das Pferd starb. Denn wer konnte und wollte begreifen, dass hier ein Tier nach Menschenmaß bestraft wurde. Dass dies Pferd weder gut noch böse, sondern jenseits der Tat und ein Pferd war. Weil das Pferd lebte und das Kind tot war, wusste man, dass ab nun das Pferd alle Tage an genau der Stelle auf der Welt stehen würde, wo das tote Kind fehlte. Und das durfte nicht sein. Jeder Hieb der Axt zeigte mehr, woraus ein Pferdekopf bestand.

Als draußen im Sand unterm Holzapfelbaum Knochen und Hirn durcheinanderlagen, war die Einrichtung des Pferdekopfes zerstört. Eine Einrichtung zum Lastenziehen und Grasfressen war es, was da lag. Eine andere gab es in diesem Kopf nicht. Also war diese zum Lastenziehen und Grasfressen auch die Einrichtung zum Töten.

So kam es, dass ich schon sehr früh ein Bild von einem Pferd in meinem Kopf trug, das sich von Kleists fechtendem Bären unterscheidet. Der Bär bleibt Kreatur. Er kann Auge in Auge mit dem Mann so schauen, als ob er die Seele des Menschen darin lesen könnte. Am Holzapfelbaum sind Mann und Pferd auf die Seele des anderen nicht mehr neugierig. Für die Schläue des Bären und Menschen, die einander gleichermaßen hereinlegt und schont, ist es zu spät. »… dass in dem Maße, als in der organischen Welt die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt«, ist nicht mehr zu erwarten. Diese Vorstellung hat sich in den folgenden Zeiten – und leider nicht nur eines Pferdes wegen, das ein Kind getötet hat – ihre Gültigkeit selber abgesprochen. Wo sich bei Kleist, »wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder einfindet«, da gelangte die Welt nach dem Nationalsozialismus und nach dem Stalinismus nie mehr hin. Ich hätte auf die Suche nach dieser Unschuld gehen können, aber sie hätte nichts genützt. Denn gezeugt worden war ich nach dem Zweiten Weltkrieg von einem heimgekehrten SS-Soldaten. Und hineingeboren worden war ich in den Stalinismus. Der Vater und die Zeit – beides Tatsachen, die das Sich-wieder-Einfinden der Grazie unwiederbringlich machen.

 

Was nützte es ab diesem Tag, als das Pferd ein Kind getötet hatte, dass man in diesem Dorf immer noch sagte: Jedes Geschöpf dieser Welt ist gut, so wie es ist. Über dieses Pferd konnte das, gerade als es darauf ankam, niemand sagen. Und was nützte der Aberglaube, der ab diesem Tag immer noch sagte: Aus einem neuen Haus muss jemand hinaus. Er gab auf die Frage, warum das Kind starb, eine Antwort, die das Pferd aus dem Spiel ließ und das neue Haus erwähnte. So war dieser Tod eine Notwendigkeit.

Das Recht des Pferdes, ein Geschöpf zu sein, und die Antwort des Aberglaubens mussten damals zurückgewiesen werden. Beides darf nur innerhalb des Lebens gültig bleiben, da wo es schwer ist, aber immer noch um etliches leichter als der Tod.

In dem Satz: »Jedes Geschöpf dieser Welt ist gut, so wie es ist«, in diesem Satz ist das Wort »Geschöpf« aus Rücksicht gemacht. Aber es gab die Wörter »Geschöpf« und »Kreatur« noch ganz anders: »dieses Geschöpf« oder »diese Kreatur«, über einen Menschen gesagt, galt sowohl in der deutschen Dorfsprache als auch in der rumänischen Landessprache als harte Beschimpfung.

Selbst Pflanzen waren nicht mehr für sich da. Die lebenden Zäune aus Thuja oder Tannen wuchsen um die Häuser der Macht. Sie blieben auch da immer grün. Sie behüteten etwas, was für die meisten Menschen im Land nicht zu ertragen war. Sie waren aus der Reihe der Pflanzen übergelaufen zum Staat. Und nicht nur sie, auch die roten Nelken, auch die roten Rosen. Sie hielten Farben, Formen, Düfte hin und schmückten die Auftritte der Macht. Die Mächtigen hatten zwar Pflanzen missbraucht, aber nur, weil diese Eigenschaften hatten, die sich missbrauchen ließen. Herrschende haben dafür einen Sinn. Was sie für sich nahmen, konnte für mich nicht mehr in Frage kommen. Und was sie bekämpften, wurde mir lieb. Mir blieb keine eigentliche Wahl, mir Menschen oder Dinge, die ich mag, wirklich selber auszusuchen. Ich konnte immer nur auf das zurückgreifen, was die Herrschenden sich noch nicht genommen hatten. Das war ein Ausgangspunkt, sogar der einzige.

