Gegenüber der Dent du Midi, der Aiguille Verte und dem Mont-Blanc schauten auf der Liegehalle des Sanatoriums blutlose Gesichter aus den Decken.
Die Terrasse überragt auf der ersten Etage des Palace-Sanatoriums die Welt, hängt gleichsam frei in der Luft mit ihrer geschnitzten Holzgalerie und ihrer Glaswand, die sie vor Winden schützt.
Nichts regt sich unter den feinen, roten, grünen, tabakbraunen und weissen Wolldecken, aus denen die strahlenden Augen zarter Gesichter blicken; denn auf den Liegestühlen herrscht völliges Schweigen. Jemand hustet, dann hört man nur noch zuweilen das Geräusch einer Buchseite, die nach regelmässigen Pausen gewendet wird; dann und wann auch murmelt jemand eine leise Frage, auf die der Nachbar ebenso leise antwortet; plötzlich wieder schnurrt ein Fächergeräusch, wenn die Krähen aufflattern und in der klaren Luft wie ein schwarzer, perlender Rosenkranz davonfliegen.
Das Schweigen ist hier Gebot. Uebrigens haben jene reichen und unabhängigen Menschen, die sich aus allen Weltgegenden, vom gleichen Unglück heimgesucht, hier eingefunden haben, die Gewohnheit der Unterhaltung verloren. Sie sind mit sich selbst beschäftigt und denken über ihr eigenes Leben und über ihr eigenes Ende nach.
Ein Zimmermädchen ist auf der Liegehalle erschienen; sie schreitet sanften Schrittes in ihrer weissen Tracht und bringt Zeitungen, die sie verteilt.
– Der Würfel ist geworfen, sagt einer, der die Zeitung zuerst entfaltet hatte, der Krieg ist erklärt.
Wie sehr man auch auf diese Nachricht gefasst war, so ruft sie dennoch eine gewisse Bestürzung hervor; denn man ahnt das grenzenlose ihrer Tragweite.
Jene denkenden und gebildeten Leute, die, durch ihr Leiden vertieft, sich von den Dingen und vom Leben fast losgesagt haben und der übrigen Welt fernstehn, als seien sie schon ein Stück Nachwelt, – sie schauen vor sich ins Weite nach jenem Reich der Lebenden und der Wahnsinnigen hin, die sie nicht mehr verstehn.
– Es ist ein Verbrechen, das Oesterreich begeht, meint der Oesterreicher.
– Frankreich muss Sieger sein, sagt der Engländer.
– Ich hoffe, Deutschland wird besiegt werden, sagt der Deutsche.
*
Dann ziehn sie ihre Decken und ihre Kissen wieder zurecht, und vor ihnen leuchten die Berge am Himmel. Aber die Stille und die klare Luft sind voll jenes Ereignisses, das sich soeben offenbart hat.
– Krieg!
Einige wiederholen das Wort auf ihren Liegestühlen, sprechen es halblaut in die Stille hinein und denken darüber nach, dass es das grösste Ereignis der modernen Zeit und vielleicht der ganzen Weltgeschichte bedeutet.
Zugleich steigt, durch die Nachricht heraufbeschworen, ein düsterer Traum der Wirrnis über die friedvolle Landschaft, an der die starren Blicke jener Menschen haften.
Vom friedlichen Tal herauf mit seinen rosenfarbenen Dörfern, von den samtweichen Weiden her, von den farbenschwangeren Flächen der Berge, dem schwarzen Spitzengewebe der Tannen und dem weissen Spitzentuch des ewigen Schnees her bewegt es sich plötzlich wie lärmendes Menschendurcheinander.
Menschenmassen regen sich in sichtbaren Haufen; auf den Feldern stürzen sie zum Sturm vor, Welle auf Welle und bleiben plötzlich stecken; Häuser werden aufgeschlitzt wie Menschenleiber, und Städte stürzen wie jene Häuser. Dörfer liegen in kalkweissem Schutt, als wären sie vom Himmel auf die Erde geplatzt. Nun schleppen sich Ladungen von Toten und Verwundeten durch die Ebenen.
An den Grenzen nagt der Mord und die Nationen reissen sich ohn' Unterlass frische, vollblütige Soldaten vom Herzen; und man verfolgt mit den Augen diese Zuflüsse lebendiger Kraft in den Strom des Todes.
Im Norden, im Süden und im Osten, überall toben Schlachten in der Ferne; wohin man sich auch wendet, es gibt keine Himmelsrichtung, die nicht auf den Krieg deute.
Einer jener Bleichen zählt, auf dem Ellbogen gestützt, mit seherischem Geist die Kriegführenden auf, die gegenwärtigen und die zukünftigen: Dreissig Millionen Soldaten. Ein anderer aber stammelt, den Blick voller blutender Bilder:
– Zwei Armeen, die sich bekämpfen, sind eine grosse Armee, die Selbstmord an sich übt.
– Man hätte es nicht so weit kommen lassen sollen, meint der erste in der Reihe mit tiefer, schwindsüchtiger Stimme.
Ein andrer fügt hinzu:
– Es ist der Wiederbeginn der französischen Revolution.
– Die Throne werden wackeln! prophezeit einer murmelnd.
Der dritte aber fügt hinzu:
– Vielleicht ist es der letzte Krieg.
Dann tritt Schweigen ein und ein Schaudern geht über manche Gesichter, auf denen die fahle Tragödie der Nacht und die schweissfeuchte Schlaflosigkeit ihre bleichen Spuren hinterlassen hatte.
– Dem Krieg ein Ende setzen! Kann man wohl den Kriegen ein Ende setzen? Die Wunde der Welt ist nicht heilbar!
Jemand hustet. Dann leuchtet wieder im herrlichen Frieden der Sonne das Bild der prunkenden Wiesen, mit den glatten, sanften Kühen und den schwarzen Wäldern, den grünen Flächen und den blauen Fernen, dahinter die blutige Vision und der rote Schein des Feuers erlischt, in welchem die alte Welt brennend untergeht. Im grossen Schweigen verstummen die Hassgesänge und die Leiden der unheilvollen Weltverwirrung. Mählich zieht sich auf der Liegehalle jeder wieder in sich selbst zurück und seine Gedanken halten sich wieder an das Geheimnis seiner Lungen und das Heil seines Leibes.
Um die Stunde aber, da der Abend ins Tal schleicht, platzt ein Gewitter über dem Rücken des Mont-Blanc.
Dann ist es verboten auszugehen; denn der Abend ist heimtückisch; verspürt man doch selbst auf der Veranda – diesem Hafen, in den jene sich geflüchtet haben –, die letzten Wellen des Windes.
Diese Schwerverwundeten, die eine innere Wunde frisst, heften die Blicke auf jenes Bersten der Elemente: sie schauen zu, wie über dem Berg der Donner kracht und Wolkenbarren aufpeitscht wie ein Meer; wie er jedesmal zugleich einen Feuerpfeil ins Abenddämmern schleudert und Wolkensäulen türmt. Dann verfolgen jene fahlen Gesichter mit hohlen Wangen den Flug der Adler, die am Himmel kreisen und durch den Abenddunst hindurch vom Himmel auf die Erde hinabsehen.
