Fee-Christine Aks
Requiem für eine Elster
Roman
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Inhalt
Prolog
Sonntag, 18. Oktober 2015.
Montag, 19. Oktober 2015.
Dienstag, 20. Oktober 2015.
Mittwoch, 21. Oktober 2015.
Donnerstag, 22. Oktober 2015.
Freitag, 23. Oktober 2015.
Epilog
StrandtGuth
Mehr von der Autorin?
Impressum neobooks
Requiem für eine Elster
Ein StrandtGuth-Krimi
von
Fee-Christine Aks
1. Auflage September 2016
Copyright © 2016 Fee-Christine AKS
All rights reserved.
ISBN: 1516826337
ISBN-13: 978-1516826339
Für Dirk und die Kunst der Liebe
"La vie se termine, l’amour continue"
(französisch für „Das Leben endet, die Liebe dauert an“)
"Tremblez tyrans, et vous perfides
L’opprobre de tous les partis,
Tremblez! Vos projets parricides
Vont enfin recevoir leurs prix!"
(Auszug aus der französischen Nationalhymne Marseillaise)
Requiem aeternam dona eis, Domine.
Et lux perpetua luceat eis.
In memoria aeterna erit justus.
Pie Jesu, Domine, dona eis requiem.
(Auszug aus der kirchlichen Totenmesse)
Vorbemerkung
Paris ist die Hauptstadt Frankreichs, aber auch die Hauptstadt der Liebe, eine Metropole der Haute Couture und eine wahres Mekka für Kunstfreunde mit weltberühmten Museen wie dem Louvre oder dem Musée d’Orsay. Die Autorin verbringt gern Zeit dort und fühlt sich bei Kunstgenuss, (Window-)Shopping und französischer Küche wahrlich ‚wie Gott in Frankreich‘. Grund genug, in dieser außergewöhnlichen Stadt einen Kriminalroman spielen zu lassen. Selbst wenn Orte, Straßen o.ä. aus dem Stadtalltag genannt werden, so ist dies jedoch ausdrücklich keine wahrhaftige Aussage über Frankreich, die Stadt Paris oder ihre Bewohner.
Der in diesem Roman beschriebene bretonische Ort Coteau du Soleil ist fiktiv, ordnet sich aber geografisch irgendwo zwischen Penvénan, Tréguier und Buguélès ein.
Diese Geschichte ist frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit noch lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind zufällig und unbeabsichtigt.
Samstag, 17. Oktober 1942.
Bereits als er durch die Tür schlich, spürte er, dass etwas nicht in Ordnung war. Die Stille im Haus war zu groß, selbst für ein ausgebombtes Gebäude. Der Wind hätte lauter durch die Fensterhöhlen heulen sollen, ein leises Ächzen der Wände wäre zu erwarten und hier und da ein leichtes Knacken der Bodendielen.
Denn durch den Treffer war die Stabilität des gesamten Hauses gefährdet – ein Grund mehr, warum er sich beeilen musste. Doch irgendwie war alles seltsam irreal. Oder bildete er sich das Ganze nur ein? War er mit Taubheit und Blindheit geschlagen, ausgerechnet in dieser Nacht? Er wusste es nicht.
Aber Pierre wusste genau, wo er zu suchen hatte. Es würde nicht ganz einfach sein, in den Keller hinunter zu steigen und in den Nachbarkeller zu gelangen um das Material zu bergen. Dennoch musste er es tun, sie brauchten den Nachschub; und nirgendwo in der Gegend gab es solch gutes Material wie im Keller des Hauptquartiers der Pétainisten.
Die Nähe der Feinde war ein Nervenkitzel, der ihm das Adrenalin in den Adern brodeln ließ. Aber das war genau das, was er für den Erfolg brauchte. Er war ein Musketier und hatte seine Pflicht zu erfüllen, für Frankreich. Wie immer hatten sie diese Aktion sorgsam geplant und vorbereitet. Pierre wusste, dass niemand im Keller sein würde; nur Claude und Jules langweilten sich oben bei der Nachtwache. Dank zweier Flaschen Bordeaux mit einer ordentlichen Portion Schlafmohn darin würden die beiden Brüder jedoch schon im Schlaf liegen, während er unten im Keller eine Kiste nach der nächsten in den Nachbarkeller verschob. Jean-Michel und André warteten bereits darauf, die Beute auf den Wagen zu laden und abzutransportieren.
Dennoch stellten sich ihm die Nackenhaare auf, als er am Fuß der eingestürzten Kellertreppe ankam und kurz ein Streichholz aufflammen ließ, um den Weg zur Wand des Nachbarkellers zu finden. Überall lagen Holz und Mauersteine herum, die aus den oberen Stockwerken bis in den Keller herunter gefallen waren.
Der Staub, der sich über alles breitete, war dick nach den beinah zwei Jahren, seit die deutschen Panzer in das Dorf eingerollt waren und mit unmissverständlicher Konsequenz die Trikolore aus den Fenstern des ehemaligen Rathauses geschossen hatten.
Vorsichtig stieg Pierre über die Trümmer und bahnte sich seinen Weg zur Wand des Nachbarkellers, in der ein Loch von der Größe eines Schrankkoffers prangte. Es hatte sie eine Woche und mehrere Flaschen präparierten Château Rochefort für die lästige Nachtwache oben gebraucht, um das Loch zu vergrößern, damit die Munitionskisten hindurch passen würden. Pierre lauschte in die Dunkelheit hinein und hielt den Atem an, bevor er ein weiteres Streichholz entflammte und durch das Loch hindurchleuchtete.
Niemand war zu sehen. Dafür sah Pierre die gestapelten Kisten mit dem verhassten Symbol und den drei scheinheiligen Worten darauf – Travail, Famille, Patrie. Wo waren sie geblieben, die Schlagworte der französischen Revolution? ‚Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‘ waren schmählich verraten und zu ‚Arbeit, Familie, Vaterland‘ geworden. Und Jules, Claude und der alte François gehörten zu den Verrätern.
Umsichtig stieg er durch das Loch in den Lagerraum hinüber und vergewisserte sich, dass es genau die zehn Kisten waren, die sie ins Auge gefasst hatten. Er begann mit einer der kleineren, in der sich Munition für Armeepistolen befand. Zurück am Fuße der Kellertreppe ließ er erneut ein Streichholz aufflammen, um Jean-Michel und André ein Zeichen zu geben. Pierre hörte sie herunterkommen, als er bereits wieder durch das Loch kletterte, um die nächste Kiste zu holen.
Stumm arbeiteten sie Hand in Hand bis weit nach Mitternacht mit so wenig Licht und Geräuschen wie möglich. Einmal schickten sie André hinauf, um nach Jules und Claude zu sehen. Grinsend kam er zurück und berichtete mit zwei Daumen in die Höhe und einer eindeutigen Kopfbewegung, dass beide Brüder tief und fest schliefen. Die Weinflaschen standen auf dem Tisch zwischen ihnen, leer bis auf zwei Schlucke.
