Robert Ludlum erreichte mit seinen Romanen, die in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurden, weltweit eine Auflage von über 280 Millionen Exemplaren. Robert Ludlum verstarb im März 2001. Die Romane aus seinem Nachlass erscheinen bei Heyne.
James Cobb entstammt einer Marine-Familie und ist Mitglied der Navy League of the United States wie auch des United States Naval Institute. Er selbst war auf nahezu allen Arten von Kriegsschiffen unterwegs. Heute lebt James Cobb im Nordwesten der USA.
Anacostia, Maryland
Die letzte Phase der Operation Wednesday Island wurde im schummrigen Licht der Monitore in Margaret Templetons Büro abgewickelt, während Computerlüfter leise im Hintergrund surrten.
»Wir haben sowohl den kanadischen Behörden als auch Interpol die vereinbarten Halbwahrheiten vorgesetzt«, sagte Margaret Templeton, die an ihrem Rechner saß. »Nämlich, dass Anton Kretek und seine Leute in ein riskantes Unternehmen mit geschmuggelten Waffen verwickelt waren, dessen genaue Natur weiterhin unbekannt bleibt, als ihr gecharterter Hubschrauber über der Hudson Bay abgestürzt ist. Es gab keine Überlebenden, aber die entsprechenden Trümmerteile sind geborgen worden.«
»Nehmen sie uns das ab?«, erkundigte sich Fred Klein und prüfte mit einem Finger die Erde von Maggies Bonsai.
»Bisher ja. Man scheint allgemein der Auffassung zu sein, der Tod des Mannes sei für niemanden ein großer Verlust. Wir haben auch Kreteks Auftankstationen ausfindig gemacht und dort wieder für Ordnung gesorgt.«
Klein nickte geistesabwesend und drückte einmal auf die Sprühflasche, die neben der kleinen Pflanze stand. Er saß hinter Maggies Schreibtisch und schaute auf das Sortiment von Großbildschirmen, die in die Rückwand des Büros eingebaut waren. Ein dünner Schleier grauer Bartstoppeln ließ seine Gesichtszüge weicher wirken, und der Knoten seiner Krawatte war lässig gelockert. Es war das Ende eines weiteren Arbeitstages von durchschnittlich zwölf Stunden. »Was ist mit dem isländischen Trawler, den sie für die Flucht benutzen wollten?«
»Der Fall ist erledigt, Sir. Die USS MacIntyre hat ein SEAL-Team an Bord des Schiffs geschickt. Die isländische Mannschaft bestand im Großen und Ganzen aus angeheuerten Matrosen. Wahrscheinlich wurden sie von Kretek als entbehrliche Ressourcen angesehen. Sie wussten nichts über die Operation Wednesday Island. Dementsprechend sind sie den isländischen Behörden übergeben worden.«
»Und Kreteks Männer?«
Maggies undurchdringliche Gesichtszüge hätten sie selbst unter Spielern von Weltrang am Pokertisch bestehen lassen. »Ein Betriebsunfall. Während sie zu dem Zerstörer gebracht wurden, ist das Rettungsboot, das sie befördert hat, durch eine auffallend hohe Welle zum Kentern gebracht worden. Die Wachposten und der Steuermann trugen Kälteschutzanzüge und Rettungswesten und konnten daher gerettet werden; Kreteks Männer nicht. Die Hudson Bay ist ein sehr gefährliches Gewässer, Sir.«
»Das kann man wohl sagen, Maggie. Ich kann nur hoffen, dass wir so schnell nicht wieder auf diese Weise eingreifen müssen.« Klein zog seinen Krawattenknoten wieder straff. Er und Maggie würden der Sache noch den letzten Schliff geben, und dann würden sie es mit Sicherheit für heute gut sein lassen. »Wie geht es unseren Leuten?«
Maggies Hände tanzten über ihre Tastatur und auf den Wandbildschirmen erschienen die Fotos von Jon Smith und Valentina Metrace aus ihren Personalakten. »Von der physischen Seite her erholen sie sich von ihrer Erschöpfung, der Unterkühlung und einer Vielzahl von kleineren Verletzungen. Psychisch scheinen sie stabil und problemlos wieder einsetzbar zu sein. Ich habe das Gefühl, nach einer angemessenen Erholungspause stehen sie wieder zur Verfügung. Meiner Meinung nach sind sowohl Jon als auch Professor Metrace weiterhin für den mobilen Einsatz zu gebrauchen.«
Klein nickte. »Ich pflichte Ihnen bei. Mich freut, wie gut die beiden als Gespann zu arbeiten scheinen. Um Metrace war ich immer ein wenig besorgt, sie neigt zu einer gewissen Unberechenbarkeit. Ich glaube, Jon hat einen stabilisierenden Einfluss auf sie. Die Chemie zwischen den beiden ist gut.«
Im Schein der Monitore verzogen sich Maggies Lippen zu einem kleinen Lächeln. »In mehr als einer Hinsicht. Die beiden haben die letzte Woche gemeinsam in Palm Springs verbracht.«
»Ach, tatsächlich?« Klein zog die Stirn in Falten, nicht etwa missbilligend, sondern nachdenklich. »Normalerweise sehe ich es nicht gern, wenn unsere besten Leute sich im Privatleben miteinander einlassen, aber ich glaube, in dem Fall werden wir eine Ausnahme machen. Wenn Jon der Metrace gut tut, dann glaube ich, die Metrace könnte Jon auch guttun.«
»Ich bin ganz Ihrer Meinung, Sir. Jetzt gibt es allerdings noch eine Personalfrage, die ich gern ansprechen würde.«
»Und das wäre, Maggie?«
Die Finger seiner persönlichen Assistentin bewegten sich noch einmal flink über die Tastatur, und Randi Russells Gesicht füllte einen dritten Wandmonitor. »Ich bin der Meinung, diese junge Dame ist für uns verbrannt. Ich glaube nicht, dass wir jemals wieder auf sie zurückgreifen und sie für unsere Einsätze hinzuziehen sollten.«
»Warum denn das, Maggie? Nach Jons Bericht zu urteilen, hat sich Ms. Russell beispiellos hervorgetan. Sie hat schon eine ganze Reihe von Operationen erfolgreich mit ihm abgewickelt.«
»Ja, Sir, aber sie ist von der CIA und dort weiß man jetzt, dass es uns gibt. Sie wissen noch nicht genau, wer oder was wir sind, aber ihnen passt weder unsere Machtbefugnis noch unser Anzapfen ihrer Ressourcen. Sie fangen an, zu schnüffeln und Jagd auf Informationen über uns zu machen. Ms. Russell kann zwei unserer besten Agenten identifizieren, und das könnte unangenehme Folgen für uns haben. Ich finde, wir sollten sie in Zukunft auf Distanz halten.«
Klein schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht Ihrer Meinung. Ich glaube, wir haben eine andere Möglichkeit.«
»Und die wäre, Sir?«
»Wir halten sie nicht auf Distanz. Wir absorbieren sie. Wir vereinnahmen sie vollständig.«
Maggie zog eine Augenbraue hoch. »Wir rekrutieren sie als frei einsetzbare Agentin?«
»Warum denn nicht? Ms. Russell hat das Zeug dazu. Sie erfüllt sämtliche Voraussetzungen. Die Kombination ihrer Fähigkeiten ist hervorragend. Sie hat die nötige Erfahrung, und sie ist frei und ungebunden.«
»Bis auf ihre Beziehungen zur CIA.«
»Das werden wir schon irgendwie hinkriegen.« Klein lächelte vor sich hin wie ein Fechter, der ein neues Florett in der Hand hält und es erstmals spielerisch erprobt. »Tatsächlich könnte es uns sogar gelingen, uns diese Beziehungen zunutze zu machen.«
»Wie Sie wünschen, Sir.« Maggie schien unschlüssig zu sein. »Wollen Sie, dass ich eine Rekrutierung in die Wege leite?«
»Nein … ganz so weit sind wir noch nicht. Aber wir werden sie im Auge behalten. Markieren Sie ihre Akte in Silber, und kennzeichnen Sie sie von jetzt an als Agentin auf Abruf zur gesonderten Verwendung. Wir warten erst noch eine andere Gelegenheit ab, bei der wir sie gemeinsam mit Smith und Metrace einsetzen können, und dann … werden wir ja sehen, was dabei herauskommt.«
»Sehr gut, Sir.«
Ein Tastendruck genügte und um Randi Russells Foto herum tauchte von einem Moment zum anderen ein silberner Rahmen auf. Fred Klein beugte sich mit gefalteten Händen und einem gespannten Gesichtsausdruck auf seinem Stuhl vor. »Willkommen in der Firma«, murmelte er dem Bild der blonden Frau zu.