– Den Kriegen ein Ende setzen, denken sie. Kann man den Gewittern ein Ende setzen?
Jene beschaulichen Menschen aber, die, an der Schwelle der Welt, geläutert von den Leidenschaften der Parteien, befreit von übernommenen Begriffen und von der blinden Macht der Ueberlieferung, das Leben überdenken, fühlen etwas wie von einer grossen Einfachheit der Dinge und ahnen Möglichkeiten, die sich auftun.
Der erste in der Reihe aber ruft aus:
– Sieht man dort unten nicht kriechende Kreaturen?
– Ja ... es sind wie lebendige Wesen.
– Sie sehn wie Gewächse aus ...
– Sind es nicht Menschen?
Im schaurigen Blitzlicht des Gewitters, unter zerfetzten Wolkenschatten, die sich dehnen und sich über die Erde strecken gleich unseligen Engeln, glauben sie eine weite Ebene zu schauen. Gestalten kriechen aus der Ebene, die lauter Kot und Wasser ist, und sie krampfen sich wie schiffbrüchige Ungeheuer an die Erde, unter der Last des Kotes, der sie blind macht. Den Beschauern aber ist, als seien es Soldaten. Die ungeheure Ebene trieft von Feuchtigkeit und die parallelen Spuren langer Kanäle durchfurchen sie; Löcher bohren sich voll Wasser in die Erde. Jener Schiffbrüchigen aber, die aus der Erde kriechen, sind es Unzählige ... Und die dreissig Millionen Sklaven, die das Verbrechen und der Irrtum in jenen Krieg des Kotes gestürzt, heben ihr Menschenantlitz empor, in welchem endlich ein Wollen keimt. Die Zukunft liegt in den Händen der Sklaven und man versteht nun, dass eine neue Welt erstehn wird in der Verbrüderung jener, deren Zahl und Elend ohne Grenzen sind.
*
Der Abend kam leise übers Land, und ein sanfter Wind, sanft wie ein flüsterndes Gespräch, begleitete ihn.
Die Häuser sassen nebeneinander an der bäuerlichen Landstrasse, die auf einige Schritte den Anstrich einer Stadtstrasse hatte. Durch die bleichen Fenster drang das Licht des Himmels nicht mehr ein, denn Lampen- und Kerzenlicht brannte und vertrieb den Abend aus den Zimmern, und man sah Schatten und Licht von Augenblick zu Augenblick den Platz wechseln.
Vor dem Dorfe, draussen bei den Feldern, irrten unbewaffnete Soldaten umher, die Nase in der Luft. Unser Tagende ist friedlich und wir geniessen dieses träumerische Nichtstun, dessen Güte man empfindet, wenn man wirklich matt und müde ist. Es war ein schöner Abend; die Ruhe hatte begonnen und man träumte von ihr. Der Abend aber schien die Gesichter ernst zu stimmen, bevor er sie in seine Schatten hüllte, und die Lauterkeit der Dinge spiegelte sich auf ihnen.
Da trat Sergeant Guilhard an mich heran, fasste mich beim Arm und zog mich fort.
– Komm, sagte er zu mir, ich will dir was zeigen.
Am Ausgang des Dorfes standen reichlich in Reihen stille Bäume, an denen man vorüberging; dann und wann, wenn der Wind über sie strich, neigten sich schliesslich die weiten Aeste mit majestätischer Ruhe.
Guilhard ging mir voraus. Er führte mich in einen krummen Hohlweg; auf beiden Seiten stand eine Heckenreihe, deren Gipfel ineinanderreichten. Wir gingen eine Weile, umgeben von zartem Grün. Ein letzter Lichtstrahl drang noch von der Seite über den Weg und streute runde, hellgelbe Flecken aus wie Goldmünzen.
– Es ist schön hier, sagte ich.
– Er sprach kein Wort, guckte nach rechts und links und blieb plötzlich stehn.
– Hier irgendwo muss es sein.
Er führte mich sodann einen kurzen, steilen Weg hinauf auf Feld; drum herum standen grosse Bäume im Viereck. Es duftete stark nach gemähtem Heu.
– Schau, sagte ich, als ich den Boden beobachtete, hier ist die Erde ganz zertreten. Hier hat sich eine Zeremonie abgespielt.
– Komm, sagte Guilhard zu mir.
Er führte mich auf das Feld, nicht allzuweit hinein. Dort standen ein paar Soldaten beieinander und sprachen leise. Mein Begleiter streckte die Hand aus.
– Hier ist es, sagte er.
– Ein paar Schritte vor dem Hag junger Bäume stand ein niederer, kaum ein Meter hoher Pfahl aus der Erde.
– Hier ist heute morgen der Soldat vom 204ten erschossen worden. – Nachts haben sie den Pflock eingerammt. Am Morgengrauen haben sie den Mann hergeschleppt. Die Leute von seiner Korporalschaft haben ihn erschossen. Er hatte sich aus dem Schützengraben drücken wollen; während der Ablösung war er zurückgeblieben und war ganz sachte ins Quartier zurück. Weiter hat er nichts verbrochen. Wahrscheinlich haben sie ein Exempel statuieren wollen.
Wir näherten uns der Soldatengruppe, die sich leise unterhielt.
– Bewahre, sagte einer. Es war kein Galgenstrick: es war so ein steinfester Kerl, wie man sie manchmal sieht. Wir waren miteinander eingerückt. Er war ein Mensch wie wir, nicht mehr und nicht weniger – ein bissel bequem, weiter nichts. Er stand seit Kriegsanfang in der vordersten Linie, und ich hab ihn nie besoffen gesehn.
– Nun hast du aber nicht alles gesagt; leider hatte er eine üble Vergangenheit. Ihrer zwei, weisst du, haben das Stückchen ausgeführt. Der andere hat zwei Jahre Gefängnis gekriegt. Aber Cajard 1 wegen einer Strafe, die er aus dem Zivil noch hatte, ist um die mildernden Umstände gekommen. Er hatte mal im Zivil irgend was im Suff angedreht.
– Man sieht ein wenig Blut auf dem Boden, wenn man hinschaut, sagte ein Mann, der über die Stelle sich bückte.
– Nichts hat gefehlt, erzählte ein anderer, die ganze Zeremonie von A bis Z, der Oberst zu Pferd, die Degradation; dann haben sie ihn angebunden an diesen kleinen Pfahl, an den Viehpflock. Knien hat er müssen oder auf den Boden hocken mit so 'nem kleinen Pfosten.
– Es wäre nicht zu begreifen, sagte ein dritter, wenn nicht die Geschichte mit dem Exempel gewesen wäre, was der Sergeant vorhin sagte.
Auf dem Pfosten standen Aufschriften und Protestationen, die die Soldaten draufgekritzelt hatten. Ein rohes, aus Holz geschnitztes Kriegskreuz war daran genagelt mit der Aufschrift: »Cajar, seit August 1914 eingerückt, das dankbare Frankreich.«
Als ich ins Quartier zurückkam, sah ich Volpatte, der, von den andern umringt, Geschichten erzählte, wohl irgend ein neues Erlebnis aus seiner Reise bei den Glücklichen.