Pierre grinste zufrieden, als er den Papierschnipsel mit dem Romantitel auf die verbleibenden Kisten legte, in denen sich dem Transportschild nach zu urteilen Panzerfäuste befanden.
Sie hatten im Vorfeld lange debattiert, ob sie auch diese Waffen zu ihrer Beute machen sollten, sich dann aber dagegen entschieden. Pistolen und Gewehre hatten bisher ausgereicht; außerdem konnte man mit ihnen besser und viel schneller davonlaufen, im Fall der Fälle.
André grinste und vollführte pantomimisch eine Armbewegung, die an Degenfechten erinnerte, während Jean-Michel einen imaginären Federhut in elegant tiefer Verbeugung abnahm. Wäre Armand heute dabei, so hätte er seinen Dolch gezückt und damit den Papierschnipsel an den nächsten Holzbalken gespießt. Doch Armand war kein Musketier mehr, jedenfalls kein freier Kämpfer für die Gerechtigkeit. Und so mussten sie heute zu dritt agieren – Athos, Aramis und ihr Freund d’Artagnan – und mit einem blutigen Kreuz aus drei Strichen signieren. Es war ihr Markenzeichen und ein Affront gegen die Verräter Frankreichs.
Mit der letzten Kiste, in der sich Munition für Gewehre befand, stieg er hinter Jean-Michel durch die Ruine nach oben und lud den Rest ihrer Beute auf den Wagen, an dessen Steuer André bereits wartete. Sie schoben den Wagen die sanft abfallende Straße hinter dem Haus hinab und starteten den Motor erst, als sie mehr als dreihundert Meter entfernt und durch eine Kurve außer Sichtweite vom Haus der Kommandantur waren.
Sie sprachen kein Wort, aber sie warfen sich ein Grinsen zu, als sie den Wagen aus der Ortschaft hinaus und mit ausgeschalteten Scheinwerfern bis zu ihrem Versteck in der alten Scheune im Wald fuhren. Zwei ihrer Kameraden warteten bereits auf sie und luden die Beute ab, bevor einer von ihnen den Wagen nahm und damit zurück auf seinen Bauernhof in der nächsten kleinen Ortschaft fuhr.
Zu Fuß ging Pierre kurz darauf querfeldein neben André her durch die sternenklare Nacht, die von der schmalen Sichel des jungen zunehmenden Mondes nur sehr mäßig erhellt wurde.
Jean-Michel hatte sich an der Wegkreuzung am Fuße des Hügels von ihnen verabschiedet, um durch die Wiesen zu seinem kleinen Steinhaus am Rande des nahgelegenen Küstenörtchens zurückzukehren; ins Château würde er mit Rücksicht auf Claires Familie und das Netzwerk erst zurückkehren können, wenn die schändlichen Verräter nicht mehr die Oberhand hatten. Und auch Pierre hoffte, dass dies möglichst bald eintreten möge.
Er ging beschwingt von ihrem Erfolg heute Nacht und freute sich darauf Marie wiederzusehen, die seit der Hochzeit vor fünf Wochen zu ihm und seiner Großmutter gezogen war. Es erschien ihm immer noch wie ein Traum, dass sie nun für immer Teil seines Lebens sein würde.
Sie war die beste Frau, die er sich hätte wünschen können. Sie war die Schönste, die er je gesehen hatte – mit herrlichem Lockenhaar in leuchtendem Kastanienbraun und großen schokoladenbraunen Augen, in denen er versinken konnte. Vor neun Jahren war sie mit ihren Eltern aus Paris zu ihren Verwandten gezogen und damit zu ihnen ins kleine bretonische Dorf auf dem Sonnenhügel gekommen. Sie war damals kaum elf Jahre alt, als er mit seinen zwölf Jahren gerade beschlossen hatte, niemals zu heiraten und Mädchen blöd zu finden. Ein Blick auf sie – und es war um ihn geschehen gewesen.
Jeder hatte über sie gesagt, dass sie das schönste Mädchen und später auch die schönste Frau der ganzen Gegend, der ganzen Bretagne und womöglich gar des ganzes Landes sein mochte. Natürlich hatte sie viele Verehrer gehabt, aber sie hatte ihnen nie mehr als ein Lächeln geschenkt; denn ihr Herz hatte sie an ihn vergeben – damals, bei jener ersten schicksalhaften Begegnung im Mai 1933.
In manchen Momenten hielt er es immer noch für ein Wunder, dass sich dies wundersame Geschöpf, die kleine Cousine von André, ausgerechnet in ihn verliebt hatte. Wenn er hätte wetten sollen, dann hätte er auf Jean-Michel getippt; aber der hatte sich vor drei Monaten mit Claire Rochefort verlobt.
André begann leise zu pfeifen, als sie die Felder verließen und durch das kleine Waldstück gingen, das am Fuße des Hügels lag, auf dem ihre Ortschaft thronte. Pierres Herz beschleunigte seinen Schlag. Das seltsame Gefühl, dass er verspürt hatte, als er in die Ruine hinab gestiegen war, kroch erneut in ihm hinauf, als sie den Hügel erklommen und die ersten Häuser ihrer Ortschaft in Sicht kamen. Auch André verlangsamte seine Schritte und blickte sich aufmerksam nach allen Seiten um. Etwas stimmte nicht.
Erst als sie den Dorfplatz erreichten und er das kleine Haus seiner Großmutter sah, wusste Pierre, was es war. Die Tür hing schief in den Angeln und auf der weiß getünchten Wand daneben prangte das Wort ‚Traîtres‘ – Verräter.
*****
Auf, Kinder des Vaterlands,
Der Tag des Ruhmes ist gekommen!
Gegen uns Tyrannei,
Das blutige Banner ist erhoben.
Zittert, Tyrannen und ihr Niederträchtigen
Schande aller Parteien,
Zittert! Eure verruchten Pläne
Werden euch endlich heimgezahlt!
*****
Herr, gib ihnen die ewige Ruhe,
und das ewige Licht leuchte ihnen.
In ewigem Gedenken lebt der Gerechte fort
Gütiger Jesu, Herr, gib ihnen Ruhe.
Carlotta Strandt erwacht ausgeruht und so entspannt wie lange nicht mehr. Mit einem wohligen Seufzer rollt sie sich in dem breiten Kingsize-Bett auf die Seite und öffnet langsam ihre schokoladenbraunen Augen.
Ein Blick aus dem bodentiefen Fenster bestätigt ihr, dass es kein Traum ist. Sie befindet sich tatsächlich in der Stadt der Liebe; denn deutlich sichtbar über den Dächern des sechsten und siebten Arrondissements auf der anderen Seite des Flusses ragt rechts neben der goldenen Kuppel des Invalidendoms der romantischste Stahlschrott der Welt in den hellrosa gefärbten Morgenhimmel.
Es ist ihr erster richtiger Urlaub in diesem Jahr, denn die Aufenthalte auf Malta im Sommer und auf einer kleinen schwedischen Insel im Frühjahr haben wenig von Entspannung und Abwechslung von Lottas Berufsalltag als Kommissarin bei der Hamburger Polizei gehabt.