HEUTE
Kanadische Arktis
Mit grellorangen Parkas und Schneemobilanzügen bekleidet, stützten sich die drei aneinander geseilten Gestalten auf ihre Eispickel und bewältigten mühsam die letzten Meter zum Ziel. Sie hatten den Aufstieg an der Südwand des Felsgrats in Angriff genommen, und das Massiv schützte sie vor den vorherrschenden Winden. Aber jetzt, als sie sich über den Rand des kleinen kahlen Felsplateaus auf dem Gipfel vorkämpften, traf sie die volle Wucht des polaren Fallwinds und ließ die gefühlte Temperatur von knapp unter dem Gefrierpunkt auf weit unter null absinken.
Es war ein angenehmer Herbstnachmittag auf Wednesday Island.
Der bleiche Sonnenball, der keine Wärme spendete, rollte am südlichen Horizont entlang und erfüllte die Welt mit dem eigentümlichen gräulichen Schimmer der wochenlangen arktischen Dämmerung.
Wenn man auf das Meer hinunterblickte, das die Insel umspülte, war es schwierig, das Land vom Wasser zu unterscheiden. Das Packeis rückte um Wednesday herum immer enger zusammen, und das neue lebendige Eis wölbte sich über die Küste und türmte sich wüst aufeinander. Die einzigen eisfreien dunklen Wasserrinnen, die zu sehen waren, lagen weit hinter den treibenden Eisbergen am Horizont und kämpften gegen den Frost des bevorstehenden Winters an.
Im Osten hatten die stürmischen Winde eine Schneeverwehung über das ferne Ende der Insel getrieben, und daher verschwamm der zweite größere Berg zu einer unheilvollen dunklen Masse, die hinter einem zerfetzten Nebelvorhang nur ansatzweise zu erkennen war.
Die Aussicht war ein Blick in die Hölle mit still gelegten Öfen, doch die drei, die sie betrachteten, gehörten zu dem Menschenschlag, der solche Anblicke erfrischend findet.
Der Teamleiter warf seinen Kopf in den Nacken und forderte den Wind mit einem wilden Wolfsheulen heraus. »Da ich ihn als Erster bezwungen habe, beanspruche ich diesen Berg für mich und nenne ihn hiermit … Wie zum Teufel nennen wir ihn überhaupt?«
»Du warst als Erster oben, Ian«, hob die kleinste Gestalt unter den drei Bergsteigern hervor. Ihre Stimme wurde durch den Windschutz gedämpft. »Daher sollte er von Rechts wegen Mount Rutherford heißen.«
»Nein! Auf keinen Fall!«, protestierte das dritte Mitglied des Bergsteigerteams. »Unsere bezaubernde Miss Brown ist die erste Dame, die diesen gewaltigen Gipfel erklommen hat. Er sollte Mount Kayla heißen.«
»Das ist ganz reizend von dir, Stefan, aber mehr als einen Händedruck nach der Rückkehr in unsere Forschungsstation wird es dir trotzdem nicht eintragen.«
Ian Rutherford, der in Oxford Biologie studierte, lachte in sich hinein. »Vermutlich sollten wir uns darüber gar keine Sorgen machen. Ganz gleich, welchen Namen wir ihm geben, wir werden ihn ja doch weiterhin den Westgipfel nennen, wie wir es bisher immer getan haben.«
»Du leidest an übertriebenem Realismus, Ian.« Stefan Kropodkin von McGill’s kosmischem Strahlenforschungsprogramm grinste in den dicken Wollschal, der seine untere Gesichtshälfte bedeckte.
»Ich finde, im Moment können wir ein bisschen Realismus gut gebrauchen.« Kayla Brown studierte Geophysik an der Purdue State University. »Wir sind bereits eine Stunde später dran als geplant, und Dr. Creston war ohnehin nicht gerade erfreut darüber, dass wir überhaupt hier raufgeklettert sind.«
»Noch so ein Mann, der keinen Sinn fürs Romantische hat«, brummte Kropodkin.
»Wir haben noch genug Zeit für ein paar Fotos«, erwiderte Rutherford und nahm seinen Rucksack ab. »Dagegen hat Cresty doch gewiss nichts einzuwenden.«
Sie sahen es, als sie sich behutsam einen Weg am Rand des winzigen Plateaus entlang bahnten. Die scharfen Augen der kleinen angehenden Geophysikerin aus Indiana entdeckten es zuerst.
»He, Leute, was ist denn das? Da unten auf dem Gletscher.«
Rutherford warf einen Blick auf den Sattel zwischen den Gipfeln hinunter. Da war etwas, kaum sichtbar durch den Schneeschleier. Er schob sich die dunkle Schutzbrille auf die Stirn und zog sein Fernglas aus dem Etui. Als er durch das Fernglas schaute, achtete er sorgsam darauf, das eisige Metall nicht mit seiner Gesichtshaut in Berührung zu bringen,.