Wenn Ceauşescu zu seinen unzähligen Arbeitsbesuchen ins Land geflogen oder gefahren wurde, mussten Bauern in mühseliger Arbeit die Blüten des Klatschmohns aus den Weizenfeldern entfernen. Der Herrscher, der in seiner Person mehr als ein Volk darstellte, sagte man, der Herrscher werde, wenn er Klatschmohn sehe, nervös. Wenn er eine LPG besuchte, wurden die Kühe mit Waschmittel gewaschen. Wenn man jedoch durch das saubere Fell, weil die Körper so mager waren, alle Knochen sah, wurden die Kühe versteckt. Es gab für alle Besuche des Herrschers eine gutgenährte Herde, die, kurz bevor er kam, auf die Weide gestellt wurde. Die Leute nannten diese Kühe Präsidentenkühe. Sie waren die vielen Transporte gewohnt, kamen mit den zahllosen Umsiedlungen zurecht. Wo immer man sie hingestellt hatte: sie blieben gemütlich unterm Himmel stehen und fraßen sofort von dem Gras, das sie vorher nie gesehen hatten. In den Städten wurden, wenn Ceauşescu kam, im Spätsommer die ersten gelben Blätter der Linden mit grüner Farbe gespritzt.

Was bleibt da noch Natur, wo das geschieht. Selbst die Landschaften werden zu Ländereien, die der Macht Schönheit bieten oder vortäuschen. Auch wenn hie und da vor den Füßen ein Stückchen liegt, das vom Staat noch nicht besetzt ist, traut man ihm nicht.

Maos Leibarzt hat seine Memoiren geschrieben. Darin steht, dass sein Herrscher und Patient Mao, wenn er im Land unterwegs war, in den großen Flüssen badete. Es war jedesmal lebensgefährlich. Vor den Reisen fragte er seine Leibwächter, ob das Baden angebracht sei. Wenn einer der Wächter Bedenken hatte, entließ Mao ihn. Die Leibwächter, die Maos Baden bedenkenlos zugestimmt hatten, begleiteten ihn bei jedem Bad in die Strudel des Wassers. Sie hatten eine Todesangst für Maos Leben und eine für ihr eigenes Leben im Falle, dass Mao ertrinkt. Denn in der Vorstellung des Regimes badete Mao nicht im Wasser, sondern in ihren Händen.

Nachdem sich Mao die Menschen zu bedingungslos Untertänigen dressiert hatte, sagte ihm sein Größenwahn, dass auch die größten Flüsse Chinas es nicht wagen würden, ihn zu ertränken.

Im Unterschied zu Mao hatte Ceauşescu umso mehr Angst vor der Revolte der Materie – des Staubs, der Luft, des Wassers –, je untertäniger die Menschen durch Dressur geworden waren. Er nahm sich auf seine Reisen in einer Zisterne Badewasser mit. Er hatte Angst vor Bakterien, Viren und Mikroben und zog täglich neue Kleider aus luftdicht verschweißten Plastiksäcken an. Er fürchtete die Revolte des Frosts und trug Heizbatterien, wenn er im Winter in die Wälder auf Jagd ging.

Sein Blick wurde auch meiner: Er fürchtete die Natur, und ich zürnte ihr, weil sie ihm das, was er fürchtete, nicht antat. Nicht nur das Pferd am Holzapfelbaum und die rote Nelke waren Komplizen. Auch das Erdbeben im Land. Die Paläste der Macht blieben unangetastet, die Mächtigen verschont. Die gewöhnlichen, ärmeren Häuser und Leute wurden erschlagen.

Meine Freundin war an diesem Tag nach Bukarest gefahren, um ihren Freund, der dort studierte, zu treffen. Sie stieg ab in einem kleinen Hotel und legte ein paar Sachen aus der Reisetasche in den Schrank. Anders als in Kleists Erdbeben von Chili trafen die beiden Liebenden sich nie wieder. Eine Stunde vor der Verabredung stürzte die Zimmerdecke ein. Meine Freundin starb vor dem Waschbecken. Die Hinrichtung war das Erdbeben selbst. Der Bruder dieser Toten, der sie ein paar Tage später in der langen Reihe der Leichen in einer Turnhalle suchen und identifizieren musste, sagte zu mir: »Man glaubt es nicht, sie lag da mit der Zahnbürste in der Hand. An der Zahnbürste war kein Haar gekrümmt. An ihrer Strumpfhose war keine einzige Masche gelaufen. Nur sie war tot.« Bei ihrer Beerdigung dachte ich mir, als die Erdklumpen auf den Sarg fielen: Dieser verfluchte Erdhügel wird nicht halten. Aber er hielt, wurde ziemlich hoch und ziemlich viereckig unter den Schaufeln der Totengräber.

Eine Woche später hingen in meinem Schrank die Kleider der Toten. Ihr Bruder wollte, dass ich sie trage. Ich trug sie. Am liebsten ihre weiche, zyklamenrote Jacke mit langem Haar, weil die mir am meisten wehtat.

