Zuerst erschienen: 1924
Josuas Mutter saß jeden Abend am Fenster, träumte die graue Wand an und sah nach dem Kirschbaum herunter. Als sie Josua entdeckte, winkte sie ihm.
Josua setzte sich zu ihren Füßen auf die abgescheuerten Dielen. Sie holte vom Kochofen eine Tasse angewärmten, dünnen Kaffee und gab sie ihm. Er trank bedächtig und sah nach einer Spinne, die über ihm an einem Faden schaukelte. Nun fällt sie in den Kaffee, dachte er.
»Josi,« sagte sie, »jetzt kommt bald der Vater.«
»Welcher Vater?« fragte Josua.
»Dein Vater«, sagte sie.
»Ach so«, sagte Josua.
»Freut dich das nicht?« fragte sie. Sie hustete. Auf ihren Wangen flammte sekundenlang ein hektisches Rot.
»Nein«, sagte Josua.
»Warum denn nicht?«
Josua wußte keine Antwort, dachte aber angestrengt nach.
Sie seufzte.
Nach ein paar Tagen, gegen fünf Uhr nachmittags, die graue Wand warf nachtdunkle Schatten ins Zimmer, klapperte es die Treppe herauf. Hinter der Türe tuschelten Stimmen, dann klopfte es stark. Josuas Mutter faßte sich an ihr Herz, die Freude stieg ihr ins Gesicht, sie öffnete. Durch die Türe schob sich eine blaue Schifferbluse, an der zwei kurze energische Beine in schwarzsamtenen Pumphosen steckten. Oben aus der Bluse quälte sich ein gedrungener Hals, aus einem dicken, runden, glattrasierten Gesicht hoben sich zwei dunkelbraune Augen und ein schöner kleiner Mund hervor, der nach Kautabak roch. Er spuckte den gelben Saft mitten in die Stube.
»Guten Morgen, Lady! Salud, como le va? Wie jeht's?«
Paul Briegoleit lachte und packte sie mit den beiden rotaufgesprungenen Händen um den Hals. Sie bot ihm ihre Lippen und er küßte sie.
»Da bin ick, da bin ick! Wat macht de Josi?«
»Es geht ihm gut«, sagte sie leise und ein zärtlicher Blick streichelte Josua, der inzwischen aufgestanden war und neben den Vater trat.
»All right«, sagte Paul Briegoleit. »Büscht'n Prachtjung' worn! Ick häv di auch wat feins mitgebracht! Ha! Aber erst für Mutting.«
Sie sah ihn groß und freundlich an.
»Wo warst du, Paul?«
Paul klang in ihrem Munde wie Pol. Sie rundete alle Vokale dunkel ab.
»Señorita, wir waren in Australien, wo die Kannibalen wohnen, wo der Mensch man bloß als Frikassee oder Wiener Schnitzel gilt. Aber ick här min Mitgebrachtes draußen uf'n Korridor stehn jelassen, wegen der Überraschung.«
Damit trat er einen Schritt zurück, stieß die Türe auf – – und vor ihm stand mit schönen schwarzen, ängstlichen, fragenden Tieraugen, in blauem, baumwollenem Rock und schreiend roter Bluse eine Negerin, so groß wie ein Kind, aber ein ausgewachsenes junges Weib von vielleicht achtzehn Jahren. Auf ihren Armen hielt sie, wie einen Säugling an die Brust gebettet, einen kümmerlich häßlichen Affen.
Paul Briegoleit faßte sie an den Schultern und zerrte sie ins Zimmer. Josuas Mutter starrte halb entsetzt, halb lächelnd das fremde Geschöpf an.
»Di häv ick dir mitbracht, Mutting! Come on, Luda. Gib der Madame deine schwarze Dreckpote. Aber ein hübsches Mädl, wat? Erzähl mal der Lady, woher du kommst?«
Damit gab er ihr einen Puff in die Seite, so wie man etwa dressierte Pferde mit dem Peitschenstiel zur Schaustellung ihrer Kunststücke zwingt.
Da trat das fremde Geschöpf auf Josuas Mutter zu, sah ihr fest in die Augen und sagte mit leiernder, zerhackter Stimme: »Vom Himmel hoch da komm ich her!«
Paul Briegoleit stand daneben, er quietschte wie eine getretene Katze, pruschte los wie eine Barkasse, der der Dampf ausgeht, und klopfte sich die Schenkel vor Vergnügen.
»Dat ist das einzige Deutsch, wat sie kann, wo ick dem schwarzen Fräulein unterwegs beigebracht hab'. Und treu is sie und ehrlich, man bloß stehlen tut sie, wenn man nicht aufpaßt.«
Jetzt meldete sich der Affe und sprang mit einem Satz Josua auf den Rücken.