Darüber hinaus ist es an der Zeit, ihre auf etwas wackligen Beinen stehende Beziehung zu Moritz zu festigen. Und ein Trip nach Paris soll laut ihrer besten Freundin Susanna Eberhardt wahre Wunder wirken.
Vielleicht hat Sanna aber auch nur ihre eigene Erfahrung mit Profi-Fotograf Alex Chambers als Anlass genommen, dieses Reiseziel vorzuschlagen. Denn so sehr die Werbe-Layouterin es bisher immer zu verschleiern versucht hat, sie ist und bleibt eine unheilbare Romantikerin, geboren um wie eine Prinzessin behandelt zu werden. Und genau das ist es, was Alex seit vier Monaten tut – einschließlich Begleitung zu ‚Gigs‘ bei den French Open Ende Mai bis Anfang Juni, der Fashion Show Haute Couture im Juli und der Paris Fashion Week Ende September bis Anfang Oktober.
Lotta streckt sich genüsslich und tastet blindlings hinter sich, wo sie den warm und aufregend athletischen Körper von Moritz erfühlt, der tief und fest schläft nach einer Nacht voller Leidenschaft.
Es ist keine vierundzwanzig Stunden her, dass sie nach einem Direktflug mit der Billigtochter der größten deutschen Fluggesellschaft am Flughafen Charles-de-Gaulle aus einer Airbus-Mittelstreckenmaschine gestiegen und mit der Bahn zum Gare du Nord und dann mit der Metro weiter in die Innenstadt von Paris gefahren sind. Auch das Superior-Hotel am Place de la Concorde mit Blick auf die Seine, die Tuileriengärten und das Panorama jenseits des Flusses ist eine Empfehlung von Sanna gewesen.
Den Beginn des Pflichtprogramms für Touristen – Besteigung des Eiffelturms per Treppe, gefolgt von einer gemütlichen Bootsfahrt auf der Seine und einem sündhaft teuren Abendessen in einer namhaften Brasserie am Boulevard Saint-Germain – haben sie bereits gestern absolviert.
Für heute stehen der Invalidendom mit dem Grabmal Napoleons und ein ausgedehnter Besuch des Louvre auf dem Programm. Lotta fühlt bereits die leise kribbelnde Vorfreude, auch wenn sie sich ein bisschen über die Anspannung wundert, mit der Moritz diese Reise angetreten hat. Ob es daran liegt, dass er seine ersten Herbstferien seit seiner eigenen Schulzeit hat? Sie bekommt alles hautnah mit, denn seit Beginn des Schuljahres wohnt er auch offiziell bei ihr in Hamburg-Othmarschen und arbeitet als Referendar für Sport und Mathematik an einem altsprachlichen Gymnasium in der Nähe.
Vielleicht wird diese Woche Urlaub in Paris helfen, um sein Stresslevel wieder zu senken. Und wenn nicht, überlegt Lotta, wird sie ihnen nach ihrer Rückkehr in die Hansestadt einen Tag im Wellnesstempel an der Binnenalster spendieren und Moritz so rundum entspannt zurück in den Schulalltag schicken.
„Bon jour mon amour“, hört sie seine verschlafene Stimme in ihrem Rücken, gefolgt von einem herzhaften Gähnen. „Mann, was habe ich gut geschlafen.“
„Habe ich gehört“, grinst Lotta und ahnt seine Reaktion, noch bevor er anfängt sie zu kitzeln. Quiekend versucht sie ihm zu entkommen, doch er zieht sie mit sanfter Gewalt in seine Arme und bedeckt ihren Hals mit Küssen.
„Anflug von Erkältung“, brummelt er. „Normalerweise schnarche ich nicht.“
„Weiß ich doch“, seufzt sie und fühlt einen warmen Schauer über ihren Rücken kriechen, als eine seiner Hände unter der Bettdecke abwärts wandert und südlich ihrer Taille zu liegen kommt. „Wie wäre es mit Frühstück im Bett?“
„Ja, Appetit genug habe ich“, murmelt er, schon halb auf dem Weg hinab zum Ausschnitt ihres Satinnachthemdes. „Aber erst nach meiner Vorspeise…“
Kichernd steigt Lotta ein und beginnt ihrerseits, ihre Hände über seinen Körper gleiten zu lassen. Das Berühren seiner sportlich-schlanken Gliedmaßen jagt ihr einen anregenden Schauer nach dem nächsten über den Rücken; seine Küsse spürt sie bis tief in ihr Innerstes und erwidert sie mit aller Leidenschaft, zu der sie fähig ist.
Es fällt ihr zunehmend leichter, sich in seiner Gegenwart fallen zu lassen, seine Zärtlichkeiten zu genießen und ihrerseits ihn nach allen Regeln der Kunst zu verwöhnen, sodass sie einander mit jeder Berührung weiter reizen und in einen Strudel feuriger Lust versinken. Ihrer beider Appetit ist selbst nach vergangener Nacht so groß und glühend, dass es kaum eine halbe Stunde dauert, bis sie schwer atmend nebeneinander in den zerwühlten Laken liegen.
Mit dem Ohr auf seiner nackten Brust genießt Lotta das ermattete Streicheln ihrer Schulter, während sie dem sich nur langsam beruhigenden Herzschlag von Moritz lauscht. Fröhlich grinsend verabschiedet sie sich wenig später für eine erfrischende Dusche ins vornehm mit dunklem Marmor ausgekleidete modern eingerichtete Vollbad, während Moritz noch im Liegen per Haustelefon und in etwas eingerostetem Schul-Französisch zweimal kontinentales Frühstück mit Tee, Orangensaft und zwei Croissants extra bestellt.
Der Zimmerservice trifft ein, als Moritz gerade frisch geduscht mit einem Handtuch um die Hüften zurück ins Zimmer kommt, wo Lotta in Unterwäsche und frischem Poloshirt vom kleinen Balkon vor dem Fenster aus den Panoramablick auf das erwachende Paris genießt. Unten auf der Place de la Concorde beginnt sich eine mehr und mehr anwachsende Karawane von Autos um den Obelisken zu drehen und sich in alle Richtungen zu verstreuen.
Der Hotelangestellte erkundigt sich freundlich bei Moritz, ob auf dem Balkon gedeckt werden solle. Lotta nickt Moritz zu und zieht rasch ein Laken vom Bett, um ihre nackten Beine vor den Blicken des jungen uniformierten Mannes und der Kühle vor dem Fenster zu schützen.
Während der Zimmerkellner routiniert den Tisch aus weiß gestrichenem Metall eindeckt und Polster auf die filigranen Stühle legt, fährt Lotta rasch in Jeans und Cashmere-Pullover und reicht Moritz seine Jeans, die sie ihm vergangene Nacht in Sekundenschnelle ausgezogen hat.
„Les gazettes, Madame“, sagt der Hotelangestellte höflich und reicht Lotta ein Exemplar der größten französischen Tageszeitung sowie die Sonntagsausgabe der auflagenstärksten deutschen Boulevardzeitung.
„Merci“, antwortet Lotta, während Moritz dem Zimmerkellner im Vorbeigehen unauffällig einen Fünf-Euro-Schein als Trinkgeld in die Hand drückt.