»Schöne Scheiße! Da unten ist doch was!« Er reichte seinem Freund den Feldstecher. »Was hältst du davon, Stefan?«
Der Osteuropäer sah lange durch das Fernglas, ehe er es wieder sinken ließ. »Das ist ein Flugzeug«, sagte er verwundert, »ein Flugzeug auf dem Eis.«
Huckleberry Ridge,
Trainingslager für Gebirgsjäger
Lieutenant Colonel Dr. med. Jonathan (»Jon«) Smith von der US Army stand mit dem Rücken zum Rand der Klippe und sah sich ein letztes Mal um.
Es war wunderschön hier oben. Von diesem Punkt aus konnte man nach Süden über die Westhänge der Cascade Range blicken, das Gestein der Berge war graublau, Schnee glitzerte weiß und die Laubwälder leuchteten grün. Dunstfetzen schwebten schützend über den tieferen Hängen, und der goldene Schimmer des Sonnenaufgangs strömte durch die Einschnitte zwischen den Gipfeln. Wenn er den Kopf noch etwas weiter drehte, rückte der ferne zertrümmerte Kegel von Mount St. Helens in sein Gesichtsfeld, in dessen klaffenden Vulkankrater sich ein dünner Schleier aus Dampf schmiegte.
Das erinnerte Smith an lange zurückliegende Sommer in Yellowstone und an den kindlichen Stolz und die Begeisterung darüber, erstmals mit seinem Vater und seinem Onkel Ian in die Wildnis aufzubrechen, alle mit ihren Rucksäcken bepackt.
Insbesondere die Luft, kühl, lieblich und ungemein belebend. Er atmete ein letztes Mal tief ein, genoss den Augenblick und trat rückwärts über den Rand des jähen Abgrunds.
Sein Horizont drehte sich um glatte neunzig Grad, und der Klettergurt umschloss ihn beruhigend, als das grüne Nylonseil, das durch seine Karabinerhaken gefädelt war, sich spannte. Sein Gewicht wurde von der Abseilbremse gehalten, und die Sohlen seiner Stollenstiefel von Danner, Modell »Fort Lewis«, stemmten sich gegen den mit Flechten gesprenkelten schwarzen Basalt, als er auf der vertikalen Felswand stand. Die Erfahrung war noch so neu und erfrischend, dass er vor Begeisterung strahlte. Das war bei Gott besser als die Arbeit im Labor!
»Okay, Colonel«, hallte die durch ein Megafon verstärkte Stimme des Ausbilders vom Fuß der Klippe herauf, »stoßen Sie sich ab, und immer mit der Ruhe.«
Über ihm lugten die anderen Kursteilnehmer über den Rand des Abgrunds. Sie trugen dieselbe grüne Tarnkleidung wie er. Das war der große Absprung, das Abseilmanöver aus hundertfünfzig Fuß Höhe. Das lose Ende des Seils schleifte unter ihm an der Wand, und Smith gab ihm einen letzten Ruck, um es zu befreien. Dann drückte er die Knie durch, stieß sich von dem Felsen ab und ließ das Seil durch die Bremse laufen.
In seinem fortwährenden Bestreben, die enorm unterschiedlichen Aspekte seines Lebens auszubalancieren – das eines Soldaten, Wissenschaftlers, Arztes und Spions –, war dieser Kurs für Gebirgsjäger ein nachhaltiger Erfolg gewesen.
Im Lauf der letzten drei Wochen hatte er sich mit wachsender Begeisterung den Herausforderungen des knochenbrecherischen Wildnistrainingsprogramms gestellt und dabei seinen Körper abgehärtet und seinen Kopf frei geräumt, nachdem er zu viele Tage in Fort Detrick verbracht und sich dort in den Laboratorien des US Army Medical Research Institute of Infectious Diseases, oder kurz USAMRIID, vergraben hatte, dem medizinischen Forschungsinstitut der Army für ansteckende Krankheiten.
Er hatte eingerostete Fertigkeiten wieder aufgefrischt und neue erworben: Orientierung in unwegsamem Gelände, Überleben unter widrigen klimatischen Bedingungen, Tarnung, Treffsicherheit beim Steilfeuer. Und er war in die Kunst des Bergsteigens eingeführt worden. Smith hatte gelernt, wie man Steigeisen, Kletterhaken und einen Felshammer benutzt und, was noch entscheidender war, wie man sich dem Seil und dem Gurt anvertraut und die instinktiven menschlichen Ängste vor dem Fall und der Höhe zeitweilig außer Kraft setzt.
Das Seil lief durch die Stahlschlaufen, Smiths dicker Handschuh wurde auf der Handfläche warm, und seine Stiefel trafen zwanzig Fuß tiefer mit einem Ruck wieder auf die Felswand. Seine Augen verengten sich und sein Gesicht spannte sich an, als sein Adrenalinspiegel in die Höhe schoss, und er stieß sich ein weiteres Mal ab und bretterte diesmal volle vierzig Fuß an der Felswand hinunter.
»Langsam, Sir«, warnte ihn die Stimme von unten.
Er stieß sich ein drittes Mal kraftvoll ab und ließ sich lotrecht hinabstürzen. Das Seil pfiff und die Bremse rauchte.
»Immer mit der Ruhe, Colonel … langsam … LANGSAM! … LANGSAM, HABE ICH GESAGT, VERDAMMT NOCHMAL!«
Smith bremste heftig und fing seinen Fall ab. Er zog sich in eine aufrechte Haltung und ließ sich mit den Stiefeln voran das kurze letzte Stück auf den humusartigen Waldboden mit der dichten Fichtennadeldecke am Fuß der Klippe fallen. Er trat vom unteren Ende des Seils zurück und rieb seinen glühend heißen Handschuh an seiner Drillichhose.
Ein stämmiger Sergeant von den Rangers mit einem sandfarbenen Barett kam von hinten auf ihn zu und blieb stehen. »Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte er verdrossen, »aber ich hoffe, Ihnen ist klar, dass sich ein Offizier hier oben genauso leicht das Genick brechen kann wie ein Unteroffizier oder einer aus den Mannschaften.«
»Das glaube ich Ihnen aufs Wort, Sergeant«, sagte Smith grinsend.
»Das heißt, wenn ich sage: ›LANGSAM, SIR‹, dann meine ich es verdammt ernst!« Der Ausbilder hatte zwanzig Jahre sowohl im 75th Ranger Regiment als auch in der berühmten 10th Mountain Division gedient und nahm somit eine ziemlich privilegierte Position ein, sogar in den Augen eines Lieutenant Colonel.