*
Es war schauderhaftes Wetter. Wasser und Wind fuhren an die Vorübergehenden, überschwemmten und zerwühlten die Wege und höhlten sie aus.
Ich war zum Fassen gewesen und kehrte ins Quartier zurück, das am Dorfende lag. Durch den dichten Regen hindurch schien an jenem Morgen die Landschaft schmutziggelb, und der Himmel war schwarz – wie von Schiefer bedeckt. An den Mauern entlang patschten gedrückte Gestalten vorbei, verschämt in sich verkrochen.
Trotz Regen, scharfem Wind und niedriger Temperatur hatten sich Leute an der Hoftüre des Gehöftes, in dem wir einquartiert waren, angesammelt. Männer standen dicht aneinander und sahen von weitem einem krabbelnden Schwamm ähnlich. Diejenigen, die über die Schultern und zwischen die Köpfe der andern hindurchguckten, rissen die Augen weit auf und sagten:
– Der Kerl ist nicht von Pappe!
– Wenn der heut die Gänsehaut nicht kriegt, dann kriegt er sie überhaupt nie!
Dann gingen die Neugierigen wieder auseinander, schritten mit roten Nasen und triefendem Gesicht durch den peitschenden Regen und den kneifenden Wind und liessen die Hände, die sie staunend zum Himmel gehoben hatten, wieder sinken und bohrten sie in ihre Taschen.
Mitten auf dem Hof aber blieb, vom Regen begossen, der Urheber dieser Ansammlung zurück: es war Fouillade, der sich mit nacktem Oberkörper gründlich wusch.
Mager wie ein Insekt fuchtelte er mit seinen dünnen Armen in hitziger Wut herum, seifte sich den Kopf ein und begoss ihn, den Hals und die Brust bis zum hervorstehenden Gitter seiner Rippen. Die energische Operation hatte auf seine trichterförmig eingefallenen Backen einen weissen Flockenbart ausgebreitet und auf dem Gipfel seines Schädels schäumte ein schlüpfriger Haarbüschel, in welchen der Regen kleine Löcher stach.
Als Waschbecken benützte der Patient drei Gamellen, die er mit Wasser gefüllt hatte; wo er aber das Wasser aufgetrieben hatte, konnte man nicht wissen; denn es gab kein Wasser in diesem Dorfe; und da er im allgemeinen himmlischen und irdischen Geriesel nirgends etwas hätte hinlegen können, stopfte Fouillade sein Handtuch jedesmal nach Gebrauch in seinen Hosengurt und die Seife nach dem Einseifen in die Tasche.
Die letzten, die noch zurückgeblieben waren und diese epischen Gebärden mitten im Unwetter bestaunten, wiederholten mit Kopf schütteln:
– Der hat die Waschkrankheit, der.
– Weisst du, dass er eine Ehrenauszeichnung kriegen soll wegen der Geschichte im Granatenloch mit Volpatte?
– Na, die hat er sich nicht ungerechterweise gestohlen, die Ehrenauszeichnung, gottnocheinmal!
Und unbewusst brachte man die beiden Heldentaten durcheinander, die Schützengrabengeschichte mit der Geschichte im Granatenloch; und Fouillade wurde als der Held des Tages angestaunt; währenddessen pustete, schnaubte, keuchte, ächzte, spuckte und versuchte er, sich unter der Himmelsdusche mit hastigen und plötzlichen Bewegungen abzutrocknen; dann kleidete er sich schliesslich wieder an.
*
Nachdem er sich aber gewaschen hatte, fror er. Er trippelt auf der gleichen Stelle umher und stellt sich aufrecht an den Eingang der Scheune, in der wir hausen. Der eisige Wind pustet flache Flecken auf die Haut seines hohlen und gebräunten Gesichtes, zieht ihm Tränen aus den Augen und fegt sie auf seine Backen, die einst unterm Mistral erglühten; auch seine Nase weint regnerisch.
Schliesslich unterliegt er dem bissigen Wind, der ihm die Ohren zupft, obwohl er sein Halstuch um den Kopf gewickelt hat, und trotz der gelben Binden, die seine Hahnenbeine beschützen; dann tritt er in die Scheune, aber geht sofort wieder hinaus, wirft wütende Blicke um sich und schimpft: »Pute de moine!« und »Voleur!« knurrt er mit dem Akzent, der tausend Kilometer von hier, in jenem Landstrich, aus dem ihn der Krieg verbannte, aus der Kehle klingt.
Dann bleibt er draussen stehn, und fühlt sich fremder als je in dieser nördlichen Gegend. Der Wind schleicht heran, schlüpft in ihn hinein, und faucht ihn an mit barschem Ruck, schüttelt und quält die fleischlosen, leichten Formen seiner Vogelscheuchengestalt.
Sie ist auch kaum bewohnbar – coquine de Dious! – die Scheune, die man uns für diese Ruhezeit angewiesen hat. Ein Loch ist dieses Obdach, ein düstres Loch, das wie ein Brunnen rieselt. Die eine Hälfte liegt vollständig unter Wasser, und Ratten schwimmen obenauf, auf der andern Hälfte hockt die Mannschaft. Die Mauern bestehen aus Brettern, die mit getrocknetem Kot aneinanderkleben; sie haben Risse, Brüche und Schlitze ringsherum und oben klaffen weite Löcher. Nachdem wir nachts angekommen waren, hatten wir zwar bis zum Morgen die Ritzen, die man erreichen konnte, mit Zweigen, Blättern und Flechtwerk, so gut es ging, verstopft. Aber die oberen Löcher und das Dach klafften immer noch. Während das Licht nur spärlich hineinreicht, fährt im Gegenteil der Wind mit Wut hinein, saugt sich von allen Seiten mit Gewalt durch, und die Korporalschaft ist dem Ansturm eines ewigen Durchzuges ausgesetzt.
Wenn man drin ist, bleibt man aufrecht in diesem zerwühlten Halbschatten stehn, tastet umher, schlottert und seufzt.
Fouillade, den der stechende Wind noch einmal. hineingejagt hat, bereut es, sich gewaschen zu haben. Das Kreuz und die Seite schmerzen ihn. Er möchte irgend etwas tun, aber was?
Sich setzen? Unmöglich. Es ist zu dreckig in der Scheune; die Erde und das Pflaster bedeckt eine Kotschicht, und das Stroh, auf dem wir schlafen, ist ganz feucht vom durchsickernden Wasser und von den Füssen, die ihren Kot dran abstreifen. Ausserdem friert man, sobald man sitzt; legt man sich aber auf's Stroh, so stört der Mistgeruch und die Ammoniakdünste, die einem die Kehle zuschnüren ... Fouillade begnügt sich damit, die Stelle, auf der er steht, anzuschauen; dann gähnt er sich seinen langen Kiefer aus, den ein Ziegenbart noch verlängert und an welchem man weisse Haare unterscheiden könnte, wenn das Tageslicht wirklich Licht wäre.