Noch bevor der Uniformierte die Tür hinter sich geschlossen hat, ist Lotta schon sämtliche Textschnipsel der deutschen Titelseite durch. Bei einem Glas frisch gepresstem Orangensaft überfliegt sie wenig später den Rest der Zeitung, um die sie ansonsten immer einen weiten Bogen macht, die es aber offenbar an so ziemlich jedem Urlaubsort als deutsche Presse im Angebot gibt.
Die andere Zeitung ist weitaus gehaltvoller, aber trotz Lottas ganz passablen Schulkenntnissen der französischen Sprache etwas schwerer zu lesen. Dennoch kann sie den Inhalt mehrerer Artikel ausmachen, angefangen beim Leitartikel über ein wirtschaftliches Gipfeltreffen zwischen Frankreichs Präsident und der deutschen Bundesregierung und dem nationalen Aufmacher über die in Kürze bevorstehende Ehrung eines Helden der Résistance, der mit dem derzeitigen Bürgermeister von Paris verwandt ist.
Lotta blättert weiter und überfliegt Meldungen, in denen über einen Doping-Skandal bei einem ehemaligen Tour de France-Gewinner, die bevorstehende Ehrung der Britin Clarissa Sinclair mit dem französischen Filmpreis für ihren neuesten Film, die schmutzige Scheidung eines berühmten französischen Schauspieler-Ehepaars und über den Raub eines Monet-Gemäldes aus einer Londoner Galerie berichtet wird.
„Monet hat offenbar Saison“, murmelt Lotta und zeigt Moritz den Artikel auf der ersten Seite des Kulturteils. „Vor zwei Monaten wurde Die Waterloo-Brücke aus der Hamburger Kunsthalle gestohlen. Das Raubdezernat ist dran, hat aber, soweit ich weiß, noch keine Spur.“
„Jetzt hat es die National Gallery erwischt“, ergänzt Moritz nach einem Blick in den Artikel, „Die Themse unterhalb von Westminster.“
„Wenn ich mich richtig erinnere“, murmelt Lotta, „war da vor einiger Zeit auch ein Einbruch in einer Galerie in den USA. Die Beute war ebenfalls ein Monet, eines aus einer umfangreichen Serie seiner Öl-Gemälde vom Westminster-Palast, den ‚Houses of Parliament‘.“
„Klaut sich da jemand London durch die Augen von Claude Monet zusammen?“
„Möglich“, seufzt Lotta, „aber es interessiert mich nicht. Nicht mein Gebiet.“
„Und außerdem“, fügt sie zur Verstärkung des zufriedenen Ausdrucks auf dem Gesicht von Moritz hinzu, „bin ich nur eine überbeschäftigte Kommissarin beim Morddezernat. Soll sich das Raubdezernat drum kümmern, oder von mir aus auch Scotland Yard, das FBI oder Interpol. Ich habe Urlaub.“
*****
Es musste Stunden her sein, vielleicht auch Tage, seit er das Haus seiner Großmutter betreten hatte. Mit André dicht hinter sich hatte er einen vorsichtigen Schritt nach dem anderen gemacht, um nicht über die umgestürzten und zum Teil zu Bruch gegangenen Möbel zu stolpern. Er hatte ihre Namen gerufen, doch es war keine Antwort gekommen. Er hatte geahnt, was sie finden würden; aber es war dennoch ein großer Schock gewesen.
Gabrielle Lamie war eine Schönheit gewesen zu ihrer Zeit. Und sie war die beste Köchin zwischen Brest und Rennes, deren Mayonnaise zu diversen Gerichten mit Schalentieren legendär war. Es verwunderte sie daher nicht, dass sie Gabrielle in der Küche fanden.
Aber nichts auf dieser Welt hätte sie an diesem kalten Oktobertag 1942 vorbereiten können auf die Zerstörungswut und grausame Brutalität, die sich hier manifestierten. Gabrielle war eine sehr warme, herzensgute und fröhliche Frau gewesen. Nichts war davon übrig in der einst so gemütlichen Küche, in der sie nun auf dem großen Holztisch lag.
André musste ihn festhalten und mühsam auf einen Holzschemel setzen, denn der Anblick des gebrochenen und geschändeten Körpers war zu viel für Pierre. Er brauchte nicht das blutige Gesicht mit den trüb gewordenen Augen sehen, nicht den zerrissenen und besudelten Saum ihres schief hängenden Kleides und auch nicht das Wort, das in ihre halb entblößte Brust geschnitten worden war.
Sie hatten beide eine ziemlich klare Vorstellung davon, wer sich hier ausgetobt hatte. Pierre spürte die Tränen kommen und war gleichzeitig erleichtert, dass Marie nicht hier war. Er verbot sich nachdrücklich, sich auch nur ansatzweise vorzustellen, was die Pétainisten mit ihr gemacht hätten. Denn seine geliebte ‚Taube‘ Marie wusste, wer er wirklich war.
Er hatte sie nicht einweihen wollen, doch eines Nachts hatte sie es zwangsweise herausgefunden, als er mit einer Streifschusswunde nach Hause gekommen und gleich hinter der geschlossenen Haustür zu Boden gesunken war.
André stützte ihn mitfühlend, als Pierre Anstalten machte aufzustehen, und half ihm hinüber in die Wohnstube, die genauso verwüstet war wie der Rest des Hauses. Während er auf der Ofenbank versuchte wieder zu Sinnen zu kommen, verschwand André um im oberen Stockwerk nachzusehen. Er kam zurück und schüttelte stumm den Kopf; doch dabei hielt er etwas in die Höhe, das Pierre erst auf den zweiten Blick als die Titelseite ihres Lieblingsromans von Alexandre Dumas erkannte. Quer über den Titel Les trois mousquetaires war etwas mit roter Tinte oder Blut geschrieben, das Pierre einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte.
„Sie wissen es“, murmelte André, „sie wissen, dass wir es gewesen sind.“
„Nein“, antwortete Pierre mit Tränen in der Stimme, „aber sie ahnen es.“
*****
Langsam wandert Philippe Brisac durch die weitläufigen Ausstellungsräume. Wie immer hängt eine riesige Traube Touristen – vor allem Asiaten – vor der im Vergleich zum hallenartigen Raum sehr kleinen ‚Mona Lisa‘.
Philippe interessiert sich jedoch nicht für die Italiener, auch wenn er an Tizian und Tintoretto vorbeikommt auf seinem Weg zu den französischen Meistern des neunzehnten Jahrhunderts.
Es gehört zu seiner Tradition, jeden Sonntag leise die Marseillaise summend im Louvre die Gemälde von Delacroix und David zu besuchen und in patriotischen Gefühlen zu schwelgen. Sein Lieblingswerk, die monumentale ‚Liberté guidant le peuple‘ von Eugène Delacroix, ist wie immer der Höhepunkt seines Streifzugs durch den hoch gewölbten und majestätisch breiten Korridor auf der flusszugewandten Seite des Palastkomplexes.