Smith wurde wieder ernst und löste den Kinngurt seines Helms. »Ich habe verstanden, Sergeant. Ich war da oben plötzlich etwas zu sehr von mir eingenommen. Eine schlechte Idee. Nächstes Mal werde ich mich an die Vorschriften halten.«
Der Ausbilder nickte beschwichtigt. »Okay, Sir. Abgesehen davon, dass Sie es etwas zu wüst angegangen sind, war das ein guter Abstieg.«
»Danke, Sergeant.«
Der Ausbilder ging wieder, um den nächsten Kursteilnehmer zu überwachen, der sich abseilte, und Smith zog sich an den Rand der Lichtung unterhalb der Klippe zurück. Er legte seinen Helm und den Gurt ab, zog einen Schlapphut aus der Hosentasche und klatschte ihn in Form, bevor er ihn sich auf das dunkle, kurz geschnittene Haar setzte.
Jon Smith hatte sich für Anfang vierzig gut gehalten: breite Schultern, schmale Hüften und – sowohl durch sein intensives Training der letzten Wochen als auch durch eine aktive Lebensweise, die ihm von Natur aus lag – eine straffe Muskulatur. Er war auf eine herbe männliche Art attraktiv, sein gebräuntes Gesicht war gut geschnitten und wirkte aufmerksam und irgendwie ungerührt – ein Gesicht, das Geheimnisse gut bewahren konnte. Seine Augen, die einen ungewöhnlichen dunkelblauen Farbton hatten, konnten einen Raum mit durchdringendem Blick von einem Ende zum anderen durchmessen.
Smith sog die saubere Höhenluft ein weiteres Mal tief ein und ließ sich neben den Stamm einer turmhohen Douglasfichte sinken. Das war eine Welt, in der er einmal gelebt hatte. Während einer frühen Phase seiner beruflichen Laufbahn, bevor er in die Forschung und ans USAMRIID gegangen war, hatte er eine Dienstzeit bei den Special Forces der US Army als Militärarzt im Einsatz absolviert. Das war eine gute Zeit gewesen, eine Zeit der Herausforderungen und der Kameradschaft. Es war auch eine Zeit voller Ängste, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit gewesen, aber alles in allem eine gute Zeit.
Im Lauf der letzten Tage hatte sich unwillkürlich ein Gedanke in sein Bewusstsein geschlichen: Wie wäre es damit, sich wieder ins Getümmel zu stürzen, eine weitere Dienstzeit bei einer taktischen Einheit zu absolvieren, vielleicht bei den Special Forces? Wie wäre es damit, eine Zeitlang zur echten Armee zurückzukehren?
Smith wusste, dass es nichts weiter als ein vages Liebäugeln war. In seiner gehobenen Position würden sie ihn nicht mehr ins Feld schicken. Er könnte es bestenfalls schaffen, einen Schreibtischjob zu ergattern, einen Stabsposten, wahrscheinlich wieder mitten in dem altbekannten Rummel von Washington.
Außerdem hatte er sich auf seinem derzeitigem Forscherposten, einer äußerst kritischen Position, bewährt. Das USAMRIID war Amerikas vorderste Verteidigungslinie sowohl gegen den Bioterrorismus als auch gegen den einsetzenden globalen Anstieg von Krankheiten, der sich deutlich abzeichnete, und an dieser Front nahm Smith einen Platz in der ersten Reihe ein. Eine wichtige Aufgabe, das war unbestreitbar.
Und dann war da schließlich auch noch sein anderer Aufgabenbereich in einer Sondereinheit, der weder in seinem Wehrpass noch in seiner jedem zugänglichen Militärakte angegeben war. Der Aufgabenbereich, der aus dem Alptraum eines Megalomanen, genannt das Hades-Projekt, und dem Tod von Dr. Sophia Russell resultierte, der Frau, die er geliebt hatte und heiraten wollte. Auch das war eine Pflicht, die er nicht von sich weisen konnte, jedenfalls dann nicht, wenn er eines Tages mit sich selbst Frieden schließen wollte.
Smith lehnte sich an den Stamm der Fichte und sah entspannt zu, wie sich die anderen Kursteilnehmer der Reihe nach an dem Steilhang abseilten. Trotz allem war heute ein guter Tag, um Soldat zu sein.
Camp David, Landsitz des Präsidenten
Der Landsitz des Präsidenten in Camp David befand sich rund siebzig Meilen außerhalb von Washington, D.C., in einem sorgfältig abgeschirmten Bereich des Catoctin-Mountain-Erholungsgebiets.
Seine Ursprünge reichten bis zu den Turbulenzen des Zweiten Weltkriegs zurück, als der Secret Service in seiner Sorge um die Sicherheit der Potomac, der Präsidentenyacht, mit dem Ersuchen an Franklin Delano Roosevelt herangetreten war, er solle sich in der näheren Umgebung von Washington ein neues und leichter zu bewachendes Ferien- und Naherholungsziel suchen.
Ein solcher Ort wurde in der bewaldeten Hügellandschaft von Maryland ausfindig gemacht, ein Sommerlager für Regierungsbeamte und ihre Familien, das Mitte der dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts als Pilotprojekt zur Urbarmachung von nicht mehr rentablem Boden durch das Zivile Umweltschutzkorps CCC, einem freiwilligen Arbeitsdienst Arbeitsloser, errichtet worden war.
Als ein Relikt aus den Zeiten der Potomac wurde das Personal des Lagers vom United States Navy and Marine Corps gestellt, eine Tradition, die sich bis zum heutigen Tage gehalten hat. Ursprünglich hatte der Ort den Decknamen »USS Shangri-La«. Den Namen »Camp David« erhielt das Lager erst in den fünfziger Jahren, als es zu Ehren des Enkels von Präsident Eisenhower umbenannt wurde.
Viele kritische Begegnungen und Gespräche hatten auf dem Landsitz stattgefunden, darunter Glanzstücke der Diplomatie und der Staatskunst, wie zum Beispiel die in die Geschichte eingegangenen Friedensabkommen von Camp David zwischen Ägypten und Israel. Aber neben all den Treffen und Konferenzen, über die von den überregionalen Medien berichtet wurde, gab es auch noch andere, über die nicht viel bekannt wurde. Und auch solche, die in tiefe Geheimhaltung gehüllt wurden.
Lässig mit einer saloppen Hose, Polohemd und Golferpulli bekleidet, sah Präsident Samuel Adams Castilla zu, wie ein Merlin-Hubschrauber in den Farben des Präsidentengeschwaders, Dunkelblau und Gold, über dem Heliport auftauchte und sein Rotor leuchtend rote Blätter von den Baumwipfeln fegte. Hinter dem unvermeidlichen argwöhnischen Wachpersonal des Geländes, das sich aus Wachposten der Marine und Secret-Service-Agenten zusammensetzte, wartete Castilla allein. Es war keine formelle diplomatische Begrüßung geplant. Kein Tamtam und kein großes Trara. Keine neugierigen Journalisten vom Pressekorps des Weißen Hauses.
Castillas Gast hatte es sich so ausgebeten.
