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1

Kurz nach fünf wurde der Himmel schwarzgrau; Martin Krollmann löschte die Arbeitsleuchte und öffnete das Oberlicht. Der Raum stank – heiße Kunststoffassungen, Schweiß, Farben und Tusche. Gegen zwei hatte es kurz geregnet; ein paar Tropfen fielen vom Fensterrahmen auf die schräge Arbeitsplatte, neben das letzte Blatt. Schwarzweiße Illustrationen zu einer dicken Anthologie literarischen Horrors; Krollmann brachte das Ergebnis der Nacht in Sicherheit. Neben dem überfrachteten Rolladenschreibtisch wand sich das weiße Kabel des Sammelsteckers kaum erkennbar über den Teppich. Martin haßte Schlangen; er verzog das Gesicht und schüttelte sich. Nachtfantasie überlappte die Einrichtung. Auf der Staffelei sahen seine müden Augen einen Teil des Umschlagbilds für den Band. Mit grellem lumineszierenden Scharlach gemalte Krebsspinnen krochen aus dem Rachen und attackierten das Zäpfchen; den Rest – ein aufgerissener, gallegefüllter Mund, in Panik und Ekel verzerrt, dahinter der deformierte Kopf – gab Krollmanns Gedächtnis dazu.

Am fahlschwarzen Nordosthimmel zwinkerte ein Helikopter über dem Verteidigungsministerium. Martin reckte den Kopf in die späte Nacht. Die Luft war frisch, trotzdem sommerweich. Südwestwind; er kam von den Feldern zwischen Flerzheim und Buschhoven und durchquerte einen Ausläufer des Kottenforsts. Krollmann atmete tief. Der Himmel war gerade hell genug, um den Widerschein der wenigen Lichter und Laternen von Volmershoven zu schlucken und Bäume und Felder zu einer vagen schwarzen Masse zu machen.

Ohne Licht ging Krollmann ins Bad, eine halbe Treppe unter dem Dachstudio. Er erleichterte seine Blase, hielt dann einen Moment den Kopf unter den Kaltwasserhahn. Aus der fast schwarzen Küche, noch eine halbe Treppe tiefer, holte Martin eine Flasche Guinness und stieg wieder zum Studio hinauf.

Vor drei Jahren, mit achtundzwanzig, hatte er das Häuschen billig gekauft. Inzwischen bedauerte er das. Damals war es ihm als gute Investition des von der gegnerischen Versicherung gezahlten Schmerzensgelds erschienen – nach dem Motorradunfall. Immer wieder, wenn er sich mit seiner Lage beschäftigte, stellte er die gleiche Rechnung auf: Hätte er irgendwo auf dem Land ein Obergeschoß billig gemietet, statt soviel für Material beim selbstdurchgeführten Umbau des alten Häuschens auszugeben, dann hätte er, zusammen mit den sonstigen Ersparnissen, beinahe schon die für den Flug und die Behandlung nötige Summe zusammen. Aber der wichtigste Faktor in der Gegenrechnung blieb: Damals hatte er nicht wissen können, daß ein Jahr nach dem Unfall amerikanische Ärzte eine Operationsmethode entwickeln würden, die immerhin eine fünfzigprozentige Chance auf Besserung, wenn nicht sogar komplette Wiederherstellung bot.

Das Backsteinhaus stand außerhalb von Volmershoven in einem Waldausläufer unmittelbar an den Gleisen der Bahnstrecke Bonn-Euskirchen. Es hatte – mit dem kleinen Garten – vierzigtausend Mark gekostet und ausgesehen wie eine Kombination aus Bahnwärterhäuschen (unten) und Müllhalde (oben). Nach den Umbauten, die etwa fünfzehntausend Mark für das Material verschlungen hatten, sah es aus wie ein ältlicher Kuhstall mit aufgepfropftem Treibhaus. Wasser, Strom, Installationen, Wände, Zwischendecken, das zur Hälfte gläserne Dach – Krollmann konnte es aushalten und dort arbeiten. Platz gab es reichlich. Über der Grundfläche von fünfzig Quadratmetern hatte Martin eine Art Tiefparterre als Keller und Materiallager ausgebaut; auf halber Treppe ein Vorratsraum; dann Küche und geräumige Wohn-Schlaf-Bibliothek; eine halbe Treppe höher das Bad (die Zwischenetagen jeweils rechts vom Treppenhaus), darüber das große Studio. Er lehnte sich an die Schreibtischkante, gähnte, trank sein Guinness aus der Flasche und blickte durch das schmale Fenster in der hochgezogenen Südwand, die das Glasdach trug. Auf dem schaukelnden Zweig vor dem Fensterbrett hockte eine schlaflose Elster; sie riß den Schnabel auf und schien den Wind zu verschlingen. Zwischen den Baummassen sickerte lichteres Grau auf die Gleise, ein halbhelles V in der Finsternis.

