Eins
»Nun, Frau Warren, ich sehe weder, warum Sie einen besonderen Grund zur Besorgnis haben, noch verstehe ich, warum ich meine kostbare Zeit für diese Angelegenheit opfern sollte. Ich habe wirklich andere Dinge zu tun,« sagte Sherlock Holmes und wandte sich wieder dem großen Album zu, in dem er sein neuestes Material ordnete und katalogisierte.
Aber die Hauswirtin besass die ganze Hartnäckigkeit und Schlauheit ihres Geschlechtes. Sie gab nicht auf.
»Letztes Jahr lösten Sie ein Problem für einen meiner Mieter,« sagte sie - »Herrn Fairdale Hobbs.«
»Richtig – ein einfacher Fall.«
»Aber er hört nicht auf darüber zu reden – über Ihr Entgegenkommen, mein Herr, und über die Art, wie Sie Licht in das Dunkel brachten. Ich erinnerte mich seiner Worte, als ich mich selber in Zweifel und Ungewissheit befand. Ich weiß, dass Sie helfen könnten, wenn Sie nur wollten.«
Holmes war für Komplimente zugänglich, er war aber auch, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, hilfsbereit. Beides brachte ihn dazu, seinen Klebepinsel mit einem resignierten Blick wegzulegen und seinen Sessel zurückzuschieben.
»Gut, Frau Warren, dann lassen Sie hören. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich rauche? Danke, Watson – die Streichölzer! Sie sind besorgt, wenn ich Sie recht verstehe, weil sich Ihr neuer Mieter nur in seinen Räumen aufhält und Sie ihn nicht zu Gesicht bekommen. Nun – du meine Güte, Frau Warren – wenn ich Ihr Mieter wäre, würden Sie mich oft wochenlang nicht zu sehen bekommen.«
»Kein Zweifel, mein Herr; aber dieser Fall liegt anders. Er macht mir Angst, Herr Holmes. Ich kann vor Angst nicht schlafen. Seine schnellen Schritte hören zu müssen, wie sie sich hierhin und dorthin bewegen, vom frühen Morgen bis spät in die Nacht und noch nicht einmal einen flüchtigen Blick auf ihn erhaschen zu können – das ist mehr als ich ertragen kann. Mein Mann ist darüber genauso beunruhigt wie ich, aber er ist den ganzen Tag fort bei der Arbeit, während ich keinen Moment Ruhe finden kann. Warum versteckt er sich? Was hat er getan? Außer dem Mädchen bin ich ganz alleine im Haus mit ihm, und das ist mehr als meine Nerven aushalten können.«
Holmes lehnte sich nach vorne und legte der Frau seine langen, schmalen Hände auf die Schultern. Wenn er wollte, konnte er jemanden mit fast hypnotischer Kraft beruhigen. Der erschrockene Ausdruck wich aus ihren Augen und ihre verstörten Gesichtszüge glätteten sich. Sie setzte sich in den Sessel, den er ihr angeboten hatte.
»Wenn ich mich darum kümmern soll, muss ich jedes Detail kennen,« sagte er. »Denken Sie bitte gründlich nach. Jede Kleinigkeit kann von Bedeutung sein. Sie sagen, der Mann zog vor vor zehn Tagen ein und bezahlte Ihnen für zwei Wochen Kost und Logis im voraus?«
»Er erkundigte sich nach meinen Bedingungen, mein Herr. Ich sagte fünfzig Schilling die Woche. Unsere Wohnung ist oben im Haus, mit einem kleinen Wohnzimmer und Schlafzimmer.«
»Und?«
»Er antwortete, 'Ich werde ihnen fünf Pfund die Woche bezahlen, wenn Sie meine Bedingungen akzeptieren.' Ich bin eine arme Frau, mein Herr, und Herr Warren verdient wenig, ich brauche das Geld. Er zog eine Zehnpfundnote heraus und hielt sie mir hin. 'Sie können alle zwei Wochen wieder eine bekommen, und zwar für einige Zeit, wenn Sie sich an meine Bedingungen halten,' sagte er. 'Wenn nicht, will ich nichts mehr mit Ihnen zu tun haben.'
»Und wie waren die Bedingungen?«
»Nun, mein Herr, er wollte einen Schlüssel vom Haus haben. Das ist in Ordnung, Mieter haben oft die Schlüssel. Auch wollte er, dass er völlig in Ruhe gelassen wird und nie, unter keinem Vorwand, gestört wird.«
»Daran ist nichts Merkwürdiges, oder?«
»Eigentlich nicht, mein Herr. Aber merkwürdig ist es doch: er lebt seit zehn Tage hier und weder Herr Warren, noch ich, noch das Mädchen haben ihn je zu Gesicht bekommen. Wir können nur seine schnellen Schritte hören, auf und ab, ab und auf, nachts, morgens und abends; aber ausser in der ersten Nacht hat er nicht ein einziges Mal das Haus verlassen.«
»Oh, er ging also in der ersten Nacht aus?«
»Jawohl, und er kam sehr spät zurück – nachdem wir alle schon zu Bett waren. Nachdem er die Zimmer gemietet hatte, sagte er sagte mir, dass er das vorhabe und bat mich, die Tür nicht abzusperren. Ich hörte ihn nach Mitternacht die Treppe heraufkommen.«
»Und seine Mahlzeiten?«