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Rudolf Egg

Die unheimlichen Richter

Wie Gutachter die Strafjustiz beeinflussen

C. Bertelsmann

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2. Auflage

© 2015 by C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: buxdesign München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-15807-1
V003

www.cbertelsmann.de

Für Annette

Inhalt

Einleitung

Aussage gegen Aussage

Wer sagt die Wahrheit?

Blick in die Zukunft

Täterbehandlung ist kein Allheilmittel

Schuld und Strafe

Wege und Irrwege

Zu guter Letzt

Dank

Register

Einleitung

»Ach, Sie sind also einer von denen, die diese Kerle am Ende wieder rauslassen, weil sie angeblich eine schlimme Kindheit hatten.« So oder so ähnlich reagieren Menschen, die mir im Alltag begegnen, wenn sie erfahren, dass ich Rechtspsychologe bin und Gutachten über Straftäter schreibe. Mit dürren Worten versuche ich in solchen Situationen zu erklären, was ich tatsächlich mache und dass ich meinen Beruf trotz aller Schwierigkeiten gerne mag. »In Ihrer Haut möchte ich aber trotzdem nicht stecken«, heißt es dann manchmal mitleidig, und auf mein erstauntes »Warum?« antwortete mir etwa der Musiker Dieter Bohlen am Rande einer Fernsehsendung einmal: »Weil Sie mit so viel Bekloppten zu tun haben.«

In der Tat ist es nicht einfach, einem Laien in wenigen Sätzen nahezubringen, welche Aufgaben ein forensischer Psychologe hat, welche Fragen er wie bearbeitet und welche Position er innerhalb des Justizsystems einnimmt. Das gilt in ähnlicher Weise sicherlich auch für andere akademische Berufe, doch bestehen hinsichtlich der Kompetenz von Gerichtsgutachtern bei vielen Personen offenbar wesentlich mehr grundsätzliche Zweifel und Vorbehalte als bei anderen Professionen. Immer wieder gibt es nämlich Strafverfahren, bei denen der Eindruck entsteht, die Justiz sei einseitig und falsch von Psycho-Sachverständigen beraten worden, wie etwa in dem Prozess gegen Gustl Mollath. Oder man fühlt sich an das Sprichwort erinnert, dass zu viele Köche den Brei verderben, weil gleich mehrere Gutachter beauftragt wurden, jeder etwas anderes sagt und am Ende zwar ein Urteil gefällt wird, das aber etliche Fragen offenlässt und darum von Vielen als unbefriedigend empfunden wird. Das Misstrauen der Bürger gegenüber dem Zustandekommen eines richterlichen Urteilsspruchs und die Befürchtung, dass oft die Gutachter die eigentlichen, die heimlichen oder gar unheimlichen Richter seien, bekommt durch solche Vorfälle immer wieder neue Nahrung.

Dabei spielt vor allem die mediale Berichterstattung über Strafverfahren eine nicht geringe Rolle, wenngleich es hier sowohl positive als auch negative Effekte gibt. Einerseits können öffentliche Medien als »Vierte Gewalt« – neben Exekutive, Legislative und Judikative – eine wichtige gesellschaftliche Kontrollfunktion ausüben, indem sie auf Schwachstellen und wesentliche Mängel hinweisen und damit darauf hinwirken, dass Fehler korrigiert werden, wie dies offenbar im Fall Gustl Mollath geschehen ist. Andererseits führt eine bloße Skandalisierung von Justizvorgängen nicht automatisch zu Verbesserungen, sondern verstärkt mitunter lediglich pauschale Vorurteile oder fördert Halbwissen und Ängste. Sachliche Aufklärung über die tatsächliche Bedeutung von Gerichtsgutachten und über die »wahre Macht« von Gutachtern ist daher dringend notwendig.

Doch nicht nur aus Empörung und medial geförderter Wut über eine als undurchschaubar, ja kafkaesk erlebte Justiz erlangt das Thema viel Aufmerksamkeit, oft spielt auch die Sorge um eine mögliche persönliche Betroffenheit eine große Rolle, die Frage also, was wäre, wenn es um einen selbst ginge.

Solche und ähnliche Fragen werden mir beinahe täglich gestellt. Ich habe den Eindruck, dass die gutachterliche Praxis, die normalerweise im Verborgenen stattfindet, zwar durch Presseberichte vermehrt ans Licht der Öffentlichkeit gerät, dort dann aber nicht differenziert genug diskutiert oder schlichtweg nicht verstanden wird. Außer Fachkollegen, spezialisierten Gerichtsreportern und anderen Kennern der Szene durchschaut offenbar kaum jemand die Arbeit forensischer Gutachter, die gleichwohl vehement angezweifelt und kritisiert wird.