– Die andern Kameraden und Hockpflöcke, sagt Marthereau, müsst euch nicht einbilden, dass die es besser oder schlechter haben, als wir. Nach dem Essen war ich bei einem Hasen von der elften, in der Scheune neben der Karbolkaserne. Ueber eine Mauer muss man klettern, dann kommst du auf eine Leiter, die zu kurz ist – stell dir die Scherenspreize vor, sagt Marthereau, der auf zwei kurzen Beinen steht –, und bist du endlich in dem Hühnerstall drin, und in dem Kaninchenstall, da rennst du überall alles an und stehst jedem und allen im Weg. Weisst nicht wohin mit deinen Hammelskeulen, gedrückt hab ich mich, gekrochen bin ich.
– Ich hab mir zum Futtern, sagt Cocon, bei einem Hufschmied gegen Geld was Warmes pumpen wollen. Gestern hat er noch Saft verkauft, aber heut morgen hat er die Polizei zu Besuch bekommen und jetzt hat der Kerl 's Gänsefieber und verriegelt die Tür.
Fouillade hat sie gesehn, wie sie gesenkten Hauptes heimkamen und auf ihre Streu niedergesunken sind,
Lamuse versuchte sein Gewehr zu putzen. Aber hier kann man unmöglich sein Gewehr putzen, auch wenn man sich bei der Tür auf den Boden setzt, oder das nasse, harte und eiskalte Zelttuch zurückschlägt, das wie Eiszapfen davor hängt; denn es ist zu dunkel.
– Und überhaupt, wenn du hier eine Schraube fallen lässt, alte Tante, du kannst dich hängen und findst sie doch nicht, namentlich wenn man noch obendrein friert und dann sowieso keine gescheiten Beine hat.
– Ich hätte schon was zu flicken, aber fällt mir nicht ein. Bleibt also nur noch eines: sich nämlich auf's Stroh hinzulegen; zuvor aber muss man den Kopf in ein Taschentuch oder ein Handtuch wickeln zum Schutz gegen den agressiven Gestank, den das gährende Stroh verbreitet; und dann kann man schlafen. Fouillade, der heute weder zum Fassen noch zum Wachdienst befohlen ist, verfügt über seine ganze Zeit und entschliesst sich dazu. Er steckt eine Kerze an und kramt in seinen Siebensachen, rollt den Schlauch seines Halstuches auf, und dabei sieht man das Schattenbild seiner schwindsüchtigen Gestalt sich krümmen und wieder aufrichten.
– An die Kartoffeln! He dadrinn, ihr kleinen Lämmer! brüllt auf der Türschwelle eine tönende Stimme aus einer Kapuzengestalt.
Es ist Sergeant Henriot. Er ist gutmütig und schlau, er reisst mit einer sympathischen Grobheit Witze und überwacht dabei die Leute im Quartier, dass keiner sich drücke. Draussen, im endlosen Regen, trippelt auf der triefenden Strasse der zweite Zug; auch er ist von seinem Adjutanten geholt worden und wird zur Arbeit geschoben. Beide Züge nehmen Fühlung. Man marschiert die Strasse hinauf und steigt auf den glitschigen Erdhügel, auf dem die Gulaschkanone steht.
– Vorwärts, Kinder, rührt ein bisschen die Ellenbogen, wenn jeder mitmacht, dann dauert's nicht lange ... Was? Hast du wieder was zu knurren, du? Hilft ja doch nichts?
Zwanzig Minuten drauf kehren wir im Laufschritt wieder heim. In der Scheune berührt und betastet man nur noch triefende Gegenstände und feuchte und frostige Gestalten; der beissende Geruch nasser Tiere gesellt sich zum Jauchedunst, der über unsere Betten weht.
Dann stehn wir beieinander um die Stützpfosten der Scheune und um die Regenfäden, die durch die Dachspalten senkrecht in die Scheune rieseln, wie dünne Säulchen mit Kotspritzern als Säulenfuss.
– Da kommen sie! schreit man plötzlich.
Zwei triefende und tropfnasse Gestalten versperren hintereinander die Türe; es sind Lamuse und Barque, die nach einem Ofen ausgegangen waren und nun von dieser Expedition zurückkehren; sie sind enttäuscht, verstimmt und wütend: »Nicht die Spur von einem Ofen aufzutreiben. Uebrigens weder Kohle noch Holz, und wenn du dein Letztes dafür hergibst.«
Es ist also unmöglich, ein Feuer anzuzünden.
– Nichts zu machen, und wo ich nichts finde, findet keiner was, sagt Barque mit einem Stolz, den hundert Ruhmestaten rechtfertigen.
So bleibt man denn stehn und rührt sich nicht; dann drückt man sich langsam auf einen andern Platz des engen Raumes, der zur Verfügung steht, und das grosse Elend ruft düstere Gedanken wach.
– Wem gehört die Zeitung?
– Mir, sagte Becuve.
– Was sagt er? Ja Scheisse, man kann ja doch nicht lesen in der Dunkelheit!
– Da behaupten sie, sie hätten jetzt das nötige eingerichtet, damit der Soldat den Schützengraben heizen könne. Alles haben sie, die Soldaten, was sie brauchen, Wollsachen, Hemden, Oefen und Kohle haufenweise, bis in die vordersten Schützengräben.
– Jawohl, Gottverdammich! murrten einige jener armen Gefangenen in der Scheune und halten der Leere draussen und der Zeitung die geballte Faust entgegen.
Aber Fouillade hört nicht zu. Er hat sein langes, bläuliches Don Quichottegestell in den Schatten gelegt und streckt die Violinseiten seines dürren Halses; denn auf dem Boden liegt ein Etwas, das ihn anzieht.
Es ist Labri, der Hund der andern Korporalschaft.
Labri, ein Bastard von einem Schäferhund mit gestutztem Schwanz, liegt als rundes Knäuel auf einer sehr dünnen Strohschicht.
Er betrachtet Labri, und Labri schaut ihn an.
Bécuve nähert sich ihm und sagt mit seinem singenden Akzent von Lille:
– Er will nichts fressen. Es ist ihm nicht wohl, dem Hund. Sag, Labri, was fehlt dir! Komm, da hast du dein Brot und dein Fleisch. Komm, 's ist gut, komm, schluck's runter ... Er hat lange Weile, er leidet. An einem schönen Morgen wird er verreckt auf dem Boden liegen.
Labri ist nicht glücklich. Der Soldat, dem er anvertraut ist, behandelt ihn ohne Liebe und quält ihn gern und sonst kümmert er sich nicht sehr um ihn. Das Tier ist den ganzen Tag angebunden. Er friert, fühlt sich nicht wohl und ist sich selbst überlassen. Er lebt nicht sein eigentliches Leben. Dann und wann steigen ihm Hoffnungen auf, ob er wohl jetzt ausgehn könne, wenn sich alles um ihn in Bewegung setzt; dann steht er auf, streckt sich und schwänzelt ein wenig. Aber es war eine Täuschung; dann legt er sich wieder hin und schaut mit Absicht nach einem noch fast vollen Napf.