Seit diesem Erdbeben wusste ich, dass Gegenstände die Eigenschaft haben, Menschen zu überleben. Und dass das nicht sein dürfte. Jedes Wasserglas, das nicht aus der Hand fallen gelassen wird, jeder Schuh, der nicht mit den Füßen durchgelaufen wird, jede Scheibe Brot, die nicht von einem Mund gegessen wird, wird Menschen überleben. Dieser Gedanke verfolgte mich. Ich wehrte mich dagegen und blieb hilflos lächerlich, wenn ich ein Glas fallen ließ, eine Schuhsohle durchgelaufen hatte oder eine Scheibe Brot aß. Diese Gegenstände wussten sowenig davon wie das Pferd am Holzapfelbaum. Und dennoch glaube ich noch heute, dass es, auch wenn man nichts erreicht, nötig ist, sich dagegen zu wehren. Nicht durch böse Absicht gelingt es den Gegenständen zu überleben, sondern durch ihre Beschaffenheit. Die Einrichtung des Glases, uns Wasser an den Mund zu halten, die Einrichtung des Schuhs, uns den Fuß zu schonen, die Einrichtung der Brotscheibe, uns den Hunger zu nehmen, ist – jede für sich – auch die Einrichtung, uns zu überleben.

 

Weil in der Diktatur das, was man sagt, verschweigt, tut oder unterlässt, viel mehr als ohne sie, zu etwas anderem wird, zeigt sich die gebrechliche Einrichtung der Welt völlig nackt. Sie leistet sich das Rudimentärste an Banalität. Sie kommt entwürdigend einfach durch sich selber aus, ohne jedwede Philosophie oder Psychologie. Das geht so:

Da möchte ich am Nachmittag ins Kino gehen. Ich probiere am Lichtschalter, ob Strom ist. Es ist Strom. Ich schalte, obwohl ich ins Kino gehe, das Licht nicht aus, damit die Wohnung, wenn ich wiederkomme, nicht dunkel ist. Als ich am Kino ankomme, ist kein Strom mehr. Darum gehe ich ohne einen Film im Kopf durch die Stadt. Vor einer Ladentür steht eine Schlange um Salami an. Da fällt mir ein, dass ich schon lange keine Salami gegessen habe. Darum stelle ich mich an. Da stehe ich anderthalb Stunden und höre, kurz bevor ich an der Reihe bin, dass die Salami alle ist. Darum gehe ich ohne Salami in der Hand weiter durch die Stadt. Das Kreuz auf dem Kirchturm oben steht im leeren Himmel und kommt mir vor wie der Absatz eines verlorenen, umgekehrten Stöckelschuhs. Darum gehe ich in einen Schuhladen und stehle dort einen Schuh, den ich zu nichts gebrauchen kann. Darum gehe ich mit einem Schuh in der Hand wieder durch die Stadt nach Hause. Als ich auf dem geraden Weg zu meiner Wohnung hinter dem Fenster das Licht brennen sehe, bin ich überzeugt, dass dort schon längst jemand anderes wohnt. Als ich die Wohnung betrete, wundere ich mich dennoch nicht, dass niemand da ist außer mir. Nur, das Bild, das, als ich wegging, an der Wand hing, liegt auf dem Bett. Der Nagel steckt fest in der Wand.

 

Es ist immer noch so, wie Kleist sagt: Vorne ist »das Paradies verriegelt«, und »wir müssen die Reise um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist«. Ja, wir müssen. Aber da, wo vorne Diktatur ist, kann auch irgendwo hinten nichts mehr offen bleiben. Das kalte Zerrbild im Kopf, das Kirchenkreuz als verlorener Stöckelschuh, ist genauso wirklich wie das Bild, das von der Wand aufs Bett gelangt ist. Man mag das Bild im Kopf für erfunden halten, weil es poetisch besticht. Aber es ist wie das Bild auf dem Bett ein Produkt dessen, was der Diktatur zu verrücken gelungen ist.

 

Zu der Geschichte des Pferdes, das getötet hat, gibt es ein Vorspiel.

a) Das Pferd meines Großvaters wurde während des Ersten Weltkrieges eingezogen. Es war Soldat wie mein Großvater selber. Das stimmt mit dem Pferd am Holzapfelbaum überein.

b) Das Pferd überlebte den Krieg nicht. Mein Großvater überlebte den Krieg. Das stimmt mit dem Pferd am Holzapfelbaum nicht überein.

c) Mein Großvater bekam für das gefallene Pferd einen Totenschein. Er lag in der Schublade. Mein Großvater las aus dem Totenschein laut vor, wann und wo sein Pferd gefallen war. Es gab in der Zeit, als er mir vorlas, eine Nachbarin, die seit über zwanzig Jahren halb auf ein Lebenszeichen und halb auf einen Totenschein wartete. Ihr Mann war während des Zweiten Weltkriegs eingezogen worden als Soldat. Im Vergleich dazu war der Totenschein des gefallenen Pferdes fast ein Lebenszeichen.

Es gab, seit ich geboren war, in all den Jahren, als der Totenschein des gefallenen Pferdes in der Schublade lag, in anderer Leute Schubladen auch Totenscheine. Darauf stand: natürlicher Tod. Die Toten waren gestorben in Arbeitslagern, Gefängnissen oder an der Landesgrenze auf der Flucht. Jedes Wort auf diesen Totenscheinen war gelogen. Im Vergleich dazu war der Totenschein des gefallenen Pferdes ein Lebenszeichen.

EINS