Dieser Gast stieg jetzt aus dem Hubschrauber, der im Leerlauf dastand – ein untersetzter Mann mit schweren Hängebacken, kurz geschnittenem grauem Haar und einem blauen Nadelstreifenanzug europäischen Schnitts. Er trug ihn so, als säße er nicht bequem. Oder als wäre der Träger ganz andere Kleidung gewohnt. Die Geste, mit der er nahezu automatisch auf den Salut des Marinewachpostens reagierte, während er die Stufen aus dem Hubschrauber herabstieg, gab einen klaren Hinweis darauf, um welche Form von Kleidung es sich dabei handeln könnte.
Castilla, ein ehemaliger Gouverneur von New Mexico und in seinen Fünfzigern immer noch groß, schlank und breitschultrig, trat mit ausgestreckter Hand vor. »Willkommen in Camp David, General«, sagte er und übertönte mit seiner Stimme das Wummern der Turbinen des Merlin.
Dimitri Baranov, Befehlshaber der 37sten Luftarmee der strategischen Fernfliegerkräfte der Russischen Föderation, erwiderte den festen Händedruck mit trockener Handfläche. »Es ist mir eine Ehre, hier zu sein, Mr. President. Im Namen meiner Regierung bedanke ich mich noch einmal für Ihre Bereitschaft, mich unter diesen … außergewöhnlichen Umständen hier zu treffen.«
»Keine Ursache, General. Unsere Nationen haben heutzutage viele gemeinsame Interessen. Informationsgespräche und Absprachen zwischen unseren Regierungen sind uns stets willkommen.«
Oder zumindest notwendig, fügte Castilla im Geiste hinzu.
Das neue, nicht mehr sowjetische Russland stellte die Vereinigten Staaten vor fast so viele Herausforderungen wie es die alte UdSSR getan hatte, nur waren sie jetzt anders geartet. Von Korruption zersetzt, politisch instabil und mit einer Wirtschaft, die noch darum rang, aus den Ruinen des Kommunismus aufzuerstehen, drohte die gerade erst flügge gewordene russische Demokratie laufend, entweder in den Totalitarismus zurückzugleiten oder vollständig zusammenzubrechen. Beides wäre unvorteilhaft für die Vereinigten Staaten, und Castilla hatte sich geschworen, dass es zumindest während seiner Amtszeit nicht passieren würde.
Gegen den erheblichen Widerstand einiger eingefleischter Befürworter des Kalten Krieges und Budgetbeschneider unter den Kongressabgeordneten hatte Castilla eine Reihe von nur notdürftig verschleierten Gesetzesvorlagen zur Auslandshilfe im Kongress durchgepaukt und arbeitete gemeinsam mit dem Föderationspräsidenten Potrenko daran, einige der kritischeren Lecks im russischen Staatsschiff zu stopfen. Ein weiterer derartiger Gesetzesentwurf stand gerade zur Debatte, und der Ausgang war reichlich ungewiss.
Das Letzte, was die Castilla-Regierung gebrauchen konnte, war eine weitere Komplikation von russischer Seite. Dennoch hatte am Vorabend ein russisches Diplomatenflugzeug in der Andrews Air Force Base aufgesetzt. Baranov war an Bord gewesen, als Überbringer eines versiegelten Briefs von Präsident Potrenko, der den General als seinen persönlichen Repräsentanten auswies und ihn ermächtigte, über »ein dringliches gemeinsames Anliegen beider Nationen« mit Präsident Castilla zu verhandeln.
Castilla fürchtete, dieses Szenario könnte nur Ärger bedeuten. Baranov bestätigte seine Befürchtungen
»Ich bedauere, dass die Information, deren Überbringer ich bin, Ihnen nicht allzu genehm sein dürfte, Mr. President.« Der Blick des Generals senkte sich einen Moment lang auf den abgeschlossenen Aktenkoffer, den er bei sich trug.
»Ich verstehe, General. Wenn Sie nichts dagegen haben, mich zu begleiten, können wir es uns wenigstens gemütlich machen, während wir darüber reden.«
Die Secret-Service-Teams verlagerten unauffällig ihren Beobachtungsposten, als Castilla seinen Gast um den von Steinen gesäumten Fischteich zur Aspen Lodge führte, dem Wohnsitz des Präsidenten in Camp David.
Ein paar Minuten später saßen beide Männer auf der breiten Veranda der Lodge an einem rustikalen Tisch, und ein tüchtiger Proviantmeister der Marine servierte unaufdringlich heißen Tee nach russischer Art in hohen Gläsern mit filigranen Silberverzierungen.
Baranov trank aus Höflichkeit einen Schluck. »Ich danke Ihnen für Ihre Gastfreundschaft, Mr. President.«
Castilla, der an einem warmen Herbsttag wahrscheinlich ein kaltes Coors bevorzugt hätte, nickte anerkennend. »Ich vermute, General, es handelt sich um eine Angelegenheit, die keinen Aufschub duldet. Wie können wir Ihnen und der Föderation behilflich sein?«
Baranov zog einen kleinen Schlüssel aus seiner Westentasche. Er legte den Aktenkoffer auf den Tisch, öffnete die Schlösser, ließ die Schnappriegel aufspringen und zog einen Ordner heraus. Bedächtig breitete er eine Serie von Abzügen auf der Tischplatte aus. »Ich glaube, Mr. President, es könnte gut sein, dass Sie diese Fotos erkennen.«
Castilla nahm einen der Abzüge in die Hand. Mit einem Stirnrunzeln rückte er das Titangestell seiner Brille zurecht und musterte ihn.
Es war eine grobkörnige Vergrößerung, ein Standbild in Schwarz-Weiß von einem Video. Vor dem kargen, mit Eis bedeckten Hintergrund, möglicherweise einem Gletscher, war in der Bildmitte das Wrack eines großen viermotorigen Flugzeugs zu sehen. Größtenteils schien es intakt zu sein, nur eine der langen, geraden Tragflächen war durch den Aufprall beim Absturz verbogen und gekrümmt. Castilla verstand genug von Flugzeugen, um in dem Wrack eine Boeing B-29 zu erkennen, ein leistungsfähiger Bomber, derselbe Flugzeugtyp, der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs eingesetzt worden war, um das Kaiserliche Japan zu bombardieren, und von dem aus die ersten Atomwaffen auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden.
Oder so schien es zumindest.
»Das mysteriöse Flugzeug«, so wurde es von manchen Sendern genannt. Andere sprachen von »der polaren Lady-Be-Good«. Eine Expedition von Wissenschaftlern auf einer abgelegenen Insel des Kanadisch-Arktischen Archipels hatte das Wrack auf einem Berg über ihrem Stützpunkt entdeckt und diese Aufnahmen, mit einem starken Teleobjektiv gemacht, waren über das Internet und die globalen Nachrichtenagenturen blitzschnell um die Welt gegangen.
Das sorgte für Schlagzeilen und Reportagen, und über das Flugzeug und seine Besatzung grassierten zahllose Spekulationen.