Ich bin seit vielen Jahren Kriminalpsychologe und Gerichtsgutachter, und man erwartet von mir deshalb nicht ganz zu Unrecht, dass ich über die Beurteilung von Straftätern und Verbrechensopfern Bescheid weiß. Wenn ich gelegentlich den Medien Rede und Antwort stehe, dann bleiben für meine Auskünfte meist nur wenige Minuten Zeit. Wen wundert es, dass bei solch engen zeitlichen Vorgaben nur ein paar allgemeine Punkte angesprochen werden können und am Ende vielleicht mehr Fragen offen bleiben, als Antworten gegeben wurden?

»Schreiben Sie doch ein Buch darüber!«, empfahl mir vor einiger Zeit ein Kollege. »Dann können Sie sich zu diesen Themen viel ausführlicher äußern.«

»Fachliteratur dazu gibt es aber doch wahrlich genug«, erwiderte ich spontan.

»Aber nirgendwo wird einem Laien verständlich erklärt, wie Gutachter wirklich arbeiten, also was sie konkret tun, wenn sie bei einem Prozess zu Rate gezogen werden. Welche Rolle, welche Aufgaben, welche Möglichkeiten, aber auch welche Grenzen sie haben. Und was das für Betroffene, die Angeklagten oder Verurteilten, die Zeugen und letztlich auch für die Gesellschaft bedeutet.«

Das Argument saß. Es war eine Herausforderung. Eine Idee, die sich seitdem in meinem Kopf festsetzte und mich nicht mehr losließ. Das Ergebnis sehen Sie vor sich.

Um es gleich vorweg zu sagen: Weil ich selbst als Gutachter tätig bin, kann ich hier nicht die Position eines neutralen Außenstehenden einnehmen, also so tun, als würde ich mir quasi bei meiner eigenen Arbeit zusehen, um diese dann kritisch zu bewerten. Dennoch ist das Buch keine billige Lobrede auf Gerichtsgutachten oder Sachverständige. Es geht mir nicht darum, alle Gutachterinnen und Gutachter pauschal in Schutz zu nehmen oder zu sagen: »Fehler? WIR sind bestimmt nicht schuld. Wir machen alles richtig, ihr da draußen versteht es nur nicht.« Im Gegenteil, ich sehe in meinem Beruf viele Probleme und Ungereimtheiten, Vieles, was es zu verbessern gibt. Das soll in diesem Buch nicht verschwiegen werden.

Und noch ein zweiter wichtiger Punkt: Ich bin Rechtspsychologe, kein Psychiater. Ich habe also Psychologie studiert, nicht Medizin. Obwohl es viele Berührungspunkte dieser beiden Berufe in der praktischen Arbeit gibt, insbesondere bei der Erstellung von Gutachten für Gerichte und Justizbehörden, handelt es sich dennoch um zwei grundsätzlich verschiedene Fachgebiete. Das wird im Alltag, nicht selten auch in Reportagen und Fernsehkrimis, oft durcheinandergebracht. Deshalb hier eine kurze Erläuterung:

Die Psychiatrie ist ein Teilgebiet der Medizin; deren Spezialgebiet ist die Diagnose und Behandlung psychischer Krankheiten, etwa einer Schizophrenie oder Depression. Wenn eine solche Erkrankung für das Zustandekommen einer Straftat eine wesentliche Rolle gespielt hat oder wenn ein solcher Zusammenhang jedenfalls möglich erscheint, dann ist in der Regel die Beauftragung eines psychiatrischen Sachverständigen sinnvoll. Dieser ist mit seinen Spezialkenntnissen am ehesten in der Lage, das Ausmaß der psychischen Störungen, deren Verlauf und Behandlungsmöglichkeiten zutreffend einzuschätzen. Dies schließt freilich nicht aus, dass zur Ergänzung des psychiatrischen Gutachtens auch eine psychologische Expertise eingeholt wird.

