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Reinhard Haller

DIE MACHT DER KRÄNKUNG

 

 

 

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»Mich kränkt niemand mehr, ich sterbe …«
Aus einem Psychotherapieprotokoll

Leserhinweis

 

Die Verwendung der maskulinen Sprachform ist nicht als Kränkung der Leserinnen zu verstehen. Vielmehr soll damit eine literarische Kränkung des Leseflusses vermieden werden.

Bei den Fallbeispielen wurden alle personenbezogenen Daten so verändert, dass eine Identifizierung unmöglich ist.

Einleitung

Am Anfang war die Kränkung. Kein Streit, kaum ein Konflikt und nur wenige Krisen, die nicht auf Kränkungen zurückzuführen sind. Kränkungen trüben das Lebensglück, lösen mannigfaches Leid aus, stoßen den Menschen in Bitternis und bestimmen viele Schicksale. Nichts beeinflusst Stimmung und Motivation, nichts Befindlichkeit und Lebensqualität, nichts unser Selbstwertgefühl so sehr wie manche Kränkung. Ihr Schatten legt sich auf das unbeschwerte Leben und verwandelt die Leichtigkeit des Seins in schwermütiges Existieren. Da Kränkungen das Individuum in seinem Innersten, im Kern der Persönlichkeit treffen, erleben wir sie als Generalangriff auf das gesamte Ich. Sie führen zu einer nachhaltigen Erschütterung des Selbst und seiner Werte. Und so ist kaum jemand ihrer zermürbenden Kraft gewachsen.

Kränkungen stehen am Beginn von Auseinandersetzung und Feindschaft, von Demütigung und Rache, von Krankheit und Leid. Kollektive Kränkungen ziehen sich durch die menschliche Geschichte, ihre destruktive Energie hat Kriege ausgelöst und ist für Völker und Kulturen schicksalsbestimmend geworden. Ihre Botschaft finden wir in der Symbolik von Mythen und Sagen, ihre verheerende Wirkung wird in Dramen und Romanen beschrieben. Kränkungen liefern den Stoff für die besten Werke der Weltliteratur, beginnend mit den gekränkten Helden Homers über das von Kränkungen getragene »Nibelungenlied« bis hin zu den Nobelpreiswerken unserer Zeit. Nach der Botschaft des Alten Testaments finden wir das Motiv für das ganz am Anfang der Menschheitsgeschichte stehende Verbrechen, den Brudermord von Kain an Abel, in nichts anderem als in tiefer Gekränktheit: Kränkung als Urmotiv des Urverbrechens.

Kränkungen sind in unserem Leben universell verbreitet und stellen das zwischenmenschliche Problem schlechthin dar. Sie sind unvermeidlicher Bestandteil unseres Kommunizierens, ob wir wollen oder nicht. Mag man sie noch so sehr verdrängen und tabuisieren, es entrinnt ihnen kein Mensch. Niemand bleibt von Kränkungen verschont, jeder wird tagtäglich mit ihnen konfrontiert. Sie ziehen sich durch unser Leben, von der als erste große Kränkung erlebten Geburt bis hin zur unfassbaren Kränkung des Todes. Das soziale Leben ist durchdrungen von mangelnder Wertschätzung, von psychischen Verletzungen, von Enttäuschungen. Jeder kränkt und wird gekränkt. William Shakespeare hat seine rhetorische Frage, »Wer lebt, der nicht gekränkt ist oder kränkt?«, selbst eindeutig beantwortet: Niemand. Man kann nicht nicht kränken und kann nur schwer nicht gekränkt sein, könnte man in Abwandlung eines berühmten Wortes von Paul Watzlawick, dem bedeutenden Kommunikationswissenschaftler und Psychotherapeuten, folgern.

