Die Angaben in der Nachbemerkung folgen weitgehend dem Lektüreschlüssel Antoine de Saint-Exupéry: Le Petit Prince, von Roswitha Guizetti, Stuttgart: Reclam, 2009 (Universal-Bibliothek Nr. 15413), und dem Nachwort in: Antoine de Saint-Exupéry, Le Petit Prince, hrsg. von Ernst Kemmner, Stuttgart: Reclam, 2015 (Universal-Bibliothek Nr. 19894, Fremdsprachentexte).
Um von zu Hause wegzukommen, hat der kleine Prinz vermutlich den Zug eines Wildvogelschwarms genutzt.
Ich bitte die Kinder um Verzeihung, dass ich dieses Buch einem Erwachsenen widme. Ich habe jedoch einen guten Grund: Dieser Erwachsene ist mein bester Freund auf der Welt. Und ich habe noch einen Grund: Dieser Erwachsene versteht alles, sogar Bücher für Kinder. Und ich habe einen dritten Grund: Dieser Erwachsene lebt in Frankreich, und dort leidet er Hunger und Kälte. Da braucht er etwas, das ihn aufmuntert. Wenn all diese Gründe nicht reichen, dann widme ich das Buch eben dem Kinde, das dieser Erwachsene einmal gewesen ist. Alle Erwachsenen waren früher Kinder. Die meisten erinnern sich nur nicht mehr daran. Ich korrigiere also meine Widmung:
Für
den kleinen Jungen,
der Léon Werth
einst war.
Als ich sechs war, sah ich einmal ein wunderschönes Bild in einem Buch über den Urwald, das Wahre Geschichten aus der Natur hieß: eine Boa, die gerade ein Raubtier verschlingt. Ich habe das Bild oben nachgezeichnet.
Im Buch wurde erläutert: »Boas verschlingen ihre Beute ganz, ohne sie zu zerkauen. Anschließend können sie sich nicht mehr bewegen und müssen sechs Monate Verdauungsschlaf halten.«
Ich habe daraufhin viel nachgedacht über die spannenden Dinge, die im Dschungel passieren. Irgendwann gab ich mich dann selbst ans Zeichnen. Ich griff mir einen Buntstift und hatte bald mein erstes Bild fertig. Meine Zeichnung Nr. 1. Sie sah so aus:
[8]Ich zeigte mein Meisterwerk den Erwachsenen und fragte sie, ob meine Zeichnung ihnen Angst mache.
Sie antworteten mir: »Angst? Warum? Was ist denn so furchterregend an einem Hut?«
Dabei sollte meine Zeichnung gar keinen Hut darstellen. Sondern eine Boa, die einen Elefanten verdaut. Also habe ich das Innere der Boa gezeichnet, damit die Erwachsenen das Bild auch verstanden. Denen muss man nämlich immer alles erklären. Meine Zeichnung Nr. 2 sah so aus:
Da rieten mir die Erwachsenen, das Zeichnen von offenen und geschlossenen Boas zurückzustellen und mich lieber für Geographie, Geschichte, Rechnen und Grammatik zu interessieren. So kam es, dass ich im Alter von sechs Jahren eine wunderbare Karriere als Maler aufgab. Der Misserfolg meiner Zeichnung Nr. 1 und meiner Zeichnung Nr. 2 hatte mich entmutigt. Die Erwachsenen verstehen nie etwas von selbst, und es ist anstrengend für Kinder, ihnen immer und ewig alles zu erklären …
Ich musste also etwas anderes werden und erlernte schließlich den Beruf des Piloten. Ich bin so ziemlich überall in der Welt herumgeflogen. Und die Geographie, das stimmt schon, hat mir dabei gute Dienste geleistet. Ich konnte auf den ersten Blick China von Arizona unterscheiden. Das hilft einem sehr, wenn man sich einmal nachts verirrt.