Die Psychologie wird heute vor allem als Sozialwissenschaft verstanden. Bei der Betrachtung der Entstehung von Straftaten stehen hier insbesondere soziale und persönlichkeitsbezogene Aspekte im Vordergrund. Bei Tätern, für die nicht schwere psychische Erkrankungen, sondern primär andere Defizite, etwa eine unzureichende Bildung, eine erhöhte Reizbarkeit und Aggressivität oder auch ein labiles Bindungsverhalten, als wesentliche Faktoren für deren straffälliges Verhalten anzunehmen sind, dürften in der Regel meine Kolleginnen und Kollegen der Rechtspsychologie die richtige Wahl bei der Begutachtung der Schuldfähigkeit oder der Kriminalprognose sein. Die Analyse des abweichenden Verhaltens von Menschen, die grundsätzlich als psychisch gesund anzusehen sind, ist schließlich das Spezialgebiet der Kriminalpsychologie. In solchen Fällen könnte selbstverständlich eine psychiatrische Zusatzuntersuchung das diagnostische Bild abrunden.

Ich werde mich in diesem Buch weitgehend darauf beschränken, ja beschränken müssen, die einzelnen Themen vorwiegend aus meiner eigenen beruflichen Perspektive, aus der Sichtweise eines Rechtspsychologen also, zu betrachten. Selbstverständlich soll dabei das Nachbarfach forensische Psychiatrie nicht gänzlich ausgeblendet werden.

Und noch eine Einschränkung gibt es: Neben den im Buch erläuterten Gutachten in Strafverfahren gibt es auch rechtspsychologische Expertisen in Zivilprozessen, insbesondere im Familienrecht. Obwohl dies ein sehr wichtiger Bereich ist, der auch in jüngster Zeit immer wieder in die öffentliche Diskussion geraten ist, werde ich mich dazu nicht äußern, weil die damit verbundenen Fragen doch zu weit weg sind von meinem derzeitigen Arbeitsgebiet.

Die Fragestellungen, die in Strafverfahren, im Strafvollzug und bei Entscheidungen über die vorzeitige Entlassung aus dem Gefängnis oder aus einer psychiatrischen Klinik an forensische Gutachter herangetragen werden, spielen in vielen Fällen eine große, manchmal sogar entscheidende Rolle. Deshalb ist es aus meiner Sicht längst überfällig, dass darüber eine offene Diskussion geführt wird. Denn die Kompetenz zu entscheiden, wann eine Aussage als glaubhaft und verwertbar gilt und wann nicht, wer als allgemeingefährlicher Täter identifiziert wird und wer nicht, liegt in der Hand einer überschaubaren Anzahl von Menschen, und die Gesellschaft sollte diese Tätigkeit, wie ich finde, dringend besser kennenlernen und durchaus kritisch betrachten.

Sie finden in diesem Buch einige der erstaunlichsten Fälle aus meiner Praxis als Gutachter, also besonders schwierige, ungewöhnliche oder eindrucksvolle Beispiele. Anhand dieser Fallgeschichten möchte ich erläutern, welche Fragen durch gerichtspsychologische Gutachten geklärt werden sollen und welche Methoden dabei zur Anwendung kommen. Ich will zudem auch zeigen, dass unsere Arbeit nicht nur vor Gericht passiert, sondern, grob gesagt, drei Zeitpunkte kennt, denen jeweils eigene Besonderheiten innewohnen:

Alle in diesem Buch von mir dargestellten Fälle haben sich so zugetragen wie geschildert oder ergeben sich zumindest so aus den Akten und Gesprächen. Lediglich Namen, Orte und einige unwesentliche Details wurden von mir verändert, vor allem um die beteiligten Personen und deren Umfeld zu schützen. Die dabei abgegebenen Einschätzungen und Bewertungen sind selbstverständlich nicht als endgültig oder unumstößlich zu betrachten, sondern geben lediglich meine subjektive Sicht der Dinge wieder. Andere Sichtweisen sind zweifelsohne möglich, manchmal vielleicht sogar zutreffender.

Ich will nicht verhehlen, dass ich meine Tätigkeit als Gerichtsgutachter zwar abwechslungsreich, interessant und manchmal sogar spannend finde, weil es immer wieder um neue Personen und Lebensgeschichten geht. Es gibt dabei aber auch belastende Momente, die eine besondere Herausforderung darstellen und auch einen erfahrenen Gutachter weit über den eigentlichen Auftrag hinaus beschäftigen können. Nie werde ich etwa den Fall eines siebenjährigen Mädchens vergessen, das eines Morgens im Bett mit anhören musste, wie auf dem Flur vor dem Kinderzimmer ein brutaler Mord an einer jungen Frau geschah, und das ich wenige Tage danach auf Bitten der Staatsanwaltschaft über seine Erlebnisse befragen sollte. Das Kind hatte den verzweifelten Todeskampf des Mordopfers mit angehört – die Schreie und das hilflose Trampeln auf dem Boden –, hatte sich lange im Bett verkrochen und schließlich die Polizei angerufen. Erst sehr viel später stellte sich heraus, dass der Vater des Mädchens der Täter war; er war an jenem Morgen mit seiner neuen Freundin in Streit geraten und hatte sie erstochen.