»So is recht, Jack,« lachte Paul Briegoleit, »such dir dein Herrchen. Magst ihn behalten, Josi?«
Josua nickte.
»Ist das mein Bruder?« fragte er.
»Ja, min Jung«, sagte Briegoleit. »Dat is dein Bruder.«
Briegoleit sah sich um.
»Wieviel Betten habt ihr?«
»Zwei,« sagte lächelnd Josuas Mutter, »aber das eine ist nur so klein wie Josi.«
»Halloh,« sagte Paul Briegoleit, »no importa, da schlafen wir drei in einem Bett.«
»Wer wir drei?« fragte, doch ein wenig erschrocken, Josuas Mutter.
»Nun du, ich – und Jamaika.«
»Jamaika?«
Briegoleit hatte sich eine Pfeife aus der Tasche geholt und zeigte mit dem Pfeifenstiel nach der Negerin. Die wurde auf einmal lebendig, als sie die Pfeife sah. Ihre Augen griffen lüstern nach dem Tabaksbeutel, den er hervorzog.
»Dat is die einzige Leidenschaft, die sie hat«, sagte Briegoleit. »Sie qualmt wie sieben Doppelschraubendampfer.«
»Ist sie nicht ein wenig schmutzig?« fragte Josuas Mutter.
»Du mußt ihr eben waschen, Mine.«
»Und wie sie angezogen ist!«
»Gefällt dir die Tante, Josi?« lächelte sie zu Josua hinüber.
»Ja«, sagte Josua.
»Das war des Schicksals Stimme«, sagte Briegoleit. »All right. Übrigens ist sie ausgezogen janz repräsentabel.«
Der Affe krähte.
»Wenn er nur nicht die Schwindsucht hat?« sagte Josuas Mutter. »Alle Affen haben in unserem Klima die Schwindsucht.«
»Und du?« fragte Briegoleit leise.
Sie wurde kalkblaß und hustete.
Er küßte sie auf ihre geschlossenen Augen.
Jamaika stand ruhig dabei, nur ihre Hände zitterten in Eifersucht.
So lebten sie zu Fünfen und blühten wie die Lilien auf dem Felde und waren eine Familie. Die Negerin entpuppte sich als ein sanftes gutes Kind.
Besonders mit Josua freundete sie sich an.
Nach knapp fünf Monaten genas sie eines Mädchens von ganz hellbrauner Hautfarbe, welches Lili genannt wurde. Es war Josuas Mutter noch vergönnt, in der Stunde der Geburt der Negerin hilfreich beizustehen.
Drei Wochen darauf war Josuas Mutter tot.
Briegoleit kaute verzweifelt anstatt seines Tabaks Erbsen und Kaffeebohnen.
Jamaika schrie wie ein Tier.
Josua sah stumm die gebrochenen Augen der Mutter. »Wo ist sie hingegangen?« dachte er. »Liebt sie mich nicht mehr?« Wie ein Symbol hockte der verkümmerte häßliche Affe auf den Kissen zu ihren Füßen, knackte Haselnüsse und warf die Schalen der Toten ins Gesicht.
Paul Briegoleit mußte wieder auf See. Zwei Monate waren seit dem Tode von Josuas Mutter vergangen.
Jamaika und Jack sehnten sich nach Süden. Eines Abends nahm Paul Briegoleit Josua auf seine Knie.
»Ich muß man wieder in See, Josi.«
»Und Maika?«
»Man auch.«
»Und Jack?«
»Man auch.«
»Und Lili?«
»Kommt bei Schutzmann Kröger. – Wirst einen anderen Papa kriegen.«
»Well«, sagte Josua, das hatte er sich so von seinem Vater angewöhnt.
»Und eine andere Mama –«
»Well«, sagte Josua. »Das wird dann schon die dritte«, dachte er. »Aber besser wie die erste wird keine. – Und Jack?« fragte Josua.
»Wirst annere Affen finden, Josi. – Wirst mich nicht vergessen, Josi?«
»Ich weiß nicht«, sagte Josua. Ihm fielen vor Müdigkeit die Augen zu.
Briegoleit strich ihm über die Stirn, dann trug er ihn ins Bett. Acht Tage später las man in einer großen Berliner Tageszeitung liberaler Richtung folgendes Inserat:
Paul Briegoleit erhielt vier Briefe: Von einem Obst- und Gemüsegärtner aus Erfurt, von einem pensionierten Rechnungsrat in Köslin, von einem kinderlosen Ehepaar an der russischen Grenze, das sich nur als solches dokumentierte – und von Herrn Drogisten Axel Triebolick und seiner Frau Toni, geborene Hollunder, Frankfurt a. O., Marktplatz 123, Ecke Junkerstraße.