Der Wagen kam von rechts, von der Hauptstraße her. Mit Standlicht hoppelte er über den vor Jahrzehnten einmal befestigten Feldweg, nur für Anlieger und landwirtschaftlichen Verkehr. Unter den Bäumen wurde er abgebremst. Drei Türen öffneten sich. Das Standlicht erlosch. Drei Männer, von der Innenbeleuchtung umrissen, stiegen aus und gingen zum Wagenheck. Die zweite Innenlampe glomm auf; es war ein Kombi. Die Männer hantierten an etwas auf der Ladefläche herum. Dann zogen sie die Ladung heraus. Einer warf die Heckklappe zu. Sie verschwanden unter den Bäumen, traten auf die Gleise.

Krollmann duckte sich, als einer der Männer mit einer Stablampe die Umgebung absuchte. Erst etwa eine Minute später hob er wieder vorsichtig den Kopf.

Sie hatten den Körper auf ein Gleis gelegt, die Beine nach Norden, gespreizt, den Kopf nach Süden. Einer der Männer bückte sich und tastete an dem Liegenden herum; der zweite stand unter den Bäumen, der dritte ließ auf eine Geste des ersten hin die Lampe aufblitzen. Der Liegende hatte die Augen geschlossen. Der Tastende war mit der Untersuchung der Taschen fertig; er hielt etwas hoch. Die Lampe erlosch; die Innenbeleuchtung des Wagens ging wieder an, als die Türen geöffnet wurden. Der Kombi fuhr ein paar Meter, setzte mehrfach vor und zurück – der Weg war an dieser Stelle etwas breiter –, wendete schließlich ganz und fuhr unter die Bäume. Dort blieb er stehen.

Krollmann kaute auf der Unterlippe. Seine Knie waren weich. Er schaute auf die Uhr. In wenigen Minuten würde der erste Zug von Bonn Richtung Meckenheim und Euskirchen kommen. Unter den Bäumen stand der Wagen mit den drei Männern. Sie warteten. Er hatte keine Waffe und war kein Held. Er hatte nicht einmal Telefon. Und der Mann da unten war vielleicht längst tot.

 

Als der Zug etwa zwanzig Meter zu weit endlich stand, war der Wagen unter den Bäumen verschwunden. Die Elster landete auf dem Zweig, legte den Kopf schief und blickte zum Zug, bis dort fuchtelnde Gestalten erschienen. Dann öffnete sie den Schnabel und flatterte in den Himmel, der rosa geworden war.

2

Die Tochter des Botschafters der Andinischen Republik hielt sich für bestens gestylt und aerodynamisch fast optimal strukturiert. Unter der schmiegsamen Oberfläche steckte ein eiserner Kern – eher sogar stählern; gestählt durch all die Jahre widersprüchlicher Erziehungsversuche. Der Vater hatte es im Guten versucht, wie er meinte; dann ihrer Ansicht nach im Besseren, indem er aufgab. Die Mutter, vor vier Jahren am Arm eines spanischen Architekten entschwunden nach langwierigen Probeläufen mit italienischen Modisten, französischen Pferdezüchtern und mindestens einem amerikanischen Jazztrompeter, hatte solcherlei Verantwortung immer gern und freimütig delegiert, an Ammen, nurses, Gouvernanten, Leiterinnen von Internaten, Direktricen von Pensionaten. Die meisten der Damen, befand Rocío, waren weniger Pädagoginnen als vielmehr katholische Nebelwerfer gewesen. Immerhin, der ständige Wechsel der Bezugspersonen, des Aufenthaltsorts, der Institute und Mitzöglinge hatte ihre Selbständigkeit ebenso gefördert wie ihre generelle Geringschätzung der Erdbevölkerung. Ihr Zynismus war jedoch passiv und äußerte sich nur selten. Meistens hielt man sie für ein besonders apartes, helles, gebildetes und anpassungsfähiges Mädchen.

Ein Teil davon war Routine. Mimikry – Überleben durch äußerliche Anpassung an die Umgebung, ohne jeden inneren Kompromiß. Das polierte Parkett eines Diplomatenempfangs, der Kopilotensitz in der Cessna ihres Vaters, der Asphalt europäischer Landstraßen bei gelegentlichen Ausbrüchen per Anhalter (mit vier Kreditkarten, zur Sicherheit), Bohnerwachs-Schlafsäle in Internaten, Gras am Boden des Pfadfinderzelts, Tanzflächen, Bowlingbahnen, Asche und Bierlachen auf einem Kneipenboden, sie nahm alles mit der gleichen Selbstverständlichkeit, schien immer genau in die Umgebung zu passen und war doch immer sie selbst. Auch hier war es so, in dieser schäbigen Studentenbude im Bonner Norden. Er hieß Carsten; ihre dunkelroten Fingernägel kontrastierten befriedigend mit seiner dunklen Körperbehaarung, und sie haßte sein Laken, das aus irgendeinem widerlichen synthetischen Material bestand. Befriedigung, widerlich, unwichtige Regungen des Moments, der wie alles flüchtig und bedeutungslos war.