Die Begutachtung eines Kindes, das eine derartige Bluttat hautnah miterleben musste und dabei selbst massive Ängste auszuhalten hatte, erfordert großes Fingerspitzengefühl und ist für einen Gutachter eine heikle Angelegenheit. Er selbst hat eine Sachfrage zu klären – Was hat das Kind erlebt? –, gleichzeitig muss er aber das Wohl des Kindes stets fest im Blick haben und deshalb alles unterlassen, was zu einer Verstärkung der durch die Tat hervorgerufenen Traumatisierung beitragen könnte. Ein solches Abwägen zwischen dem bloßen Gutachtenauftrag und der Berücksichtigung von Gefühlen und Empfindlichkeiten findet sich auch bei anderen Fragestellungen und Personen. Die Gefahr, durch ein allzu schematisches, einheitliches Vorgehen den Blick für das Besondere eines Menschen, das Einmalige eines konkreten Falles zu verlieren, ist groß.

Bei der Begutachtung von Angeklagten oder Verurteilten gehe ich zudem davon aus, dass es trotz verschiedener kriminologischer Fallgruppen den »typischen Verbrecher« nicht gibt; jeder Fall, jeder Mensch ist darum neu zu betrachten. Als Gutachter habe ich es immer wieder erlebt, dass ich Personen vor mir hatte, deren Tat ganz und gar nicht zu ihrem bisherigen Leben zu passen schien, sodass deren kriminelle Handlungen völlig fremd und unerklärlich wirkten. Offenbar können auch schwere und schwerste Gewalttaten von an sich unauffälligen, ja eigentlich harmlosen Menschen verübt werden, zum Beispiel dann, wenn diese in scheinbar ausweglose Situationen geraten, die sie buchstäblich überfordern.

Die populäre These, dass praktisch jeder zum Mörder werden kann, halte ich zwar für überzogen. Richtig ist jedoch nach meiner Erfahrung, dass niemand wissen kann, ob er einmal mit einem Sachverhalt konfrontiert wird, der ihn an die Grenzen seiner psychischen Kraft und Handlungskontrolle bringt. Im Kapitel »Blick in die Zukunft« stelle ich dazu das Beispiel eines Mannes vor, der eigentlich nur seiner Tochter zu Hilfe eilen wollte und dennoch fast einen Menschen getötet hätte.

Wie ermittelt man in solchen Fällen die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls, einer neuen Straftat? Ich kann nur für mich sprechen, aber ich versuche stets, mich nach dem Grundsatz zu richten, einen Menschen immer ganzheitlich zu beurteilen, also sein ganzes bisheriges Leben zu betrachten und ihn nicht lediglich auf seine Straftaten zu reduzieren.

Gelegentlich werde ich mich bei meinen Ausführungen auch auf prominente (und vor allem problematische) Fälle beziehen, die durch die Medien bekannt geworden sind. Ich bin kein Gerichtsreporter, und an Verhandlungen, bei denen ich nicht als Sachverständiger geladen bin, nehme ich so gut wie nie teil. Die öffentliche Wahrnehmung solcher Fälle und die gesellschaftliche Bedeutung und Beurteilung von Gerichtsgutachten spüre ich jedoch auch bei meiner eigenen Arbeit, die ich nach dem Gesetz »unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen« (§ 79 StPO) zu leisten habe. Deshalb werde ich die Frage, ob und inwieweit man als Gutachter auch informellen Zwängen ausgesetzt ist, die mit allgemeinen kriminalpolitischen Debatten oder mit besonders stark medial skandalisierten Fällen zusammenhängen, offen ansprechen. Dasselbe gilt für die Frage einer möglichen direkten Beeinflussung durch Verfahrensbeteiligte.