»Ich erkenne das Foto«, sagte Castilla vorsichtig. »Aber ich bin gespannt darauf, zu erfahren, wie dieses uralte Flugzeug unseren beiden Nationen Anlass zur Sorge geben könnte.«
Castilla wusste bereits, dass dieses mysteriöse Flugzeug den Russen große Sorgen bereitete. Erst kürzlich war es in seinen Briefings zur Staatssicherheit erwähnt worden, ein eigentümlicher Echoimpuls auf den Überwachungsschirmen der National Security Agency, kurz NSA.
Im Lauf der letzten Tage hatte das Flugzeug die russische Regierung in Panik versetzt. Schnelle Superrechner der NSA, die das Internet permanent überwachten, hatten einen massiven Anstieg an Aktivitäten seitens gewisser nachrichtendienstlicher Terminals innerhalb der Russischen Föderation protokolliert. Diese hatten verstärkt globale News-Sites aufgerufen, auf denen über den Absturz berichtet wurde. Es wurde hundertfach auf Seiten zugegriffen, deren Thema die multinationale Expedition von Wissenschaftlern war, die das Wrack entdeckt hatte. Ebenso hatte man verstärkte Aufrufe von Seiten registriert, die historische Tabellen der Organisation der US Air Force und deren Unterlagen über Operationen in der Arktis enthielten.
Castilla würde die Russen ihre eigene Erklärung dafür abgeben lassen, obgleich sowohl er als auch seine Berater vom Nachrichtendienst einen Verdacht hatten.
Der Russe hielt seinen Blick starr auf die Fotografien gerichtet, die auf dem Tisch lagen. »Bevor ich das beantworte, Mr. President, muss ich Ihnen erst noch eine Frage stellen.«
Castilla griff nach seinem Teeglas. »Bitte. Gern.«
Baranov tippte auf einen der Abzüge. »Was hat die Regierung der Vereinigten Staaten über dieses Flugzeug in Erfahrung gebracht?«
»Wir haben zu unserem großen Erstaunen festgestellt, dass es sich dabei nicht um eine amerikanische Superfortress handelt«, erwiderte Castilla und trank einen Schluck Tee. »Die Archive der US Army Air Force sowie der US Air Force sind sorgsam überprüft worden. Wir haben zwar eine geringe Anzahl Flugzeuge vom Typ B-29 und dem daraus entwickelten Typ B-50 über der Arktis verloren, aber all diese abgeschossenen Bomber sind aufgespürt worden. Tatsächlich kann über jede B-29, die in den Inventaren des amerikanischen Militärs gelistet ist, Rechenschaft abgelegt werden.«
Castilla stellte sein Teeglas ab. »Etwa siebenundachtzig Superfortresses sind außerdem im Jahr 1950 Großbritannien übergeben worden. Die Royal Air Force hat sie die ›Washington‹ genannt. Wir haben Erkundigungen beim britischen Luftfahrtministerium eingezogen. Keine ihrer Washingtons ist jemals verschollen gegangen oder auch nur über die kanadische Arktis geflogen, und sämtliche Flugzeuge wurden später an die Vereinigten Staaten zurückgegeben.«
Castilla sah mit festem Blick über den Tisch. »Ist Ihre Frage damit beantwortet, General?«
Baranov blickte lange Zeit nicht auf. »Ja, zu meinem Bedauern, Mr. President. Ich muss Ihnen jetzt, ebenfalls zu meinem Bedauern, mitteilen, dass dieses Flugzeug durchaus uns gehören könnte. Es könnte ein russisches Flugzeug sein. Und wenn das der Fall ist, dann könnte es möglicherweise eine entschiedene Bedrohung für unsere beiden Nationen und die Welt im Allgemeinen darstellen.«
»Wie das, General?«
»Es könnte ein Atomwaffenbomber Tupolew Tu-4 sein, der von der NATO den Codenamen ›Bull‹ erhalten hat. Dieses Flugzeug ist Ihrer B-29 sehr … ähnlich. Es wurde während der frühen Jahre des Kalten Krieges von unserer strategischen Bomberflotte benutzt oder, besser gesagt, von den Fernfliegerkräften der Luftstreitkräfte der Sowjetunion. Am 5. März 1953 ist ein solches Flugzeug mit dem Funkrufnamen Misha 124 bei einem Übungseinsatz über dem Nordpol verschwunden. Das Schicksal dieses Flugzeugs war uns unbekannt. Sämtliche Funk- und Radarkontakte mit dem Bomber waren abgerissen, und das Wrack wurde nie gefunden.«
Baranov holte tief und bedächtig Atem. »Wir fürchten, dieses mysteriöse Flugzeug könnte die Misha 124 sein.«
Castilla zog die Stirn in Falten. »Und warum sollte ein sowjetischer Bomber, der bei einem Übungseinsatz vor mehr als fünfzig Jahren verschollen ist, als etwas anderes angesehen werden als ein bloßes Relikt des Kalten Krieges?«
»Weil die Misha 124 nicht einfach nur ein Bomber war; sie war eine strategische Plattform für biologische Waffen und zum Zeitpunkt ihres Verschwindens voll aufgerüstet.«
Trotz der Wärme des Nachmittags und dem heißen Tee, den er getrunken hatte, lief Castilla ein kalter Schauer über den Rücken. »Mit welchem Kampfstoff?«, fragte er barsch.
»Anthrax, Mr. President. Waffenfähiges Anthrax. Wenn man bedenkt, welche Probleme Ihre Nation in letzter Zeit auf diesem Gebiet hatte, bin ich sicher, dass Sie sich über das Katastrophenpotential im Klaren sind.«
»Nur zu gut, General.« Castilla blickte finster. Ein Größenwahnsinniger mit einem elementar ausgestatteten Labor und der Wahnvorstellung, Gott zu spielen; weißes Pulver, das aus einem geöffneten Briefumschlag rieselte – das waren Bilder, die einen Präsidenten nicht mehr losließen.