Das Tier mit den zwei Rücken. Le jeu de la bête à deux dos. Ihre Gedanken fächerten sich auf, Fetzen mehrerer Sprachen trieben durch ihren Kopf. Sie hörte das zweistimmige Keuchen, wie aus der Ferne, irgendwie unbeteiligt. Bald würde die Faust des Körpers nach ihrem Hirn greifen, sie auslöschen, für flüchtige Momente die Frage wer bin ich zerquetschen, die Leere im Kern des stählernen Kerns mit Betäubung füllen.

Er gab sich Mühe, wie so viele Deutsche. Statements abgeben, statt zu plaudern, Fragen stellen, statt sie für sich zu behalten, Witze auswendig lernen, statt Bonmots zu machen. Die Sinnlosigkeit analysieren, statt sie mit savoir vivre zu umgehen. Alles erklären wollen, statt die Dinge und die Menschen in Ruhe zu lassen. Ruhe lassen. Lassen. Warum sie Rocío heiße? Ein Wallfahrtsort in Andalusien, nuestra Señora del Rocío, die Madonna vom Tau. Madonna. Mühe Mühe Mühe. Er wollte erklären, was Carsten bedeutete, wer Carsten war, wer und was und warum und wie und seit wann Carsten er war oder umgekehrt oder anders. Wenn schon, dann lieber nicht. Die Leere. Rocío, Tau; sie wollte nur gefüllt und benetzt werden. Mühe. Madonna.

 

»Also der erste Familienname ist vom Vater und der zweite von der Mutter?«

»Ja. Ah, Moment, vom Vater der Mutter. Der Vatername.«

Der junge Mann seufzte. »Ich komme noch dahinter. Langsam.«

Rocío lächelte, hob die Decke, umkreiste mit einem scharfen Nagel seinen Nabel.

»Autsch. Mach weiter.«

»Rocío Villalba Contreras. Villalba nach meinem Vater; er heißt Villalba Narváez. Contreras nach der Mutter.«

Der Junge schloß die Augen und genoß ihre Finger. Halblaut sagte er: »Dann ist also immer der erste Name der eigentliche Familienname.«

»Ja. Francisco Franco Bahamonde heißt Franco. Miguel Cervantes Saavedra heißt Cervantes.«

»Uhhh.« Er seufzte und kicherte gleichzeitig. »Sei vorsichtig mit meinem Sancho. – Dann heißt Lorca also nie Lorca?«

»Er heißt García. Und Márquez heißt nicht Márquez, sondern auch García. Die meisten Spanier heißen García. Wie Schmitz. Oder Müller.«

»Und Andinier?«

»Die heißen nicht alle García. Außerdem sind Namen Schall und Rausch. Oder wie heißt das?«

»Rausch ist gut.«

»Rausch ist besser; am besten der zweite bald nach dem ersten.«

»Ah.«

 

Er bestand darauf, sie gegen Mitternacht zur U-Bahn nach Godesberg zu bringen, weil sie darauf bestand, im eigenen Bett zu schlafen. Er war schlank und dunkelhaarig wie sie, und in der fast leeren Bahn überlegte sie, daß sie eigentlich ganz gut zusammenpassen würden, daß aber auch ein erfolgreicher erster Abend nicht genug sei, um wirklich darüber nachzudenken.

An der Rheinallee stieg sie aus, Endstation; müde und fröhlich ging sie durch die Nacht. Irgendwann war plötzlich ein dunkler Mercedes neben ihr.

»Verzeihen Sie bitte«, sagte eine höfliche, milde Stimme. »Kennen Sie sich hier aus? Ich suche eine Straße.«

Sie blieb stehen. »Ein bißchen. Welche Straße?«

Er öffnete die Tür. »Famplausenallee oder so ähnlich. Das hat mir jemand aufgeschrieben, und ich kann es nicht richtig lesen.«

Sie lachte. »Famplausenallee gibt es nicht. Kenne ich nicht. Zeigen Sie mal.«

Der Mann trug einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und Krawatte. Kein Grund wegzulaufen. Sie nahm den Zettel, den er ihr reichte und warf einen Blick darauf.

»Ah. Das müßte die Camphausenallee sein. Das ist nicht weit. Da fahren Sie ...«

Die Straße war leer und dunkel. Von hinten legte sich ein Arm um sie, eine Hand preßte ihr ein übelriechendes Tuch auf Mund und Nase. Sie war zu überrascht, um sich ernstlich zu wehren. Chloroform, dachte sie. Da muß noch einer ausgestiegen sein sein sein sein