Direkt davor stehen zwei junge Leute in Jeans und Pullover, andächtig in den Anblick des berühmten Gemäldes versunken. Philippe kommt nicht umhin zu bemerken wie hübsch die junge Frau ist. Sie hat kurze kastanienbraune Locken und große rehbraune Augen, die ihn nicht nur an seine Lieblingsschauspielerin aus Frühstück bei Tiffany erinnert, sondern auch an die ‚Taube‘ von Coteau du Soleil und ein bisschen – Pierre muss schlucken – an Louise.
Es ist lange her, dass er an sie gedacht hat und an die gemeinsame Kindheit in dem kleinen Ort in der Bretagne. Sie ist das einzige Kind in seiner Grundschule gewesen, das freundlich zu ihm gewesen ist. Und es ist ausgerechnet Maurice gewesen, sein Intimfeind seit Kindertagen, der sie ihm weggenommen hat.
Die junge Frau, die Philippe an Louise Leroux erinnert, sagt leise etwas zu ihrem Begleiter, der nickend in derselben Sprache antwortet. Philippe ist erschrocken, die Sprache zu hören, die er jahrzehntelang mit seiner Schande in Verbindung gebracht hat. Er weiß aus den Nachrichten, dass im Geiste der europäischen Einheit besonders die französisch-deutsche Freundschaft gepflegt wird; für ihn ist es dennoch immer noch schmerzlich, da ihn jedes Wort über Deutschland an die Schmach seiner Kindheit und Jugend erinnert.
Seit jenem Paket von Eloise und den darauf folgenden Gesprächen mit ‚La Pie‘ und ‚Le Corbeau‘ weiß er mittlerweile, dass er all die Jahre falsch gelegen hat. Völlig umsonst hat er sich seiner Herkunft geschämt, wie man es ihm immer eingeredet hat. Die Vergangenheit, der Schmerz, die Ausgrenzung und der Hass – sie lassen sich nicht so leicht auslöschen wie ein Name; schon gar nicht, wenn diejenigen, die es besser wussten und es all die Jahre stillschweigend zuließen, dass er gequält wurde, immer noch an der Macht sind. Und so genießt Philippe das befriedigende Wissen, dass er sich nun endlich rächen wird an denjenigen, die tatsächlich Schande über sein Dorf gebracht haben.
Langsam wandert er weiter, dem jungen Paar hinterher, dass nun den Weg zur ‚Mona Lisa‘ einschlägt, sich aber nicht wie all die Japaner bis zur Barriere nach vorne drängt, sondern im weiten Bogen hinter der Traube aus schlitzäugigen Touristen an Leonardo da Vincis berühmtem Gemälde vorbeigeht – wohl um zu sehen, ob La Joconde ihnen wirklich mit den Augen folgt.
Ein Läuten erschreckt die Besucher. Philippe zuckt ebenfalls kurz zusammen, auch wenn er sofort feststellt, dass es nicht das schrille Geräusch des Alarms ist, den unvorsichtige Touristen oftmals bei akrobatischen Fotos vor dem wohl berühmtesten Gemälde der Welt unbeabsichtigt auslösen. Ein Blick auf seine Armbanduhr sagt Philippe, dass alles ganz harmlos ist und das Museum in zehn Minuten schließen wird.
Gemütlich geht er mit den Japanern zum Ausgang und steht auf der Rolltreppe unter der Glaspyramide hinter dem jungen Paar, das er vor ‚seinem‘ Delacroix gesehen hat. Sie unterhalten sich auf Deutsch, weshalb er nur versteht, dass sie zu Fuß zu einem Restaurant in einer Seitenstraße des Boulevard Saint-Germain gehen wollen.
Philippe ist erstaunt, dass sie sich ausgerechnet ‚sein‘ Restaurant ausgesucht haben, das eigentlich nur unter Parisern ein Geheimtipp ist und seit 2007 von seiner Tochter Marie-Louise und deren Partner Raoul geführt wird.
‚Aber die Deutschen‘, denkt er mürrisch, ‚die annektieren ja alles, was gut ist.‘
Und das schließt neben Restaurants mit erschlichenen Michelin-Sternen auch die Kunst und nationale Helden ein, was er jetzt, da er die Wahrheit kennt, ins rechte Licht rücken lassen wird.
Er grinst stumm in sich hinein. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass Bürgermeister Édouard Ardant nicht darauf eingehen sollte, hat er immer noch ein stechendes Ass im Ärmel – sein Wissen um die wahre Vergangenheit der Vorfahren von Édouard.
Als er auf den Cour Carrée hinaus tritt und die kühle Abendluft in seinen nicht geschlossenen Mantel fährt, überlegt er kurz, ob er direkt nach Hause in die Rue de Beaune gehen oder doch wie jeden Sonntag Marie-Louise und dem Le Rayon de Soleil einen Besuch abstatten soll.
Eigentlich behagt es ihm ganz und gar nicht, sich dort in Gegenwart zweier Deutscher eine herzhafte Galette au saumon mit Salat der Saison, Baguette und Cidre schmecken zu lassen. Andererseits, wer ist er denn, dass er sich ausgerechnet von ‚Boches‘ seinen traditionellen Sonntagabend vermiesen lässt?
Schweren Herzens wendet er sich am Ufer der Seine nicht nach links, um zur Pont du Carrousel und nach Hause zu gehen. Stattdessen geht er geradeaus und hinter dem Pärchen her über die Pont des Arts hinüber zum Quai de Conti, wo er sich nach rechts wendet und nach kaum dreißig Metern nach links in eine schmale Straße einbiegt, die ihn zur Rue de Seine führt.
Hin und wieder wehen ein paar Worte in der verhassten Sprache zu ihm, von denen er nur Panthéon, Saint-Sulpice und Jardin du Luxembourg verstehen kann. Offenbar planen die beiden ihre ‚Sightseeing-Tour‘, auf der sie auch das Musée du Luxembourg, die Orangerie mit Monets Wasserlilien und natürlich das Musée d’Orsay besuchen wollen.
Amüsiert grinst Philippe in sich hinein, als er daran denkt, was sich dort für ein potenzieller Skandal verbirgt, der sein ‚Plan B‘ ist, sollte Édouard nicht auf seine Forderung eingehen. Egal, wie er es betrachtet: es wird die perfekte Rache sein – Rache für Überheblichkeit, Machtbesessenheit und Verrat.
*****
Es war leicht gewesen, beinah zu leicht. Unwillkürlich hatte Renard sich gefragt, ob er zu unvorsichtig sei, zu leichtsinnig. Hatte er sich dieses Mal übernommen und zu sehr auf seine sprichwörtliche List verlassen?
Die Versuchung war groß gewesen, der Ansporn, die Herausforderung genau das, was er benötigte für das Festigen seines Rufes als der Beste der Besten. Auch wenn er ahnte, dass er sich auf ein gefährliches Spiel eingelassen hatte, war er auf den Handel eingegangen. Er glaubte an sich und seine Schlauheit, die ihn schon in den vergangenen Monaten begleitet und abgesichert hatte; aber dieses Fehlen von Schwierigkeiten war seltsam, beinah verdächtig. Wohl war es seiner genauen Planung zu verdanken, aber es bescherte ihm doch wie immer ein seltsames Gefühl in der Magengrube.