»Die Misha 124 war mit einem Sprühsystem ausgerüstet«, fuhr Baranov fort. »Die biologische Substanz wurde in einem versiegelten Behälter aus rostfreiem Stahl transportiert, der im vorderen Bombenschacht des Flugzeugs montiert war. Sollte sich während des Flugs eine unabwendbare Gefahr ergeben, dann hätte die Standardorder der Piloten ›Notabwurf‹ gelautet. Sie hätten den Behälter mit der biologischen Substanz über dem offenen Meer ausgeklinkt oder, in diesem speziellen Fall, über dem polaren Packeis. Aber auf den Fotografien, die uns zur Verfügung stehen, können wir unmöglich erkennen, ob diese Prozedur erfolgreich durchgeführt worden ist. Es wäre ohne weiteres denkbar, dass sich der Behälter und die darin enthaltene Substanz noch in dem Wrack befinden.«
»Und dass sie immer noch gefährlich ist?«
Baranov hob frustriert die Hände. »Das ist sehr gut möglich, Mr. President. Wenn man bedenkt, dass die Temperaturen im Polargebiet unter dem Gefrierpunkt liegen, ist es durchaus vorstellbar, dass die Sporen heute noch genauso tödlich sein könnten wie zu dem Zeitpunkt, zu dem sie an Bord des Flugzeugs gebracht wurden.«
»Gütiger Himmel.«
»Wir erbitten in dieser Angelegenheit dringend die Unterstützung der Vereinigten Staaten, Mr. President. Zuerst einmal, um festzustellen, ob dieses … Problem tatsächlich existiert, und falls dem so sein sollte, um anschließend eine Lösung zu finden.«
Die Hände des Russen wanderten zwischen den Fotografien auf dem Tisch umher. »Ich verlasse mich darauf, Mr. President, dass Sie verstehen, warum meine Regierung diese Angelegenheit unbedingt geheim halten will. Die Enthüllung, dass ein aktives und gefährliches Biowaffensystem der ehemaligen Sowjetunion auf dem nordamerikanischen Kontinent entdeckt worden ist, könnte die Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und den Vereinigten Staaten in diesem kritischen Moment zusätzlich belasten.«
»Und das ist noch gelinde ausgedrückt«, sagte Castilla grimmig. »Der gemeinschaftliche russisch-amerikanische Beschluss zur Terrorismusbekämpfung wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt. Darüber hinaus würde sich jede Terroristengruppe und jede skrupellose Nation auf dem Planeten, die von dem Absturz der Misha erfährt, um die Gelegenheit reißen, dieses Arsenal zur biologischen Kriegsführung an sich zu bringen, indem sie es schlicht und einfach dort aufsammelt. Ganz nebenbei, General, von welcher Menge Kampfstoff reden wir hier überhaupt? Von wie vielen Pfund oder, besser gesagt, Kilogramm?«
»Tonnen, Mr. President.« Der Gesichtsausdruck des Russen war versteinert. »Die Misha 124 hatte zwei Tonnen waffenfähiges Anthrax an Bord.«
Der Marinehubschrauber entfernte sich knatternd über den Baumwipfeln und brachte General Baranov wieder nach Washington, D.C., und in die russische Botschaft, während Samuel Adams Castilla langsam zur Aspen Lodge zurückging. Seine Wachen vom Secret Service gaben ihm aus der Ferne Deckung. Für den Leiter des Teams lag es auf der Hand, dass der Präsident keine andere Gesellschaft als die seiner eigenen Gedanken wünschte.
Auf der Veranda der Lodge hatte eine neue Gestalt am Tisch Platz genommen: ein relativ kleiner Mann in seinen Sechzigern, mit grauem Haar und hängenden Schultern. Nathaniel Frederic Klein wies keinerlei Ähnlichkeit mit der klischeehaften Vorstellung auf, die man sich gemeinhin vom Chef eines Spionagerings macht. Er war eine ausgesprochen unauffällige Person, ein Mensch, der hart an seiner Anonymität arbeitete. Man hätte ihn bestenfalls für einen pensionierten Geschäftsmann oder Lehrer gehalten. Und doch war er ein vom Dienst abgehärteter Veteran der CIA und Leiter der streng geheimen Einheit für das Zusammentragen von nachrichtendienstlichen Informationen und für verdeckte Aktionen in der westlichen Hemisphäre.
Nicht lange nach Antritt seiner ersten Amtsperiode war Präsident Castilla mit einem Problem konfrontiert worden, das unter dem Namen »Hades-Programm« Bekanntheit erlangt hatte. Dabei handelte es sich um eine Serie von skrupellosen Terroranschlägen mit biologischen Waffen, die weltweit Tausende von Todesfällen hervorgerufen hatten und um Haaresbreite Millionen von Menschen getötet hätten. Nachdem die Krise ausgestanden war, hatte sich Castilla in der Rückschau zu gewissen unheilvollen Schlussfolgerungen gezwungen gesehen, was die Fähigkeit Amerikas im Umgang mit derlei Bedrohungen betraf.
Die amerikanischen Nachrichten- und Spionageabwehrdienste wurden allein schon durch ihre Größe und die Bandbreite ihrer Aufgabenbereiche zunehmend schwerfälliger und von ihrer eigenen Bürokratie behindert. Kritische Informationen wurden unter Verschluss gehalten und erreichten nicht den Bestimmungsort, an dem sie dringend benötigt wurden. Kleinliche Eifersüchteleien zwischen den Abteilungen führten zu überflüssigen Reibereien, und eine wachsende Anzahl von hauptberuflichen Drückebergern und Ausbremsern würgte jede Initiative innerhalb ihrer Organisationen ab und beeinträchtigte Amerikas Reaktionsvermögen auf die im raschen Wandel begriffene globale Situation enorm.
Castillas Verwaltung war schon immer unkonventionell gewesen, und seine Reaktion auf den Hades-Vorfall war es ebenfalls. Er hatte Fred Klein, einen zuverlässigen alten Freund der Familie, damit betraut, um eine handverlesene kleine Kerntruppe von Spezialisten in militärischen und zivilen Bereichen herum eine ganz neue Organisation ins Leben zu rufen, deren Mitarbeiter nicht den regulären Nachrichtendiensten des Landes entstammten.
Diese »frei verfügbaren« Agenten wurden sowohl aufgrund ihrer außerordentlichen Fähigkeiten als auch aufgrund ihres Mangels an persönlichen Bindungen und Verpflichtungen ausgewählt. Sie hatten sich nur gegenüber Klein und Castilla zu verantworten. Covert One wurde durch staatliche »schwarze« Vermögenswerte finanziert und stand somit außerhalb der herkömmlichen Endlosschleife von Haushaltsdebatten im Kongress. Diese als streng geheim eingestufte Nachrichteneinheit war der starke Arm des Präsidenten der Vereinigten Staaten, ein ihm persönlich unterstelltes ausführendes Organ.
Aus diesem Grund hatte Castilla Klein, während seiner Besprechung mit dem russischen General, auf Abruf bereitstehen gehabt.
Ein Getränkewagen war neben den Tisch geschoben worden, und vor jedem Platz standen zwei Schnapsgläser, eines davon mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt, das andere mit Wasser.