Er langweilt sich, das Dasein ekelt ihn an. Und wenn er auch den Kugeln und Granatsplittern, denen er ebenso ausgesetzt ist wie wir, entwischt, so stirbt er schliesslich doch hier.
Fouillade legt seine magere Hand auf den Schädel des Hundes, der ihn wiederum ansieht. Beider Blicke sind gleich, mit dem einzigen Unterschied, dass der eine von oben kommt und der andere von unten.
Fouillade hat sich schliesslich doch in eine Ecke gesetzt und birgt die Hände unter die Falten seines Mantels; seine langen Beine aber sind zusammengelegt wie ein Klappstuhl.
Er träumt und versteckt die Augen unter seine bläulichen Lider. Er sieht ferne Bilder. Es ist gerade die Zeit, da das ferne Land, von dem er sich trennen musste, in lieblicher Stimmung erblüht, das südliche Frankreich, das duftende und bunte Land, und die Strassen von Cette. Das alles sieht er so deutlich, so nahe, dass er das Geräusch der Kanalschiffe hört und das Abladen auf den Docks, und ihm ist, als rufe ihn dieser heimatliche Lärm deutlich zurück.
Oben auf dem Weg, der so stark nach Thymian und Immortellen riecht, dass der Duft einem im Munde liegt und fast zum Geschmack wird, mitten im Sonnenlicht, im warmen, duftenden Wind, der wie ein Flügelschlag jener Sonnenstrahlen ist, auf dem Mont Saint-Clair, dort oben blüht und grünt das Häuschen der Seinen. Von dort aus sieht man zugleich, grün wie eine Flasche, den Teich von Thau und das Mittelländische Meer himmelblau ineinanderfliessen; und manchmal auch erblickt man am indigoblauen Himmel das gezackte Phantom der Pyrenäen.
Dort ist er geboren, dort ist er aufgewachsen, glücklich und frei. Dort spielte er auf der goldroten Erde, und sogar das Soldatenspiel hat er gemacht. Wenn er seinen Holzsäbel schwang, röteten sich begeistert seine runden Backen, die jetzt eingefallen sind, als seien sie vernarbt ... Er öffnet die Augen, schaut um sich, nickt mit dem Kopf und sehnt sich nach der Zeit zurück, als er über den Krieg und den Ruhm noch eine edle, begeisterte und sonnige Vorstellung hatte.
Dann hält er die Hand vor die Augen, das Bild in seinem Herzen festzuhalten.
Jetzt sieht es freilich anders aus.
Dort oben, am gleichen Ort, hat er Clémence gekannt. Das erstemal war sie vorbeigegangen, sonnenreich. Sie trug in ihren Armen ein Bündel Stroh und war ihm so blond vorgekommen, dass ihn das Stroh daneben kastanienbraun dünkte. Das zweitemal war sie in Begleitung einer Freundin. Beide waren sie stehn geblieben, und hatten ihn angeschaut. Er hörte sie tuscheln und wandte sich ihnen zu. Als sie aber merkten, dass sie entdeckt waren, hatten sich die jungen Mädchen im Rauschen ihrer Kleider davongemacht und lachten dabei wie Feldhühnchen.
Dort hatten sie dann beide ihr Häuschen hingebaut. Davor stehn Rebstöcke, die er das ganze Jahr hindurch im Strohhut pflegte. An der Gartentür steht der Rosenstock, den er genau kennt und der sich seiner Dornen bedient, nur um ihn ein wenig zurückzuhalten, wenn er vorbeigeht.
Wird er jemals wieder dahin zurückkehren? Ach! er blickte zu tief in die Vergangenheit zurück, um jetzt die Zukunft nicht in ihrer schrecklichen Deutlichkeit zu erkennen. Er muss an das Regiment denken, das nach jeder Ablösung so schrecklich mitgenommen worden ist, und an all die vergangenen und kommenden Leiden und auch an die Krankheit; dann denkt er auch daran, wie der Mensch sich dabei abnützt ...
Dann steht er auf, schüttelt den Traum der Vergangenheit und die Gedanken an die Zukunft ab. Dann fällt er zurück in die vom Winde gepeitschten eisigen Schatten, mitten unter jene umherliegenden und entwurzelten Männer, die in der Dunkelheit auf den Abend warten; er fällt zurück in die Gegenwart und schlottert weiter.
Dann macht er zwei Schritte mit seinen langen Beinen und stolpert über ein paar Kameraden, die zum Zeitvertreib mit gedämpfter Stimme vom Essen sprechen und sich damit trösten.
– Bei uns, sagt einer, macht man mächtige, runde Brote, gross wie ein Wagenrad, stell dir vor!
Und der betreffende reisst vor Freude die Augen weit auf, die heimatlichen Brote zu schauen.
– Bei uns, unterbricht ihn der arme Südländer, dauert ein Festessen so lang, dass das Brot am Anfang ganz frisch ist, und wenn's fertig ist, ist es altbacken!
– Ein Tröpfchen gibt's bei uns ... der sieht so nach nichts aus, der Tropfen, und doch, wenn er nicht fünfzehngradig ist, dann will ich's Maul halten!
Dann erzählt Fouillade von einem fast violetten Rotwein, der's Mischen gut erträgt, als sei er dazu geboren.
– Bei uns, sagt einer aus dem Bearn, bei uns hat man den »Jurancon«; aber den richtigen, nicht was man sonst unter dem Namen verkauft und von Paris kommt. Ich kenne gerade einen Rebenbesitzer davon.
– Wenn du mal hinkommst, sagt Fouillade, ich hab zu Hause alle möglichen Muskatweine, die ganze Tonleiter in allen Farben; wie Seidenmuster sieht das aus. Wenn du mal zu mir kommst für einen Monat, geb ich dir alle Tage einen andern zu kosten, jawohl Kleiner.
– Das gäb 'ne Schlemmerei, antwortet der Soldat dankbaren Herzens.
Nun begeistert sich Fouillade an diesen Weinerinnerungen, in die er sich vertieft und erinnert sich dabei auch an den sonnigen Knoblauchduft seines heimatlichen Mittagtisches.
Der Duft des blauen Landweines und der fein abgetönten Liqueurweine steigt ihm zu Kopfe im trägen und traurigen Windsturm, der durch die Scheune faucht.
Plötzlich denkt er wieder dran, dass im Dorf, in dem wir einquartiert sind, ein Wirt aus Beziers wohnt. Magnac hat ihm gesagt: »Komm doch mal zu mir, wir trinken dann Wein aus der Heimat, du Luder! Ich hab zu Haus ein paar Flaschen, über die du mir ein bisschen was erzählen kannst, wenn du gesoffen hast.«
Und Fouillade fühlt sich plötzlich von dieser Aussieht wie geblendet. Freudig bebt er am ganzen Leib von oben bis unten, wie einer, der sich seiner Bestimmung bewusst wird ... Südwein trinken und dazu noch aus seiner engern südlichen Heimat, und viel davon trinken ... wie schön wäre es, das Leben einmal wieder in rosigen Farben zu sehn, und wenn's nur einen Tag dauerte! Ja gewiss, er muss jetzt Wein haben und sehnt sich danach, sich zu betrinken. Auf der Stelle verlässt er die Kameraden, stracks zu Magnac, sich an seinen Tisch zu setzen.