Als er nun auf dem asphaltierten Bürgersteig in der Rue de Verneuil landete und den Blick nach links zur fernen Straßenecke der Rue du Bac wandte, klopfte sein Herz so schmerzhaft gegen die Innenseite seines Brustkorbes, dass er schon fast glaubte, es würde jeden Moment herausspringen wollen.
Er zwang sich zur Ruhe. Alles war gut. Niemand hatte ihn bemerkt, keiner sah in der Abenddämmerung an den herrschaftlichen Fassaden der alten Stadthäuser empor und erst recht nicht bis hinauf zu den Dächern des 7. Arrondissements. Nur eine flügellahme Taube war ihm begegnet, als er sich ein zweites Mal in die Luft geschwungen hatte und auf dem nächsten Dach gelandet war.
Nun stand er am Fuße der Feuerleiter im Schatten der Hauswand und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch sein kurz geschnittenes rotbraunes Haar. Die schwarze Maske, die Handschuhe und die Spezialschuhe zum Klettern hatte er sicher verstaut in einem schwarzen Müllsack, den er außer Sicht hinter dem Container deponierte, von dem er wusste, dass er erst in drei Tagen geleert werden würde; genug Zeit für Auguste, den Sack unauffällig abzuholen. Renard war es zufrieden, er hatte alles bedacht, alles an seinem Plan war bis ins letzte Detail durchdacht.
Nur diese Visitenkarte, damit hatte er nicht gerechnet. Es war ein Schock für ihn gewesen, ein Schlag ins Gesicht. Aber dann hatte er einfach weitergemacht. Es konnte auch nur eine Finte sein, eine Herausforderung seines Konkurrenten, des größten seit Le Filou aus dem Verkehr gezogen war. Er würde es wissen, wenn er etwas Zeit hatte, seine Beute in Ruhe zu überprüfen. Und wenn sich herausstellen sollte, dass man ihn erneut gelinkt hatte, dann… ja, was dann?
Er seufzte, prüfte den Verschluss seiner schwarzen Blouson-Jacke und wandte sich nach rechts zur Rue des Poitiers, den schwarzen Rucksack amerikanischen Fabrikats lässig über der Schulter und die schwarze Baseballkappe leicht schief und tief in die Stirn gezogen, ein Fachbuch der Ökonomie unter den Arm geklemmt. Wer ihn sah, würde ihn für einen Studenten halten, der – vielleicht von einem Lernbesuch kommend – der Metro zustrebte.
Das war sein Plan, unauffällig bleiben und in der Masse untertauchen, auch wenn hier gerade wenig los war. Er warf einen prüfenden Blick über die Schulter und konnte am Ende der Straße gerade noch drei junge Leute über die Rue de Lille schlendern sehen, Richtung Museum. Sie beachteten ihn nicht.
Mit einem zufriedenen Lächeln wandte er sich um, bog in die Rue de l’Université ein und schritt beschwingt die nächste Querstraße linker Hand hinauf, die ihn zum breiten Boulevard Saint-Germain bringen würde.
Doch als er gerade um die Ecke biegen und mit großen Schritten die Stufen zur Metro-Station Solférino hinuntersteigen wollte, bemerkte er seinen Verfolger. Der Mann war plötzlich aufgetaucht, wie ein Geist aus der Hauswand geglitten, so schien es jedenfalls. Und der Verfolger kam näher.
Mit der scheinbaren Leichtigkeit eines Studenten auf dem Nachhauseweg nahm Renard die letzten Treppenstufen und tauchte vollends ein in den typischen Mief der Metro-Stationen. Er ging schnell, denn er wusste, dass die nächste M12 gleich in die Station einfahren würde.
Vielleicht schaffte er es, seinem Verfolger davon zu fahren. Doch als sich leise die Türen schlossen, sah er den Umriss seines Verfolgers im nächsten Waggon. Er trug Hut und Mantel, ein unauffälliger Passant mit dem nötigen Kleingeld, um sich einen sauber gestutzten Schnurrbart mit leicht hochgezogenen Spitzen stehen zu lassen. Wenn er statt des Hutes eine Baskenmütze und zur Gauloise eine Tüte mit Baguette unter dem Arm gehabt hätte, so wäre er das perfekte Klischee eines in die Jahre gekommenen Pariser Junggesellen gewesen.
Auch wenn der Monsieur dort drüben eher schmal gebaut war, so war selbst durch die Scheiben der benachbarten Waggons die Gefahr zu spüren, die von ihm ausging. Der Verfolger sah nicht direkt zu ihm, aber Renard wusste und fühlte sich beobachtet. Es war sein Instinkt, der Instinkt eines Fuchses.
Unwillkürlich fasste er den Schulterriemen seines Rucksacks fester und starrte auf den Streckennetzplan, der über ihm an der Waggonwand hing. Wo sollte er hin? Unter diesen Umständen konnte er es nicht wagen, zum verabredeten Treffpunkt zu fahren – jedenfalls nicht direkt.
Die Metro hielt an der nächsten Station – Rue du Bac. Renard spähte vorsichtig umher und sah seinen Verfolger beschwingt aussteigen – und gleich wieder einsteigen; dieses Mal jedoch in seinen Waggon. Hinter dem Mann in Hut und Mantel schob sich eine beleibte dunkelhäutige Frau mit Kinderwagen und einem Kleinkind an der Hand herein. Sie quetschte den Mann in Hut und Mantel zur Seite, sodass dieser sich zwischen die anderen Fahrgäste zwängen musste, um nicht vom Kinderwagen zerdrückt zu werden.
Kurz entschlossen machte Renard einen Schritt zur Tür, die sich gerade zu schließen begann. Es gelang ihm gerade noch hinauszukommen. Er drehte sich nicht um, sondern lief mit weit ausgreifenden Schritten zum nächsten Ausgang. Er sprang die Treppen hinauf und stand kurz darauf auf dem Boulevard Raspail. Er wusste, dass es jetzt nur darauf ankam, möglichst viel Raum zwischen sich und seinen Verfolger zu bringen, der in diesem Moment wohl gerade innerlich fluchend mit der Metro bis zur nächsten Station Sèvres-Babylone fahren musste. Konnte er es unter diesen Umständen doch wagen, sich direkt – und zu Fuß, wohlgemerkt – zum geplanten Zwischenstopp zu begeben?
Gerade als er den Entschluss gefasst hatte und sich anschickte, an der nächsten Ampel den Boulevard Saint-Germain zu überqueren, sah er hinter sich in der Menge der Passanten einen Hut aufblitzen. Vor Schreck wäre er beinah mitten auf der breiten Straße gestolpert.
Hastig nahm er sich zusammen und eilte nach rechts, den Boulevard hinunter in Richtung Saint Germain des Près. Doch nach einem kurzen Blick zurück über die Schulter änderte er seinen Plan und duckte sich – verborgen von einer Gruppe japanischer Touristen – auf Höhe der Rue de Luynes nach links in eine kleinere Seitenstraße. Dann lief er los, dicht im Schatten der Hauswände und im rekordverdächtigen Tempo, und erreichte kaum eine Minute später sein Ausweichziel.