Kränkung ist mehr als ein Gefühl oder eine negative Stimmung, mehr als eine Emotion oder ein Affekt, ja mehr als beides zusammen. Wenn wir sie genau analysieren, ist sie eine Interaktion zwischen kränkender und gekränkter Person und dem Kränkungsinhalt, der Kränkung an sich. Als einer der wichtigsten sozialen Mechanismen hat sie die Bedeutung einer psychologischen Großmacht – stärker als Ärger und Unzufriedenheit, nachhaltiger als Zorn und Wut, folgenschwerer als Frustration und Trauer. Kränkungen quälen Neurotiker und hetzen Querulanten, sie stacheln Amokläufer und Terroristen an, sie motivieren Kriegstreiber und Diktatoren. Mit aufreibender Wirkung verhindern sie persönliche Weiterentwicklung und beruflichen Erfolg, durch destruktive Kräfte zerstören sie Partnerschaften und Karrieren. Werden sie nicht überwunden, können sie jeglichen Neuanfang ersticken und den Fortschritt unterminieren. An Kränkungen scheitern Wirtschaftsbeziehungen und große Geschäfte, sie sprengen bewährte Verbindungen und verschworene Gemeinschaften, sie sind das Ende sorgsam aufgebauter Vernetzungen. Was verwandelt enge Freundschaft zu jahrelanger Feindschaft, was Verbrüderung zu Ablehnung, was ewige Liebe zu unversöhnlichem Hass? Und was ist die Hauptursache der meisten zwischenmenschlichen Konflikte, was zerschneidet am häufigsten familiäre Bande, was birgt die größten Gefahren für jedes Bündnis und was verwandelt tiefe Zuneigung in kalte Verachtung? Es sind Kränkungen und Gekränktheit.

»Was kränkt, macht krank, was kränkt, löst Krisen aus, Kränkungen führen zu Kriminalität und Krieg« – so lautet die Hauptthese dieses Buches. Anders ausgedrückt heißt das: Kränkungen sind Ursache der meisten Zerwürfnisse, im Kleinen wie im Großen, sie erweisen sich als tieferer Grund vieler psychischer, ja sogar körperlicher Krankheiten. Kränken und Gekränktheit sind die Wurzeln der meisten menschlichen Übel. Kollektive Gefühle der Kränkung, der Erniedrigung und Scham stellen gewaltige soziale Energien dar, die zu generationenübergreifender Feindschaft zwischen den Völkern und kriegerischen Auseinandersetzungen führen können. Unter Historikern besteht kein Zweifel, dass die Demütigung der Verlierer des Ersten Weltkriegs durch die Pariser Vorortverträge – zusammen mit aufkommendem Nationalismus, Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit – entscheidend für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war. Kränkung macht eben auch Geschichte.

Die auf die große Mystikerin und Universalgelehrte Hildegard von Bingen zurückgehende Weisheit über die krank machende Wirkung der Kränkungen und den Leid bringenden Effekt von Beleidigungen hat auch im Zeitalter der Technomedizin nichts von ihrer Gültigkeit verloren. So resultieren viele psychische Störungen aus nicht überwundenen, verdrängten und nicht bewusst gewordenen Kränkungen. Einen Hauptteil der heute so häufig diagnostizierten psychischen Traumatisierungen und viele reaktive Depressionen stellen nichts anderes dar als Kränkungsreaktionen. Kränkungen lösen neurotische Entwicklungen und Suchtprozesse, genauso wie depressive Störungen und Angstattacken aus. Sie führen den Menschen an den Rand des Wahnsinns, manchmal an jenen des Suizids. Bei tief gehender Ursachenforschung erweisen sich Missbrauch und Abhängigkeit von Alkohol oder Drogen als fehlgelaufene Versuche, psychische Verletzungen zu lindern und innere Kränkungen zu betäuben. Was liegt für gekränkte Menschen denn näher, als die Flucht in die Sucht zu ergreifen?

Wenn man in der psychosomatischen Medizin nach den seelischen Ursachen körperlicher Funktionsstörungen fahndet, stößt man nahezu regelmäßig auf verborgene Kränkungen. Selbst bei scheinbar rein körperlichen Leiden wie Bluthochdruck oder Stoffwechselstörungen können tief verwurzelte Kränkungskonflikte entscheidende Auslöser sein. Und manch einer ist an unheilbarer Kränkung gestorben.

Kränkungen führen als Angriff auf das Selbstbild regelhaft zu Krisen, also zu psychischen Not- und Entscheidungssituationen. Da in einer Krise nichts mehr so ist, wie es war, und viele bisher gültige Regeln und Werte infrage gestellt sind, werden wir verunsichert und beginnen zu zweifeln, vor allem an uns selbst. Ob eine Krise überwunden wird, ob man an ihr zerbricht oder aus ihr gestärkt hervorgeht, hängt maßgeblich davon ab, ob und wie die durch sie ausgelöste Kränkungsreaktion bewältigt wird. Wenn es gelingt, die jeder Krise zugrunde liegende Kränkung zu erkennen und sich ihr zu stellen, können sich daraus sogar ungeahnte Chancen entwickeln – jene der Höchstleistung durch Kompensation, der Weiterentwicklung durch bittere Erfahrung, der Persönlichkeitsstärkung durch Überwindung oder der Souveränität durch Verzeihenkönnen. So widersprüchlich und paradox es klingen mag: Kränkungen können in manchen Fällen auch heilen.