Aber beim Ausgang – beim Eingang stösst er mit dem Korporal Broyer zusammen, der die Strassen wie ein Zeitungsjunge durchläuft und in jede Tür hineinschreit:
– Zum Rapport!
Die Kompagnie tritt im Viereck auf dem glitschigen Hügel an, auf dem die Feldküche Russ in den Regen spuckt.
– Nach dem Rapport geh ich saufen, denkt Fouillade.
Und er horcht, geistesabwesend, und ganz in seinen Gedanken vertieft. Aber so ungenügend er auch hinhorcht, so hört er doch die Worte des Vorgesetzten: »Striktes Verbot, das Quartier zu verlassen vor fünf Uhr und nach acht Uhr.« Und ohne das Murmeln der Soldaten ringsum weiter zu beachten, fügt er diesem höheren Befehl noch folgende Erklärung hinzu:
– Hier befindet sich der Divisionsstab. Solang ihr hier seid, soll sich keiner sehn lassen. Versteckt euch. Wenn euch der Divisionsgeneral auf der Strasse sieht, kriegt ihr sofort inneren Dienst. Er will keinen Soldaten sehn. Bleibt den ganzen Tag in euern Quartieren. Macht was ihr wollt, aber lasst euch nicht blicken, keiner.
Daraufhin kehrte man wieder in die Scheune zurück.
*
Es ist zwei Uhr. Also erst in drei Stunden wird man sich, bei vollständiger Dunkelheit, hinauswagen können, ohne bestraft zu werden.
Solange schlafen? Fouillade ist nicht mehr schläfrig; die Hoffnung auf Wein hat ihn aufgerüttelt. Und wenn er am Tag schläft, wird er nachts nicht schlafen können. Und das auf keinen Fall! Mit offenen Augen die Nacht durchwachen ist schlimmer, als ein schlechter Traum.
Das Wetter wird noch schlechter; Regen und Wind setzen doppelt ein, draussen und drinnen ...
Was dann? Wenn man weder stille stehn, noch sitzen, noch liegen, noch bummeln, noch arbeiten kann, was dann?
Eine wachsende Not überfällt dieses Häuflein müder und frierender Soldaten, die in ihrem Fleische leiden und nicht wissen, was sie mit ihrem Körper anfangen sollen.
– Gottverdammich! Hat man's hier schlecht!
Und sie schreien es gottverlassen aus, wie eine Leidklage und einen Hilferuf.
Dann geben sie sich instinktiv der einzig möglichen Beschäftigung hin: auf der gleichen Stelle auf- und abgehn, um dem Einrosten der Gelenke und der Kälte zu entwischen.
Nun gehn sie eifrig auf und ab, der Länge nach, der Breite nach in diesem engen Lokal, das nur drei gute Schritte lang ist; und sie gehn im Kreis herum, kreuzen sich, streifen aneinander, nach vorne gebeugt, die Hände in den Taschen und klopfen den Boden mit den Sohlen ab. Diese Wesen, die der Wind dann noch peitscht, wenn sie auf ihrem Stroh liegen, gleichen einer Herde elender Grosstadtopfer, die unterm herunterhängenden Winterhimmel darauf warten, dass sich die Türe eines barmherzigen Asyls öffne. Aber die Türe wird sich für sie nicht öffnen, höchstens in vier Tagen, nach der Ruhepause, wenn's eines Abends wieder in den Schützengraben geht.
Cocon hockt alleine in einer Ecke. Die Läuse quälen ihn, aber er ist matt von Kälte und Feuchtigkeit und findet den Mut nicht, die Wäsche zu wechseln; so bleibt er sitzen, finster, unbeweglich und angefressen ...
Als es aber allmählich gegen fünf Uhr zugeht, berauscht sich Fouillade wieder an dem Gedanken, Wein zu trinken, und er wartet, einen Lichtstreif in der Seele.
– Wie spät ist es? ... dreiviertel fünf ... fünf Minuten bis fünf ... Jetzt aber!
Er ist draussen; es ist stockfinstre Nacht. Mit grossen, klatschenden Sätzen hüpft er nach der Wirtschaft seines freigebigen und redeseligen Landsmanns Magnac. Nur mit grosser Mühe findet er in der Dunkelheit und dem Tintenregen die Türe! Was heisst das, kein Licht? Heiliges Donnerwetter, alles zu! Er zündet ein Streichholz an, schützt die Flamme mit seiner lampenschirmdünnen Hand und liest auf einem schicksalschweren Zettel die Worte: »Es ist den Soldaten verboten, in dieser Wirtschaft einzukehren.« Magnac, der sich irgend etwas hat zu schulden kommen lassen, ist in der Dunkelheit zum Nichtstun verdammt.
Fouillade kehrt der Wirtschaft den Rücken, die nunmehr dem einsamen Gastwirt zum Gefängnis geworden ist. Aber er gibt seinen Traum nicht auf. Er will anderswo hin, sich mit gewöhnlichem Wein begnügen und wird ihn zahlen, sehr einfach.
Er steckt die Hand in die Tasche und betastet seinen Geldbeutel. Da ist er.
Es müssen siebenunddreissig Sous drin sein, 's ist zwar kein Vermögen, aber ...
Plötzlich aber fährt er zurück, bleibt stehn und haut sich einen Klapps auf die Stirne. Sein endloses Gesicht schneidet eine schreckliche Fratze, die die Nacht verschleiert.
Nein, er hat ja keine siebenunddreissig Sous mehr! Dummes Arschloch! Er vergass die Sardinenbüchse, die er tags vorher gekauft hatte, so verflucht hatten die grauen Rationsmakkaroni geschmeckt, und dann die Gläschen, die er dem Schuster zahlte, als er ihm seine Kähne wieder frisch benagelt hatte.
O Elend! Er hat nur noch ungefähr dreizehn Sous! Und er müsste zu einem anständigen Schwips mindestens anderthalb Liter Wein haben, wenn er sich an der Gegenwart rächen wollte. Zum Verrecken! Hier kostet der Liter Rotwein einundzwanzig Sous. Zu dem langt es lange nicht.
Er schaut sich um in der Nacht und sucht nach jemandem. Vielleicht findet er einen Kameraden, der ihm was pumpen oder ihm einen Liter zahlen würde.
Aber wer, wer? Bécuve kaum, er hat nur eine Marraine, die ihm alle vierzehn Tage Tabak und Briefpapier schickt. An Barque ist auch nicht zu denken. Blaire ist geizig und hätte keinen Sinn dafür. Auch Biquet nicht, der ihn schief ansieht, Pépin schon gar nicht; der bettelt selber und zahlt nie, auch wenn er einen einladet. Ja, wenn Volpatte hier wäre! ... Mesnil André würde schon, aber er schuldet ihm schon mehrere Runden. Korporal Bertrand? Der hat ihn auf eine Bemerkung hin barsch ins Bett geschickt und seither sehn sie einander schief an. Farfadet? Mit dem spricht er nur selten ... Nein, er sieht entschieden ein, dass er Farfadet gar nicht drum bitten kann. Und übrigens, was nützt das Nachgrübeln überhaupt? Weiss der Teufel, wo die Kerle jetzt alle stecken?