*****
Nachdenklich sieht Mathilde Rouget in den regnerischen Morgen hinaus. In der Rue de Beaune ist um diese frühe Uhrzeit kaum ein lebendes Wesen zu sehen. Nur Monsieur Brisac von gegenüber ist bereits auf den Beinen und sogar schon beim Bäcker in der Rue de Lille gewesen; denn er trägt eine weiße Papiertüte mit einem Baguette unter dem Arm, als er die grüne gestrichene Haustür aufschließt und dahinter verschwindet.
Es dauert ein paar Minuten, aber dann kann Mathilde hinter den Gardinen des bodentiefen Fensters der Wohnung im ersten Stockwerk Bewegung ausmachen und einen Blick auf die kleine Küche erhaschen, als Monsieur Brisac für die Dauer von fünf Sekunden den Vorhang zur Seite zieht um das Fenster auf Kipp zu stellen. Wie immer hebt er kurz die Hand und winkt, auch wenn er Mathilde hinter den Gardinen ihres Küchenfensters im zweiten Stockwerk nicht sehen kann. Aber er weiß, dass sie dort sitzt und die Straße beobachtet.
Er weiß auch, dass es noch eine halbe Stunde dauern wird, bis Mathilde in den engen Fahrstuhl steigen, hinunter ins Parterre fahren und zum Supermarkt in der Rue de Bac gehen wird. Denn heute ist Montag, Ruhetag im Museum.
Erst morgen wird Mathilde wieder den halben Tag in dem prachtvollen Bau an der Rue de la Légion d’Honneur verbringen und unter der historischen Bahnhofsuhr als ehrenamtliche Aushilfe beim Beaufsichtigen der Besucher unterstützen. Wie jeden Montag freut sie sich auf den Beginn der neuen Woche, Dienstag bis Sonntag – und auf ihren täglichen Morgen-Rundgang durch die Ausstellung, die sie immer besonders lange bei Renoir und natürlich bei Monet verweilen lässt.
Mit einem leichten Ächzen lässt sie sich in ihren Sessel zurücksinken und nimmt die Zeitung auf, die sie stets nur am Montag erhält und nach dem Frühstück mit entkoffeiniertem Kaffee, Croissant und Erdbeermarmelade liest.
Der Leitartikel handelt von einem bilateralen Treffen zwischen dem Staatspräsidenten und der deutschen Kanzlerin, die sich mit einer kleinen Abordnung der jeweiligen Wirtschaftsministerien im Schloss Versailles über ein neues Handelsabkommen austauschen. Mathilde kann sie sich regelrecht vorstellen, wie sie durch den großen Spiegelsaal gehen und sich in einem der mit Seidentapeten ausgekleideten Salons niederlassen. Ob etwas Vielversprechendes bei diesen Gesprächen herauskommt, wird sich wohl erst nach einiger Zeit zeigen.
In weitaus näherer Zukunft ist, dem kurzen Artikel im unteren Teil der Titelseite zufolge, mit der Ehrung eines weiteren Résistance-Kämpfers durch den Staat zu rechnen. Es verwundert Mathilde nicht im Geringsten, dass es sich dabei um einen weiteren Angehörigen der Familie Ardant handelt.
Kaum eine Woche im Amt hat der neue Bürgermeister Édouard Ardant bereits im April vergangenen Jahres versucht, seinem einen Monat zuvor im Alter von fünfundneunzig Jahren verstorbenen Vater die Ehrung als Held der Résistance posthum zu verleihen.
Da dies nicht zum Erfolg geführt hat, probiert er es jetzt offenbar mit seinem Onkel, der gut zwanzig Jahre lang Stadtkämmerer gewesen ist, bevor er Anfang der Achtziger Jahre von einem anarchistischen Attentäter angeschossen und querschnittsgelähmt in den Rollstuhl gebracht worden ist.
Kopfschüttelnd blättert Mathilde weiter. Die Ardants sind sich wohl für nichts zu schade. Nicht genug damit, dass sie seit mehr als fünfzig Jahren hohe Ränge in Politik und Militär innehaben; sie tun sich auch hervor als Veranstalter extravaganter Partys und sehr öffentlichkeitswirksame Mäzene der Pariser Kunstszene. Die Gemäldesammlung in ihrem Landhaus in der Bretagne zählt zu den bedeutendsten des Landes. Ob an den Gerüchten, dieser Schatz sei teilweise unter nicht ganz legalen Umständen zusammen getragen worden, etwas dran ist oder nicht – es würde Mathilde nicht verwundern, auch wenn es sie nicht im Geringsten interessiert.
Bemerkenswerter ist da die zweite César-Nominierung von Clarissa Sinclair, der mehrfachen Oscar-Preisträgerin aus Großbritannien, für ihren neuesten Film La Rose Parisienne, eine europäische Kinoproduktion mit Drehorten in Paris, Berlin und London, die in den letzten Monaten auch hier in der Stadt für Schlangen an den Kinokassen gesorgt hat. Mathilde überfliegt das kurze Interview mit der Britin, die sich bescheiden und sehr sympathisch gibt, wenngleich sie sich kritisch über die französischen Filmfestspiele und die umstrittenen Preisträger äußert – fast alle sind Protegés der Familie Ardant.
Auf den nächsten Seiten der Zeitung findet sich nichts, das Mathildes Blick für mehr als einen kurzen Moment stocken lässt. Sie interessiert sich nicht für den neuesten Sport-Skandal, der nach einem Radsportprofi nun auch einen jungen Schwimm-Star, einen alternden Fußballspieler von Olympique Marseille sowie einen erfolgreichen Mehrkämpfer des Dopings überführt.
Auch der Verdacht, dass die Jury bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes bestochen worden ist, hält Mathilde nicht länger auf als ein paar Sekunden. Sie will die Zeitung schon zuschlagen, als ihr Blick auf die Randspalte der letzten Seite fällt, in der Notizen aus aller Welt abgedruckt sind.
Meisterwerk gefälscht
New York City. Nach dem dreisten Einbruch in das Metropolitan Museum of Art ist nun ein weiterer Monet als Fälschung entlarvt worden.
Das Meisterwerk Houses of Parliament, Sunlight Effect (1903) aus der französischen Sammlung des Brooklyn-Museum stammt ebenso wie das aus dem MET entwendete Werk gleichen Namens aus Claude Monets Londoner Phase als Teil einer Serie von achtzehn verschiedenen Ansichten des britischen Parlaments im Westminster-Palast.
Experten des FBI haben weiterhin keine heiße Spur noch stichfeste Hinweise auf den oder die Täter, denen es auch gelungen ist, ein Monet-Gemälde aus derselben Serie aus der National Gallery of Art in Washington, D.C., zu entwenden.
Seufzend greift Mathilde zu ihrem Handarbeitskorb, der wie immer auf einem kleinen Tischchen neben ihrem Sessel steht. Vorsichtig befreit sie eine Schere und schneidet den Artikel aus, um ihn zu den anderen in den Ordner zu heften.