Trotz seiner enormen gesundheitlichen Bedeutung wird das Kränkungsthema in der Medizin weitgehend tabuisiert. Kränkungen haben in der Labor- und Apparatemedizin scheinbar ebenso wenig Platz wie im Selbstbild einer modernen Gesellschaft. In den großen Diagnosekatalogen der Weltgesundheitsorganisation und der psychiatrischen Fachgesellschaften, die sonst jede noch so kleine Störung erfassen, kommt der Kränkungsbegriff gar nicht vor. Bei meiner Ausbildung zum Arzt und Psychiater haben Überlegungen zu Kränken und Gekränktsein so gut wie keine Rolle gespielt, zumindest außerhalb des Karrierekampfs. In der psychotherapeutischen Arbeit mit depressiven, angstkranken und süchtigen Menschen jedoch konnte ich mehr und mehr erkennen, dass vielen psychischen Störungen verborgene Kränkungen zugrunde liegen und zahlreiche psychopathologische Symptome in Wirklichkeit Reaktionen auf nicht verarbeitete Kränkungserlebnisse sind.

Besonders intensiv hat sich mir die Macht der Kränkung in meiner Tätigkeit als Kriminalpsychiater und Gerichtsgutachter gezeigt. Bei zahlreichen Mördern, Räubern oder Attentätern war kein anderes Motiv als tiefe Gekränktheit zu finden. Viele große Verbrecher erwiesen sich im Grunde als gekränkte Genies. Kränkungen sind oft die Wurzel kriminellen Verhaltens, von impulsiven Stehlhandlungen und Brandstiftungen bis zu Beziehungsdelikten und Familientragödien reichend. In neuerer Zeit bilden Kränkungen und Demütigungen die Basis des modernen Terrors. Der im Jänner 2015 die Welt erschütternde Anschlag auf die »Charlie Hebdo«-Karikaturisten hatte seinen Ursprung wohl im Gefühl der Beleidigung und Entwertung und war nichts anderes als eine grauenhafte, fatale Kränkungsverarbeitung. Die sich daran anschließende Debatte um die Grenzen der Karikatur war im Prinzip eine einzige Kränkungsdiskussion. Und wie ist die furchtbare Tat des Germanwings-Selbstmordattentäters, soweit sie überhaupt aufgeklärt werden kann, zu interpretieren? Als Fanal eines Gekränkten.

Dieses Buch kommt im Gegensatz zu seiner eigentlichen Intention nicht umhin, auch ein Psychologieratgeber zu sein, allerdings nicht im üblichen Sinn. Es enthält keine Powerstrategien gegen Beleidigung oder Mobbing und fokussiert nicht auf Antikränkungsmaßnahmen. Wie könnte man auch vermitteln, dass Sie nach der Lektüre nichts mehr kränken kann? Vielmehr will die Schrift das Kränkungsthema enttabuisieren und möglichst intensiv für Kränken und Gekränktsein sensibilisieren: für eigene Verwundungen und die Verletzlichkeit anderer, für einen sozialen und emotionalen Prozess, für eine der wichtigsten zwischenmenschlichen Interaktionen, für das so bedeutende und trotzdem verdrängte Phänomen der Kränkung. Es will vertraut machen mit dem Wesen der Kränkung, mit diesem schillernden und kaum zu beschreibenden sozialen Mechanismus, welcher viel schwerer zu fassen ist als die Beleidigung und viel unterschwelliger – aber auch anhaltender – wirkt als Verärgerung oder Missmut. Das Buch will eine Art »Kränkungsbewusstsein« schaffen, welches die beste Haltung in der unvermeidlichen Konfrontation mit Kränkungen darstellt. Es kann nicht vermitteln, wie man Kränkungen verhindert oder sich gegen diese wehrt, wohl aber, wie man mit ihnen umgehen kann. Wenn wir uns trauen, die Kränkungen in unserem Leben anzuschauen und sie auch ernst nehmen, werden wir besser mit unserer eigenen Empfindlichkeit und der Kränkungsgrenze der Mitmenschen zurechtkommen. Das Gespür für eigene Kränkbarkeit und das Kränken anderer bietet die beste Gewähr für den richtigen Umgang mit Kränkungen.