Langsamen Schrittes kehrt er wieder nach unserer Behausung zurück. Dann macht er automatisch kehrt und schreitet wieder nachdenklichen Schrittes vorwärts. Er will's doch mal versuchen. Vielleicht dass gerade Kameraden beim Weine ... Er erreicht das Zentrum des Dorfes gerade um die Stunde, da die Nacht die Erde verhüllt.
Die hellen Türen und Fenster der Weinpinten lassen ihr Licht in den Kot der Hauptstrasse tropfen. Alle zwanzig Schritte steht eine. Man erkennt die klobigen Schatten der Soldaten, die meist gruppenweise die Strasse herunterkommen. Fährt ein Auto vorbei, so drückt man sich auf die Seite und lässt es vorüberfahren; dabei steht man geblendet von den Laternen und bespritzt vom flüssigen Schmutz, den die Räder auf die ganze Strassenbreite schleudern.
Die Pinten sind dicht besetzt. Durch die dunstigen Scheiben sieht man eine dichte Wolke behelmter Männer, die die Stuben füllt.
Fouillade tritt in die erste beste ein. Gleich auf der Schwelle beglückt ihn die laue Wärme der Pinte, das Licht, der Geruch und der Lärm der Gespräche. Dies Beieinanderhocken ist doch wie ein Stück Vergangenheit in der Gegenwart.
Er schaut sich um, geht von Tisch zu Tisch, drückt sich durch und stört die Hockenden, dass ihm keiner entgehe. Verflucht! Kein einziger Bekannter.
Anderenorts ist es die gleiche Geschichte. Sosehr er den Hals streckt und so verzweifelt er sich auch nach einem Bekannten umschaut, unter diesen Uniformen, die in dichten Haufen oder Paarweise trinken und sich unterhalten oder einsam beim Schreiben sitzen, er hat eben kein Glück. Wie ein Bettler sieht er aus und niemand beachtet ihn.
Nachdem ihm aber keine gute Seele zu Hilfe kommt, entschliesst er sich wenigstens das auszugeben, was er in der Tasche hat und schleicht bis zum Schenktisch.
– Ein Schöppchen Wein, aber guten ...
– Weissen?
– Ja, ja!
– Ihr seid wohl vom Süden, sagt die Wirtin, reicht ihm ein volles Fläschchen und ein Glas und kassiert die zwölf Sous ein.
Dann setzt er sich an eine Tischecke, an der schon vier Trinker in eine Manille vertieft sind; er füllt das Glas bis oben ah und leert es und füllt es wieder.
– He! zum Wohl, hau 's Glas nicht kaput! bellt ihm ein neuer Gast ins Gesicht. Er trägt ein blaues und verkohltes Arbeitskleid und hat mitten in seinem bleichen Gesicht einen Streifen dichter Augenbrauen, einen komisch zugespitzten Schädel und ein halb Pfund Ohren dran. Es ist Harlingue, der Waffenschmied.
Fouillade kommt sich alleine bei seinem Schoppen in Gegenwart eines Kameraden, der die Anzeichen des Durstes offensichtlich an sich trägt, nicht sehr glorreich vor. Aber Fouillade stellt sich dumm, als verstehe er das Begehren des Herrn nicht, der vor ihm mit einem einladenden Lächeln auf dem Gesicht hin- und hertänzelt, und leert das volle Glas. Dann macht der andere rechtsumkehrt und murmelt vor sich hin, »nicht sehr mitteilsam und eher süffig, die Südländer«.
Fouillade hat sein Kinn auf die Faust gestützt und starrt, ohne ihn zu sehn, nach einer Stubenecke, in der die Soldaten aufeinanderhocken, Ellenbogen an Ellenbogen, und sich drücken und drängen, wenn einer durch will.
Er war nicht schlecht, dieser Weisse, schon wahr, aber was konnten diese paar Tropfen in Fouillades Wüste ausrichten? Die Sehnsucht war kaum verschwunden und stellte sich bereits wieder ein.
Dann stand der Südländer auf und ging hinaus, seine zwei Glas Wein im Magen und einen Sou im Geldbeutel. Noch einmal findet er den Mut einzukehren, die Pinte mit den Blicken auszuforschen, um dann den Ort wieder zu verlassen, indem er folgende Entschuldigungsworte vor sich hinbrummt: »Hildepute! Nie ist er da, das Rindvieh!«
Dann kehrt er ins Quartier zurück. Dort hat der Wind sein Fauchen nicht eingestellt und immer noch tropft der Regen hinein. Fouillade zündet seine Kerze an und bei ihrem Schein, der verzweifelt hin- und herflackert, als wolle er davonfliegen, sucht er Labri auf.
Er kniet, die Kerze in der Hand, vor das arme Tier, das vielleicht noch vor ihm sterben wird. Labri schläft, aber nur schwach, denn er öffnet sogleich ein Auge und rührt seinen Schwanz.
Fouillade aber streichelt ihn und sagt 'ganz leise:
– Nichts zu machen. Nichts ...
Er will vor Labri nicht mehr davon reden, um ihn nicht zu betrüben; aber der Hund wackelt zustimmend mit dem Kopf, bevor er die Augen wieder schliesst.
Dann steht Fouillade wieder auf, nicht ohne Mühe, denn seine Gelenke sind eingerostet; und schliesslich legt er sich schlafen.
Jetzt hat er nur noch die eine Hoffnung: schlafen zu können, damit dieser schaurige Tag ein Ende nehme, dieser Tag der Leere, dieser Tag, der noch öfters seinesgleichen haben wird und heldenmütig überwunden werden muss; bis endlich der letzte Tag erscheinen wird, der letzte Tag des Krieges oder der letzte seines Lebens.
*
– Heut ist es neblig. Wollen wir gehn?
Poterloo hat diese Frage an mich gerichtet und sieht mich an mit seinem gutmütigen, blonden Kopf, dem das blaue Augenpaar eine gewisse Durchsichtigkeit verleiht.
Poterloo ist von Souchez gebürtig, und seit die Jäger Souchez endlich wieder zurückerobert haben, möchte er das Dorf wiedersehn; er hatte dort einst glücklich gelebt, zur Zeit, als er noch ein Mensch war.
Eine gefährliche Wallfahrt. Nicht, dass es weit wäre; Souchez liegt dort ganz in der Nähe. Seit sechs Monaten sitzen und arbeiten wir, sozusagen auf Sprechweite vom Dorf entfernt, im Schützengraben und in den Laufgräben. Es handelt sich einfach drum, von hier aus gerade hinauf auf die Strasse von Béthune zu klettern, an der sich der Graben hinschlängelt und darunter die Zellen unserer Schutzlöcher liegen. Dann geht's noch vier- oder fünfhundert Meter die Strasse abwärts nach Souchez. Aber diese ganze Gegend wird regelmässig und fürchterlich beschossen. Seit ihrem Rückzug schicken die Deutschen mächtige Geschosse hinüber, die von Zeit zu Zeit unsere unterirdische Behausung donnernd erschüttern; dabei sieht man bald hier bald dort schwarze Erde und Schutt über die Böschung hoch aufspritzen und senkrechte Rauchsäulen turmhoch aufsteigen. Warum sie Souchez beschiessen, weiss man nicht; denn kein Mensch, kein Haus steht mehr im Dorf, das erobert und wieder erobert wurde, nachdem man es sich gegenseitig hartnäckig immer wieder entrissen hatte.