[9]Ich bekam durch mein Metier haufenweise Gelegenheit, haufenweise ernsthafte Leute kennenzulernen. Ich habe viel Zeit unter Erwachsenen verbracht. Ich durfte sie aus nächster Nähe erleben. Das hat meine Meinung über sie nicht unbedingt verbessert.
Immer, wenn ich einem Erwachsenen begegnete, der mir ein wenig klarsichtiger erschien, machte ich mit ihm eine Art Experiment. Ich zeigte ihm meine Zeichnung Nr. 1, die ich sorgfältig aufbewahrt hatte. Ich wollte herausfinden, ob er wirklich verständig war. Doch stets antwortete mir der Erwachsene: »Das ist ein Hut.« Also redete ich mit ihm weder über Boas noch über Urwälder noch über Sterne. Ich stellte mich auf seinen Horizont ein. Ich sprach mit ihm über Bridge, über Golf, über Politik und über Krawatten. Und der Erwachsene freute sich, einem so vernünftigen Menschen begegnet zu sein …
So lebte ich denn allein, ohne irgendwen, mit dem ich richtig hätte reden können – bis zu jener bewussten Panne in der Sahara vor sechs Jahren. Der Motor meines Flugzeugs streikte. Da ich niemanden dabeihatte, keinen Mechaniker, keine Passagiere, musste ich mich ganz allein an die schwierige Reparatur machen. Es ging für mich um Leben oder Tod. Mein Trinkwasser reichte höchstens noch acht Tage.
Am ersten Abend bin ich also im Sand eingeschlafen, tausend Meilen von jeder bewohnten Gegend entfernt. Ich war viel einsamer und abgeschiedener noch als ein Schiffbrüchiger auf seinem Floß mitten im weiten Ozean. Da könnt ihr euch die Überraschung vorstellen, die mich ergriff, als mich bei Tagesanbruch eine seltsame kleine Stimme weckte. Sie sagte:
»Ach bitte … zeichne mir ein Schaf!«
»Hmm?«
»Zeichne mir ein Schaf …«
Wie vom Blitz getroffen sprang ich auf. Ich rieb mir gründlich die Augen. Ich schaute genau hin. Und da sah ich einen kleinen Burschen, einen äußerst sonderbaren allerdings, der vor mir stand und mich kritisch musterte. Ich habe ihn später oft darzustellen versucht; dieses Porträt hier scheint mir das gelungenste. Aber mein Bild ist natürlich längst nicht so bezaubernd wie das Modell. Ich kann nichts dafür. Mich haben die Erwachsenen, als ich sechs war, von meiner Malerkarriere abgebracht, und so konnte ich nichts anderes zeichnen als geschlossene Boas und offene Boas.
Ich habe ihn später oft darzustellen versucht; dieses Porträt hier scheint mir das gelungenste.
Ich starrte mit großen, staunenden Augen auf diese [12]Erscheinung. Vergesst nicht, ich befand mich tausend Meilen von jeder bewohnten Gegend entfernt. Mein kleiner Mann schien sich jedoch weder verlaufen zu haben, noch wirkte er halbtot vor Erschöpfung, vor Hunger, vor Durst oder vor Angst. Er machte ganz und gar nicht den Eindruck eines mitten in der Wüste verirrten Kindes, tausend Meilen von jeder bewohnten Gegend entfernt. Als ich endlich reden konnte, fragte ich ihn:
»Aber … wie kommst du denn hierher?«
Da wiederholte er ganz leise, und es klang nach einem höchst ernsthaften Anliegen:
»Bitte … zeichne mir ein Schaf …«
Wenn etwas Geheimnisvolles einen gar zu sehr überwältigt, wagt man keinen Ungehorsam. So albern mir das tausend Meilen von jeder bewohnten Gegend entfernt und in einer lebensgefährlichen Lage auch vorkam: Ich zog ein Blatt Papier und einen Füllfederhalter aus meiner Tasche. Da freilich erinnerte ich mich, dass ich in erster Linie Geographie, Geschichte, Rechnen und Grammatik gelernt hatte, und sagte zu dem kleinen Mann, inzwischen schon etwas mürrisch, dass ich nicht zeichnen könne. Er antwortete nur:
»Spielt keine Rolle. Zeichne mir ein Schaf.«
Da ich noch nie ein Schaf gezeichnet hatte, fertigte ich wieder einmal eine der beiden einzigen Zeichnungen, die ich beherrschte – die mit der geschlossenen Boa. Und ich war völlig verdutzt, als der kleine Mann mir entgegnete:
»Nein, nein! Ich will keinen Elefanten in einer Boa. Eine Boa ist sehr gefährlich, und ein Elefant nimmt zu viel Platz weg. Bei mir zu Hause ist alles ganz klein und eng. Ich brauche ein Schaf. Zeichne mir ein Schaf.«
[13]Also zeichnete ich.