»Drogist,« sagte Paul Briegoleit, »dat is das Rechte.« Denn er erinnerte sich mit Grauen und Respekt, daß er selber einmal hatte Drogist werden sollen. »Da besucht der Junge die Realschule und lernt Latein, und das allein ist schon's Leben wert.«
Es ist nicht so, daß man sagen kann: »Ich lebe ...«, sondern: »Ich werde gelebt!«
Josua ging am dritten Tage nach seiner Ankunft bei Triebolick von Hause weg, geraden Weges nach dem Spielwarengeschäft am Markt, nahm eines der kleinen Holzpferde, die dort sich in der Frühsonne vor der Türe gefielen, und zog es am Bindfaden hinter sich drein, über die hölzerne Brücke des Stromes und die Villenstraße rechts entlang, dann auf der Crossener Chaussee immer weiter, immer weiter ... Als er an einen Tannenwald hinter dem Judenkirchhof kam, bog er in den ersten besten Fußpfad ein, immer das Pferd hinter sich, welches zuweilen stolperte, so daß er es wieder bedächtig auf die Beine bringen mußte. Er gelangte an eine grüne Lichtung, über die eine braune Schneise führte. Da er müde war, setzte er sich nieder. Das Pferd aber ließ er stehen, denn er wußte, daß Pferde im Stehen schlafen können.
Er schlief ein.
Plötzlich stand jemand vor ihm.
Er fühlte das und wachte auf.
Der Mann sagte:
»Wer bist du?«
Er wußte aber seinen Namen nicht und sagte:
»Wie du.«
Der Mann fragte: »Wieso?«
Er sagte: »Ich bin auch ein Mensch, und das ist mein Pferd!« Damit zeigte er auf den hölzernen Rappen, der in der Abendsonne rosa blinkte.
Der Mann meinte: »Ich habe auch ein Pferd, aber ein viel größeres. Willst du es sehen?« Josua nickte. Dann ging er hinter ihm drein, den Rappen am Zügel leitend.
Bald sah er einen Planwagen, ein großes, starkes, braunes Pferd davor und eine Frau auf dem Bock. Das Pferd wieherte und die Frau lachte.
»Was hast du da?« rief sie dem Mann hell entgegen.
»Wir nehmen den Kerl mit! Er kann die Nacht doch nicht im Walde kampieren! Vielleicht fressen ihn die Bären!« schrie er.
Josua sagte, daß er keine Furcht vor Bären hätte, indem er auf seinem flinken Rappen flink entfliehen könne. Er duldete aber, daß man ihn in den Wagen hob. Unter der Plandecke roch es nach totem Fleisch und Blut und halbverfaultem Gemüse. Es war ein Geflügelhändler aus der Stadt, der von einer Marktreise nach Hause zurückkehrte. Dieser Umstand mag es erklären, daß seine (nunmehr so genannten) Eltern ihn am nächsten Tage auf dem Marktplatz in der Bude des Wildhändlers Matterhorn unter toten Schnepfen und Rebhühnern vor- und wiederfanden, was Josua sehr bedauerte.
Josua hob, von den Masern erwachend, die grauen Augen auf und sah ein großes blaues Tuch über sich hängen. Er schlug mit der geballten Hand hinein, aber es warf keine Falten. Es hing höher, viel höher. Plötzlich schimmerte ein scharfer silberner Glanz auf, der strahlenbündig emporschoß, um dann bunt zu zerstäuben. Josua schrie, der ungewohnte Glanz tat seinen Augen weh.
»Stell' man den Springbrunnen wieder ab«, sagte eine weiche Stimme. »Du kannst ihn ja laufen lassen, wenn das Kind nicht mehr auf dem Dach ist.«
Die Männerstimme brummelte und beugte sich über das hölzerne Gitter und sah auf die Straße hinab. Der Dachgarten ging nach hinten auf einen kleinen Nebenmarkt, wo Mittwochs Fische verkauft wurden, Hechte, Barsche, Plätzen, Karpfen. Dann und wann ein Stör auf Abbruch. Der lag in einem großen Waschzuber an der Kette und wurde von der ganzen Stadt eingehend besichtigt. Störe kamen selten den Fluß herauf. Nur zum Laichen. Aber Oderkaviar aß man gern. Er wurde billig hergestellt. Das Pfund kostete zwei Mark. Herr Triebolick sah noch immer auf den Fischmarkt herunter.