Manchmal werde ich gefragt, ob ich mich denn bei meinen Gutachten schon einmal gewaltig geirrt habe, also ob zum Beispiel jemand aufgrund einer von mir erstellten günstigen Prognose entlassen wurde, der dann aber doch erneut Straftaten beging. Oder ob jemand wegen meiner Expertise zu Unrecht oder zu schwer verurteilt wurde und später doch noch seine Unschuld bewiesen werde konnte. Eine vielleicht peinliche, aber sicherlich wichtige und durchaus berechtigte Frage, denn nicht zuletzt seit Gustl Mollaths Freilassung sind Zweifel an der Qualität und Kompetenz psychiatrisch-psychologischer Gutachten auch in einer breiten Öffentlichkeit aufgekommen. Die Sensibilität für dieses Thema scheint mir wichtig und wird wohl auch andauern.

Wie in jedem Beruf gibt es gewiss auch bei Gerichtsgutachten immer wieder Fehler und Irrtümer; ich kann mich da keinesfalls ausschließen. Um meine eigenen Schwächen zu erkennen, ist es freilich nötig, dass ich weiß, wie ein Gerichtsverfahren ausgegangen ist und welche Folgen meine Empfehlungen hatten. Dies aber ist nicht die Regel. Wenn ich einmal ein Gutachten abgeschlossen habe, dann gibt es kein automatisches Feedback über die weitere Umsetzung und die folgenden Schritte. Dazu muss ich schon gezielt nachfragen. Erst recht weiß ich zumeist nichts darüber, was aus einer Person, über die ich vor etlichen Jahren ein Gutachten geschrieben habe, längerfristig geworden ist. Wenn es sich also nicht um einen besonders gravierenden Fall handelt, über den später auch in den Medien berichtet wird, oder der mir anderweitig zugetragen wurde, dann sind mir bestimmte nachträgliche Erkenntnisse weitgehend nicht vergönnt. Auf die Frage, wie man trotz dieser lückenhaften Rückmeldung und Erfolgskontrolle versuchen kann, die Qualität der gutachterlichen Arbeit zu verbessern, werde ich an verschiedenen Stellen in diesem Buch eingehen.

Wer nicht von vornherein davon überzeugt ist, immer alles richtig oder jedenfalls besser zu machen als andere, für den ist der kritische Erfahrungsaustausch mit Kollegen besonders wichtig. Dabei fällt es erfahrungsgemäß leichter, Fehler anderer zu kritisieren als über eigene Schwächen zu sprechen. Denn auch für Gutachter gilt offenbar das Bibelwort, dass der Splitter im fremden Auge leichter zu sehen ist als der Balken im eigenen. Von einer kritischen Darstellung kriminalpsychologischer Aufgaben und Tätigkeiten wird man allerdings mit Recht erwarten dürfen, dass nicht nur – wenn überhaupt – skeptisch auf andere geblickt wird, sondern dass auch eigene Irrtümer offen angesprochen werden, jedenfalls solche, die man erkannt hat und aus denen man seine Schlüsse gezogen hat. Auch über solche Lehrstunden meiner Berufspraxis werde ich berichten.

Im Übrigen sollten Gerichtsgutachten aber nicht als in Stein gemeißelte letzte Wahrheiten angesehen werden, sondern lediglich als Momentaufnahmen mit zeitlich, örtlich und inhaltlich begrenzten Stellungnahmen. So können etwa Sachverhalte, die zum Zeitpunkt einer Gutachtenerstellung nicht oder noch nicht bekannt waren, eine einmal getroffene Beurteilung im Nachhinein massiv verändern. Von einem Fehler zu Lasten des Gutachters lässt sich in solchen Fällen schwerlich sprechen, wenn diese Informationen unzweifelhaft nicht oder jedenfalls noch nicht verfügbar waren. Etwas anderes gilt selbstverständlich für die Bewertung von bekannten Tatsachen, die falsch gewichtet wurden. Auch das werde ich anhand verschiedener Beispiele erläutern.

Ich werde also im Folgenden wesentliche Inhalte meiner Arbeit als Gutachter, denkwürdige Begegnungen und Erlebnisse vor Gericht so anschaulich und lebhaft wie möglich darstellen. Außerdem hoffe ich, dass die einzelnen Kapitel und die dort dargestellten Fallbeispiele Ihnen zu neuen Innenansichten und Einsichten verhelfen. Seien Sie neugierig auf die Beantwortung folgender Fragen:

Doch nun genug der Vorreden. Die Reise in die Welt der Gerichtspsychologie kann beginnen.