Er schaute mir aufmerksam zu, bemerkte dann aber:
»Nein. Das ist schon sehr krank. Mach ein anderes.«
Ich zeichnete:
Mein Freund lächelte lieb und voller Nachsicht.
»Du siehst wohl selbst … das ist kein Schaf, das ist ein Widder. Es hat Hörner …«
Also fertigte ich noch eine Zeichnung.
Doch sie wurde abgelehnt wie die anderen zuvor:
»Das ist zu alt. Ich will ein Schaf, das noch lange lebt.«
Nun verlor ich die Geduld, zumal es allmählich Zeit wurde, dass ich meinen Motor auseinandernahm. Also zeichnete ich dies:
Dazu brummte ich:
»Das ist eine Kiste. Das Schaf, das du dir wünschst, liegt da drin.«
Doch zu meiner großen Überraschung hellte sich das Gesicht meines jungen Kunstrichters auf:
»Genau so habe ich es gewollt! Glaubst du, dieses Schaf braucht viel Gras?«
[14]»Warum?«
»Weil bei mir zu Hause alles ganz klein ist …«
»Es reicht bestimmt. Ich habe dir ein ganz kleines Schaf geschenkt.«
Er beugte sich über die Zeichnung:
»Aber auch nicht zu klein … Ach, schau! Es ist eingeschlafen …«
So habe ich den kleinen Prinzen kennengelernt.
Es dauerte eine Weile, bis ich herausfand, woher er kam. Der kleine Prinz stellte mir zwar jede Menge Fragen, schien meine aber nie zu hören. Nur was er so nebenbei sagte, hat mir nach und nach alles enthüllt. Als er beispielsweise zum ersten Mal mein Flugzeug sah (mein Flugzeug zeichne ich jetzt nicht – das würde meine Zeichenkünste doch zu sehr überfordern), fragte er mich:
»Was ist denn das für ein Dings?«
»Das ist kein Dings. Das fliegt. Das ist ein Flugzeug. Es ist mein Flugzeug.«
Und mit einigem Stolz gab ich ihm zu verstehen, dass ich die Kunst des Fliegens beherrschte. Da rief er:
»Ach so – aber trotzdem bist du vom Himmel gefallen?«
»Ja«, erwiderte ich verlegen.
»Ist ja komisch!«
Und der kleine Prinz musste ganz schön lachen, was mich doch sehr ärgerte. Ich möchte, dass man mein Missgeschick ernst nimmt. Schließlich fuhr er fort:
»Dann kommst du also auch vom Himmel! Von welchem Planeten bist du denn?«
Ich ahnte die Möglichkeit, etwas Licht in das Rätsel seiner Anwesenheit zu bringen, und beeilte mich nachzuhaken:
[16]»Du kommst also von einem anderen Planeten?«
Der kleine Prinz auf dem Asteroiden B 612.
Aber er antwortete mir nicht. Zwar nickte er leicht, schaute dabei aber zu meinem Flugzeug hin.
»Schon klar; mit dem Ding da kannst du nicht von allzu weit herkommen …«
Und er versank in ein längeres Gedankenspiel. Dann zog er mein Schaf aus seiner Tasche und vertiefte sich in die Betrachtung seines Schatzes.