»Du könntest Häringe zum Abend holen lassen und frische Kartoffeln, Mutter!«
Dann hinkte er durch die Bodenluke.
Sie nickte. Plötzlich zuckte sie mit den Schultern, zupfte an ihren Haaren, lächelte dunkelrot. Der schöne Steuersekretär Bock hatte heraufgegrüßt.
Josua saß am Gänsbeutel, einem Wasserarm, der sich durch die Aue am Ostende der Stadt schlängelte, unter hängenden Weiden und schnitt sich aus Weidenholz eine Flöte. Als er sie gerade probierte, wurden die Weiden auseinandergebogen. Josua wandte sich um.
Ein brauner Mädchenkopf schob sich durch silbergrünes Laubgewirr.
»Du, laß mich auch ...«
»Du kannst ja gar nicht«, sagte Josua.
»Kann schon,« lachte das Mädchen und zeigte weiße, trotzige Zähne, »gib!«
Und Josua gab ihr die Flöte.
Da blies sie schöner und reiner, als er je blasen konnte. Josua war starr. Er stand vor einer neuen Erkenntnis, der Erkennung seines Lebens. In seiner Welt und seinen Fähigkeiten war bisher er immer der erste gewesen. Da gab es niemand über ihm. Und nun konnte dieses Mädchen besser Flöte blasen als er.
»Da setz dich her.« Er klopfte mit der flachen Hand auf den Rasen.
Sie hockte dicht neben ihm nieder und krempelte vorsichtig ihr Kleid auf. Er kramte in seiner Tasche und brachte eine trockene Semmel hervor.
»Magst du?«
»Nein.«
»Dann wollen wir sie den Fischen geben.«
Und er zerbröckelte sie und warf die einzelnen Brocken in das Wasser.
Sämlinge und Grünlinge, hin und wieder ein größerer schnauzbärtiger Fisch schnappten mit offenen Mäulern danach.
»Das ist ein Wels«, sagte Josua.
Sie wollte den Fisch mit einem abgebrochenen Weidenzweig ärgern.
»Das darf man nicht«, sagte Josua.
»Warum nicht?« fragte sie.
»Weil es schlecht ist.«
»Wenn ich nun aber schlecht sein will?«
Sie sah erwartungsvoll und eigensinnig auf seinen Mund, wagte aber nicht, mit der Rute ins Wasser zu schlagen.
»Kein Mensch will schlecht sein.«
Josua blickte sie gelassen an.
»Wer sagt das?«
Sie stampfte vor Zorn mit den Haken in den feuchten Ufersand.
»Das sagt Frau Triebolick.«
»Wer ist das?«
»Frau Triebolick ist meine Mutter.«
»Woher weiß das deine Mutter?«
Da fand Josua nicht weiter. Sie frohlockte und machte ihm eine lange Nase. »Etsch, etsch!«
»Ich muß nach Hause,« meinte er, »kommst du mit?«
»Ja.«
In den ersten Straßen verabschiedeten sie sich.
»Wie heißt du?« fragte Josua.
»Ruth, und du?«
»Josua.«
»Da sind wir ja beide sehr fromme Leute.«
»Wieso?«
»Wir kommen doch in der Bibel vor. Josua war ein König in Israel.«
»Das ist wahr,« sagte Josua, »ich bin ein König.«
Sie lief tanzend davon.
»Ein König? Ein König?« Sie warf das Echo lachend und herausfordernd mehrmals in die Lüfte.
Josua ging nachdenklich nach Hause.
Damals standen in der Stadt noch die alten Stadtmauern und der eine Turm des Odertores. In diesem Turm vegetierte eine Fleischerei und wenn Josua von Frau Triebolick ausgeschickt wurde, Fleisch zu holen, ein Beefsteak für den Vater zum Abend, wenn er müde und hungrig vom Geschäfte heraufkam, oder ein Kotelett – immer ging er in diesen alten Turm, der ihn mit Schauern geheimnisvoller Vergangenheit umwehte. Wenn Josua in diesem scheu verehrten Symbol geschichtlicher Größe hätte wohnen müssen, er wäre gestorben vor Ehrfurcht und Angst – aber nicht aus Angst vor Gespenstern.
Gespenster liebte Josua schon früh mit Leidenschaft und konnte stundenlang am Kirchhofgitter abends stehen und, die Stirn an die Stäbe gepreßt, in das vom Rauschen der Blätter und Klappern der toten Knochen bewegte Dunkel starren.
Oder stundenlang in der Nacht wachliegen und aus Gardinen, Schränken, Ofen sich die seltsamsten Gestalten bilden, mit denen er verwegene Gespräche hielt.