Um die destruktiven Folgen von Kränkungen zu entschärfen, ist es notwendig, diese zu enttabuisieren und Möglichkeiten der positiven Bewältigung – die gibt es tatsächlich – zu suchen. So kann die Handhabung der Kränkungen zur Entwicklungschance werden und die Selbst- und Fremdkenntnis fördern. Aufmerksames Wahrnehmen der eigenen Verletzlichkeit und behutsames Beachten der Kränkbarkeit unserer Mitmenschen machen uns sensibler und fördern die zwischenmenschliche Kompetenz. Achtsamkeit für Kränkungen vertieft unsere Einfühlungsfähigkeit, die Empathie, die wahrscheinlich wichtigste menschliche Eigenschaft überhaupt.

 

In diesem Buch werden drei Thesen verfolgt:

1.Kränkungen sind destruktive Energien, die fast jedem menschlichen Übel, von Krisen und psychosomatischen Krankheiten über Partnerschafts- und Berufskonflikte bis zu Terror und Krieg reichend, zugrunde liegen.

2.Kränkungen sind nicht nur eine komplexe Emotion, sondern eine Interaktion zwischen Kränkungsabsender (= Kränker), Kränkungsbotschaft (= Kränkung) und Kränkungsempfänger bzw. -adressaten (= Gekränkter).

3.Kränkungen bieten die Chance, sich selbst und die Mitmenschen besser kennenzulernen sowie die vielleicht wichtigste menschliche Emotion, das Empathievermögen, zu fördern.

 

Da Kränkungen in der menschlichen Gemeinschaft universell verbreitet sind und bei so vielen sozialen Begegnungen eine bedeutende Rolle spielen, besteht die Gefahr der inflationären Verwendung des Begriffs. Nicht alles und jedes ist eine Entwertung, nicht jede Kritik eine Demütigung, nicht jede Belastung oder Auseinandersetzung führt zur echten Kränkungsreaktion. Will man die Macht der Kränkung realitätsgerecht darstellen, ist eine nüchterne Einschätzung erforderlich. Deshalb wird das Wesen der Kränkung, die diesen Namen verdient, exakt beschrieben und in ihren Grundelementen erfasst. Dass aber neben manch einzigartigen Fällen, die in diesem Buch präsentiert werden, das eine oder andere Beispiel trivial und allzu alltäglich wirkt, ja wirken muss, ist angesichts der Allgegenwart von Kränkungen in unserem Leben nicht zu vermeiden. Auch müssen in einem Sachbuch, das ja kein reines Wissenschaftswerk ist, aufgrund der Konzeption und des beschränkten Umfangs Vereinfachungen vorgenommen werden, besonders in den theoretischen Teilen und den Fallschilderungen. Dies mögen die Leserinnen und Leser ungekränkt und großmütig verzeihen.

Wenn wir heute über die kranke Gesellschaft klagen, übersehen wir, dass sie nicht nur kalt, egoistisch oder unsolidarisch, sondern vor allem gekränkt ist, wahrscheinlich mehr als in anderen Phasen der Geschichte. Dafür gibt es zahlreiche Gründe, etwa die in Zeiten der Globalisierung stärker gewordene Anspruchshaltung, die steigende Zahl an hypersensiblen Charakteren oder die Etablierung des gesellschaftlichen Narzissmus, welcher unweigerlich mit starker Kränkbarkeit verbunden ist. In einer Gesellschaft, die sich wesentlich über Leistungserbringung, hohe Zielsetzungen, permanente Aktivität und Produktion definiert, werden jegliches Scheitern und die nicht zu verhindernden Misserfolge zwangsläufig zu Enttäuschungen und Selbstwertzweifeln führen. Und wenn wir Tätigkeiten, bei denen Produktivität und Erfolge nicht ohne Weiteres sichtbar sind, immer weniger schätzen, bereiten wir den Boden für Frustration und Kränkung vor.

Noch nie aber wurden Geringschätzung, Entwertung, Enttäuschung und Kränkung so sehr verdrängt und tabuisiert wie in unserer modernen Zeit. Das Kränkungsthema passt nicht zum Bild des bestens funktionierenden Menschen und schon gar nicht in unser durchorganisiertes Leben. Wenn wir aber genau hinsehen, müssen wir überrascht erkennen, dass sich hinter der so gern aufgezogenen Maske der Coolness und Unverletzbarkeit, der Korrektheit und äußeren Makellosigkeit etwas verbirgt, was der Mensch heute mehr denn je ist: ein gekränktes und kränkendes Wesen.