»Bourbon und Leitungswasser, Sam«, sagte Klein und hob sein Whiskeyglas. »Es ist zwar noch ein wenig früh am Tag, aber ich dachte mir, du könntest einen gebrauchen.«
»Das weiß ich zu schätzen«, sagte Castilla, als er sich auf seinen Stuhl sinken ließ. »Du hast alles mit angehört?«
Klein nickte. »Ich hatte einen klaren Empfang auf dem Richtmikrofon.«
»Was meinst du dazu?«
Klein lächelte ohne jede Spur von Humor. »Sie haben die oberste Befehlsgewalt, Mr. President. Sag du mir, was du davon hältst.«
Castilla schnitt eine Grimasse und hob sein Glas. »So, wie die Dinge im Moment stehen, sind sie verfahren. Und wenn wir nicht außerordentlich vorsichtig sind und extremes Glück haben, dann wird sich das Ganze noch weiter auswachsen. Fest steht, dass der Beschluss zur Terrorismusbekämpfung nicht die geringste Chance hat, wenn Senator Grenbower Wind davon bekommt. Verdammt nochmal, Fred, die Russen brauchen unsere Hilfe, und wir können sie ihnen nicht abschlagen.«
Klein zog eine Augenbraue hoch. »Im Wesentlichen reden wir von Militärhilfe, die Amerika der ehemaligen Sowjetunion zukommen lässt, sowohl in finanzieller Hinsicht als auch in beratender Funktion. Das geht vielen Leuten nach wie vor gegen den Strich.«
»Ein balkanisiertes Russland würde ihnen aber auch nicht passen! Wenn die Russische Föderation in die Brüche geht, und diese Gefahr besteht, dann könnten wir es mit Jugoslawien hoch zwei zu tun bekommen!«
Klein trank einen Schluck Whiskey. »Du rennst offene Türen ein, Sam. Das russische Übel, das wir bereits kennen, ist besser als Dutzende von Möglichkeiten, die wir bisher noch nicht kennen. Die Frage ist auch hier wieder einmal, wie wir vorgehen wollen.«
Castilla nickte. »Das leuchtet mir ein. Wann geben wir Ottawa Bescheid? Diese Insel – Wednesday heißt sie, glaube ich – liegt in der kanadischen Arktis. Das ist deren Hoheitsgebiet. Kanada hat ein Recht darauf, zu erfahren, was vorgeht.«
Klein schob nachdenklich seine Lippen vor. »Du kennst ja den alten Spruch, Sam: ›Zwei Männer können ein Geheimnis bewahren, vorausgesetzt, einer von beiden lebt nicht mehr.‹ Wenn wir die Sicherheitsmaßnahmen in dieser Angelegenheit ernst nehmen wollen, dann müssen wir die Ausbreitung von Informationen einschränken.«
»Das ist ein verdammt fieses Benehmen gegenüber einem Nachbarn, Fred. Wir hatten zwar schon unsere Meinungsverschiedenheiten mit den Herren im Norden, aber sie sind trotzdem ein alter und wertvoller Verbündeter. Ich möchte nicht riskieren, dass diese Beziehung weiter beschädigt wird.«
»Dann probieren wir eben Folgendes«, erwiderte Klein. »Wir informieren Ottawa darüber, dass die Russen an uns herangetreten sind, weil es sich bei diesem mysteriösen abgestürzten Flugzeug um eine sowjetische Maschine handeln könnte. Wir sagen, wir seien uns keineswegs sicher. Es bestünde immer noch die Möglichkeit, dass es sich um eines unserer Flugzeuge handeln könnte, und daher wollten wir ein gemeinsames Untersuchungsteam aus Amerikanern und Russen hinschicken, das lediglich feststellen soll, wem das Flugzeug gehört. Wir werden sie darüber unterrichten, was wir dort in Erfahrung bringen.«
Klein zog einen weiteren Ausdruck aus der Mappe. »Hier steht, dass unsere Wetter- und Ozeanographiebehörde NOAA und die amerikanische Küstenwache der multinationalen Expedition von Wissenschaftlern auf der Insel logistische Unterstützung zukommen lassen. Der Teamleiter ist Kanadier und betätigt sich ohnehin schon als Bevollmächtigter der kanadischen Regierung vor Ort. Wir können vorschlagen, ihn ebenfalls als Verbindungsmann zu nutzen. Wir können außerdem darum bitten, dass der Leiter der Expedition seine Leute bis zum Eintreffen unseres Teams möglichst weit von dem abgestürzten Flugzeug fern hält, um eine Zerstörung von … sagen wir mal … Zeugnissen der Vergangenheit und forensischen Indizien zu verhindern.«
»Damit könnten wir mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen«, stimmte Castilla ihm zu.
»Die Einsatzkräfte der kanadischen Regierung sind an der arktischen Grenze recht spärlich«, fuhr Klein fort. »Ich habe den Verdacht, man wird es uns gern überlassen, ihnen die Klärung dieser unwesentlichen Frage abzunehmen. Wenn es kein Problem mit dem Anthrax gibt, dann kann es uns nicht schaden, wenn die kanadische Regierung nichts weiß. Falls es tatsächlich ein Problem gibt, können wir den kanadischen Premierminister immer noch hinzuziehen.«
Castilla nickte. »Ich glaube, das ist ein akzeptabler Kompromiss. Du sprachst von einem russisch-amerikanischen Team. Hältst du das für ratsam?«
»Ich habe den Verdacht, es wird sich nicht vermeiden lassen, Sam. Bei allem, was ihre Staatssicherheit betrifft, ob in der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft, werden die Russen dabei sein und mitmischen wollen. Ich wette darauf, dass Baranov, sowie wir ihm mitteilen, dass wir eine Untersuchung des Absturzes in die Wege leiten, darauf bestehen wird, einen russischen Bevollmächtigten mitzuschicken.«
Castilla leerte sein Whiskeyglas und verzog das Gesicht, als der Schnaps in seiner Kehle brannte. »Das führt uns zur nächsten wichtigen Frage. Reden die Russen offen mit uns? Bei dem Bioaparat-Vorfall haben sie es jedenfalls mit Sicherheit nicht getan.«
Klein zögerte seine Antwort hinaus. »Sam«, sagte er schließlich, »ob er sich gegenüber einem Zaren, einem Premierminister oder einem Präsidenten verantwortet – ein Russe ist und bleibt nun mal ein Russe. Auch nach dem Fall der Berliner Mauer haben wir es immer noch mit einer Nation zu tun, in der Komplotte automatisch geschmiedet werden und Paranoia als ein Selbsterhaltungsmechanismus gilt. Ich wette mit dir um eine Flasche von diesem guten Bourbon, dass sie uns in dieser Angelegenheit nicht die ganze Geschichte erzählen.«
Castilla lachte leise in sich hinein. »Die Wette ist abgelehnt. Wir werden also davon ausgehen, dass sie Hintergedanken haben und in Wirklichkeit einen ganz anderen Plan verfolgen. Deinen Leuten fällt die Aufgabe zu, intuitiv zu erfassen, worum es sich dabei handelt.«
»Ich habe bereits zwei hervorragende altgediente Agenten im Sinn, aber es kann sein, dass ich mindestens einen Spezialisten von außen zu ihrer Verstärkung heranziehen muss.«
Der Präsident nickte. »Du hast den üblichen Blankoscheck, Fred. Stell dein Team zusammen.«