Am ergiebigsten erwies sich seinen Phantasien die dicke, weiße Bettdecke. Sie ließ sich formen und nach Belieben kneten – wenn der Mond auf die weiße Fläche schien, nahm sie unter Josuas geschickten Händen die absonderlichsten Ausdrücke an: Bald war sie eine Ratte, bald ein Reiter, bald ein Ungeheuer der Urzeit, bald stellte sie Menschen seiner Umgebung und Bekanntschaft dar, zum Beispiel Ruth.
Meistens brachte er Ruth in einen Zusammenhang mit der Ratte, weil Ruth und Ratte ihm zusammenklangen.
Josua lag oft den ganzen Tag am Buschmühlenweg auf einer Lichtung im Grase, blinzelte nach den Eisenbahnzügen, die unter ihm donnerten, und den Wolken, die über ihm wehten, und zeichnete ihre Linien mit seinem Zeigefinger nach. Nach den Spatzen, Meisen und Libellen pflegte er zu schießen, indem er seine Hand an einer Pistole krümmte. Eine Charaktereigenschaft, die ihn selbst unwillig stimmte, machte sich früh bei ihm geltend: er ertrug es nicht, Spechte hinter seinem Rücken hämmern zu hören. Mit Tieren, wie Hunden, Katzen und Fliegen hielt er verdrossene Freundschaft. Sie ärgerten ihn und er ärgerte sie, aber er litt sie gern.
Zu Hause, in einer zerbrochenen Bierflasche, deren Boden mit einer Hand voll Sand zugeschmissen war, bewahrte er vier Ameisen, große, schwarze, von denen er behauptete, daß er sie gezähmt habe. Er gab ihnen Namen, indem er sie nach Herrn Triebolick, dem Provisor, dem Hausknecht und dem Stößerjungen hieß.
Eines Tages tat er eine kleine rote Ameise hinzu, die er aus unaufgeklärtem Grunde Marie benannte. In der Nacht bissen sie aber die anderen tot. Dafür lud er Herrn Triebolick, welchem er die Schuld in die Schuhe schob, eine gehörige Tracht Schimpfworte auf den Buckel. Der richtige Herr Triebolick, der gerade des Weges kam, war nicht wenig verwundert über diese unhöfliche Apostrophierung seiner Person und verabfolgte Josua stumm eine tüchtige Maulschelle. Das mußte wieder der unechte Herr Triebolick büßen. Josua knipste ihm mit dem Daumennagel den Kopf ab.
Josua zählte fünfzehn Jahre und besuchte die Untersekunda des Königlichen Friedrich-Gymnasiums.
Da ging eines Abends nach dem Abendbrot ein rothaariges Dienstmädchen mit einem kleinen zweijährigen Bengel in den Eichwald spazieren.
Josua stand mit einer Zigarette am Wege und staunte ihr mit begehrlichen Augen nach.
Er schlenderte hinter ihr her.
Sie setzten das Kind auf eine Bank und gingen beide mit zitternden Händen in die Bäume.
Josua kam sehr enttäuscht wieder heraus.
Später aber, in gesetzteren Jahren, erschien ihm die Rothaarige, von der er sich erinnerte, daß sie oben am Ansatz der Brüste einen medaillongroßen Leberfleck hatte, als die wahre und einzige Liebe seines Lebens.
Josua bestand die Abiturientenprüfung des Friedrich-Gymnasiums im Alter von siebzehn Jahren als primus omnium unter Befreiung vom Mündlichen. Diese Auszeichnung hinderte den Direktor Dr. Schuster nicht, in seiner öffentlichen Abschiedsrede mahnend und warnend auf die leider große Zahl jener hochbegabten, hochstrebenden Naturen hinzuweisen, die infolge mangelnder Charakterstärke im anfechtungsreichen Leben, das seinen ganzen Mann fordere, elend zugrunde gingen. Dabei strich ein sanft zürnender Blick unter buschigen Brauen hervor über Josua Triebolick, dessen moralische Unzuverlässigkeit seiner ahnungsvollen Pädagogenseele nicht entgangen war. Hatte man ihn nicht schon in Unterprima mit einigen Stunden Arrest bestrafen müssen, weil er mit seinem Freunde, Klaus Tomischil, einem Juden zweifelhafter Qualität, der unter dem Verdachte des Anarchismus stand, zu nächtlicher Stunde ein minderwertiges Café mit Damenbedienung aufsuchte, in dem sich, abgesehen von einem ergrauten, weißbärtigen Oberlehrer, sämtliche zwölf Seminarkandidaten des Gymnasiums befanden.