Auch wenn sie nur in der Verwaltung der Pariser Polizei gearbeitet hat, so hat sie sich doch stets für Fälle mit Kunstfälschung oder Kunstdiebstahl interessiert. Bei den Querverweisen mit bunten Klebe-Etiketten stockt sie kurz; ‚Monet‘ und ‚Fälschung‘ sind einfach zuzuordnen, aber wer ist es gewesen – ‚Le Filou‘, ‚J‘, ‚Gustave‘, ‚Renard‘ oder jemand ganz anderes?
Fälschung passt eigentlich eher zu ‚Le Filou‘, wenn der Artikel Recht hat, den sie vor einigen Jahren im Figaro gelesen hat. Aber der höchst geschickte Kunstdieb ist nach einer legendären Karriere in England von Scotland Yard gefasst und zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt worden.
Monet gehört zur Lieblingsbeute von ‚J‘, aber der hinterlässt bei seinen Coups keine Fälschungen. ‚Gustave‘ ist nach Mathildes Recherchen spezialisiert auf Picasso, Dalí und moderne Kunst bis zu einer Größe von zweieinhalb Metern.
Im Gegensatz dazu nimmt ‚Renard‘ offenbar alles mit, was er bekommen kann. Jedenfalls kann Mathilde ihm mehr als zwölf Diebstähle in den vergangenen drei Jahren zuordnen, bei denen Picasso, Chagall, Gauguin, Cézanne, Turner, Liebermann, Nolde, Klee, Renoir, Manet und Monet gestohlen worden sind. Die meisten davon sind in Privatsammlungen in Südamerika, Russland und Arabien oder bei Zollkontrollen in Frankfurt, London und Stockholm wiedergefunden worden, nachdem jemand der Polizei des jeweiligen Landes einen nur mit einer Vogelfeder signierten Tipp gegeben hat.
Drei Gemälde – alle von Monet – sind nach Zahlung eines sechsstelligen Lösegeldes an die Museen und Galerien zurückerstattet worden. Erst danach hat sich herausgestellt, dass es sich um Fälschungen gehandelt hat: an unauffälliger Stelle signiert mit ‚MagPiᶒ‘, der in Mathildes Sammlung der Meisterfälscher ist. Wie in der Krimi-Komödie mit Audrey Hepburn und Peter O’Toole, die in Paris eine Statuette stehlen, hat der Gemäldefälscher nicht nur authentische Leinwand, Farben und Firniss verwendet, sondern auch ‚Dreck‘ und andere Aspekte für die Echtheitsbestimmung meisterlich zu imitieren verstanden.
Nachdenklich zupft Mathilde an den bunten Etiketten und entscheidet sich zum Schluss für die weiße Sorte, auf die sie mit dem wasserfesten Stift ein schlankes Fragezeichen malt. Die weißen Etiketten nehmen Überhand in letzter Zeit, weil sie Fälle betreffen, in denen sowohl Fälschungen gefunden aber auch Gemälde – allesamt von Monet – entwendet wurden, die später unter ganz ähnlichen Umständen wie bei den ‚Renard‘-Fällen durch anonyme Hinweise gefunden werden konnten, sich aber wiederum alle als hervorragende Fälschungen von ‚MagPiᶒ‘ herausgestellt haben.
Als sie den dicken Ordner zuklappt und wieder ins Regal neben dem Tischchen mit dem Handarbeitszeug schiebt, schlägt die Uhr siebenmal. Leise ächzend drückt Mathilde sich aus dem Sessel empor und schüttelt wie immer nach dem Sitzen kurz jedes Bein, um die Blutzirkulation zu verbessern. Es ist Zeit für sie zum Einkaufen zu gehen.
Während sie sich den Mantel anzieht, das Kopftuch sorgsam auf ihrem lockeren graumelierten Dutt platziert und die Jutetasche samt Geldbeutel und Regenschirm aufnimmt, kreisen Mathildes Gedanken immer noch um die Meldung von der neuesten meisterlichen Fälschung. Ob sie dort wohl auch die Signatur ‚MagPiᶒ‘ gefunden haben?
Der Regen wird stärker, als sie auf die Straße tritt und sich im Windschutz der Hauswände unter ihrem Regenschirm aufmacht in Richtung Supermarkt. Beim Überqueren der Rue de Verneuil begegnet ihr die in einen knallroten Regenponcho eingehüllte Matou Bébé, die im regengeschützten Kinderwagen ihren einjährigen Sohn Hanil und Einkäufe aus der Kleinkindabteilung nach Hause schiebt. Wie immer grüßt die junge dunkelhäutige Frau freundlich, geht nach Mathildes Gegengruß jedoch aufgrund des schlechten Wetters rasch weiter.
Wegen der dicken Regentropfen lässt sich Mathilde kurz darauf im Supermarkt viel Zeit und stellt sich absichtlich hinter den beiden einzigen anderen Kunden an der Kasse an, auch wenn man ihr höflich den Vortritt anbietet.
Sie hat Glück, denn der Regenschauer nimmt bereits wieder ab, als sie erneut ihren Regenschirm aufspannt und mit der vollbepackten Jutetasche den Heimweg antritt und nach wenigen Minuten ihre rot gestrichene Haustür durch den Regen leuchten sieht wie ein Leuchtfeuer in der Nacht.
Noch immer ist nicht viel los auf der Straße, auch wenn einige Nachbarn bereits die Fenster geöffnet, Frühstück gemacht oder die Zeitung hereingeholt haben. Die Studentinnen Charlène und Fabienne von nebenan stehen mit Zigaretten in den Händen im Schutz des schmalen Vordachs auf dem kleinen Balkon ihrer Wohnung im Dachgeschoss und winken Mathilde zu, die ihnen zunickt.
Im Erdgeschoss ihres eigenen Hauses kocht Evangeline gerade starken Kaffee für ihren Mann Sébastien, der als Journalist bei Le Monde arbeitet und wie an jedem Montagmorgen im Bademantel in der Küche stehend ein Croissant isst. Mathilde nickt ihnen beiden über die halbe Gardine hinweg zu und sucht in der Manteltasche nach ihrem Schlüssel.
Gerade als sie die Tür aufschließen will, sieht sie vom Quai Voltaire kommend einen Mann herankommen, der Hut und Mantel trägt und ein Mobiltelefon am Ohr hat. Mathilde erkennt überrascht, dass es sich um Émile Frossard handelt, den sie seit ihrer Pensionierung nicht mehr getroffen hat.
„Madame Rouget“, sagt er erfreut, als er bis auf drei Meter heran ist, und lässt mit einem kurzen „einen Moment, Papa“ das Telefon sinken.
„Wie geht es Ihnen, Madame?“ fragt er dann, tritt näher und deutet lächelnd einen Handkuss an.
„Sehr gut, danke“, erwidert Mathilde ebenfalls erfreut, aber auch etwas überrascht. „Ich hoffe, Ihnen auch, Herr Kommissar. Was machen Sie schon so früh unterwegs und dann auch noch hier?“