Heute morgen allerdings hüllt uns ein dichter Nebel ein; unter dem Schutze dieses grossen Schleiers, den der Himmel auf die Erde wirft, könnte man es wagen ... Jedenfalls wird man bestimmt nicht gesehn werden. Der undurchsichtige Nebel verschleiert die Fernsicht für die Instrumente, die irgendwo dort oben in der Nebelwatte eingewickelt sind, und der Nebeldunst bildet eine leichte und undurchsichtige Mauer zwischen unseren Linien und dem Beobachtungsposten von Lens und Angres, wo der Feind auf der Lauer liegt.
– Abgemacht! sag ich zu Poterloo.
Adjutant Barthe, den wir einweihten, nickte mit dem Kopfe und senkte die Lider zum Zeichen, dass er die Augen zudrücken wolle.
Es war das erstemal, dass ich tags über dieses Gelände ging. Wir hatten sie immer nur von weitem gesehn, diese schreckliche Strasse, die wir oft in der Dunkelheit und unterm Sausen der Granaten sprungweise überschritten hatten oder auf der wir hin- und hergelaufen waren.
– Nun, kommst du, alter Knabe?
Kaum aber hatten wir im Nebel, der seine Baumwollfäden über die Strasse zerrupfte, ein paar Schritte gemacht, da blieb Poterloo mitten auf der Strasse stehn und riss seinen roten, halboffenen Mund und seine horizontblauen Augen auf.
– O je, o je, o je! ... murmelt er.
Und als ich mich nach ihm umschaute, deutete er auf die Strasse und sagte kopfschüttelnd:
– Das wär's also. Du lieber Gott, wie die aussieht! ... Hier grad kenn ich mich so gut aus, dass ich es ganz genau sehe, wie's war, wenn ich die Augen zumache, und ich brauch gar nicht weiter nachzudenken. Das Wiedersehn aber ist schrecklich. So schön war die Strasse, mit lauter Bäumen auf beiden Seiten ... Und jetzt, wie sieht sie aus? Da schau nur mal einer her: wie so 'n langes, verrecktes Zeug, traurig, traurig ... Guck mal her, die beiden Gräben rechts und links, der ganzen Länge nach aufgerissen, das aufgewühlte Pflaster mit Löchern drin und die ausgerissenen Bäume, durchgesägt, brandicht, zu Scheiterhaufen zerhackt, überall hingeschmissen, mit Kugellöchern drin, da guck mal her, wie 'n Sieb sieht das aus! – Herrgott! kannst dir nicht vorstellen, wie die Strasse entstellt ist!
Dann schreitet er vorwärts und sperrt bei jedem Schritt mit schrecklichem Erstaunen die Augen auf.
Die Strasse sieht in der Tat furchtbar aus, nachdem sich auf beiden Seiten anderthalb Jahre lang zwei Armeen geduckt, dran festgeklammert und ihr von hüben und drüben die entsetzlichsten Schläge versetzt hatten. Sie ist eine grosse Bahn der Wirrnis, auf der nur Kugeln einherjagen. Granaten haben sie gefurcht; sie ist aufgerissen und mit Ackererde bespritzt, zerwühlt und umgestochen bis auf die Knochen. Sie ist wie ein vermaledeiter Steg, farblos, alt und zerschunden, schaurig und grossartig anzuschaun.
– Wenn du sie früher gesehn hättest, sagt Poterloo, wie sauber und glatt war sie damals! Alle Bäume standen aufrecht, es fehlte kein Blatt und keine Farbe; wie Schmetterlinge schimmerten sie, und immer ging gerade jemand vorbei, der einem guten Tag wünschte: ein altes Frauchen, die zwischen zwei Körben wackelte, oder sonst Leute, die auf einem Wagen sassen und laut miteinander sprachen, im gütigen Wind mit aufgeblasenen Blusen. Ach, war das ein glückliches Dasein früher!
Er geht an den Rand jenes dunstigen Flusses, der über das Strassenbett fliesst, bis zur aufgeworfenen Brustwehr. Er bückt sich und bleibt vor verschwommenen Erdhaufen stehn, auf denen man Kreuze entdeckt: es sind Gräber, die in gewissen Abständen in die Nebelmauer eingelassen sind, wie Kreuzstationen in einer Kirche.
Ich rufe ihn. Wir kommen niemals hin, wenn wir laufen wie 'ne Prozession. Los!
Wir kommen an eine Geländesenkung, ich zuerst und dann Poterloo, der mit wirrem und schwerem Kopfe vergebens mit den Dingen Blicke zu tauschen versucht. Dort senkt sich die Strasse und verschwindet nach Norden in einer Geländefalte. An dieser geschützten Stelle herrscht ein wenig Verkehr.
Auf der verschwommenen, schmutzigen und kranken Erde, wo Gras in schwarzer Schmiere versumpft, liegen Tote nebeneinander. Sie werden nachts dorthin gebracht, wenn man die Schützengräben und die Ebene säubert. Dort warten sie, die einen schon lange, darauf, nachts in die Kirchhofe hinter die Front gebracht zu werden.
Wir treten leise an sie heran. Sie liegen dicht aneinander; ein jeder zeigt noch, mit den Beinen oder den Armen, die eigentümliche Gebärde seines erstarrten Todeskampfes. Manche haben halbverweste Gesichter, brandige, gelbe Haut mit schwarzen Punkten. Mehrere haben ein vollständig verkohltes, teeriges Gesicht, geschwollene und ungeheure Lippen. Aufgedunsene Negergesichter. Zwischen zwei Leichen hervor starrt, diesem oder jenem angehörend, ein durchhackter Handknöchel, an dem ein Faserknäul hängt.
Andre wieder sind nur noch unförmige, beschmutzte Larven, aus denen unerkennbares Rüstzeug oder Knochenfetzen ragen. Etwas weiter weg liegt ein so schrecklich zugerichteter Leichnam, dass man ihn an zwei Pfählen in ein Drahtnetz legen musste, um ihn unterwegs, beim tragen, nicht zu verlieren. So haben sie ihn, wie einen Ballen, in der metallenen Hängematte herübergetragen und hier niedergelegt; dran ist kein Unten und kein Oben mehr zu unterscheiden; aus dem unförmigen Haufen ist nur eine klaffende Hosentasche erkennbar, aus der ein Insekt herauskriecht und wieder hineinschlüpft.
Um die Toten flattern Briefe, die aus ihren Kleidern oder ihren Patronentaschen geflogen sind, als man den Leichnam niederlegte. Auf einem dieser schneeweissen Papierfetzen, die im Wind umherflattern