Buch
Ein Jahrtausend lang lenkte Valhan, der mächtigste aller Magier, die Geschicke der tausend Welten. Doch nun ist er tot, und Chaos greift um sich. Seine natürliche Nachfolgerin ist die junge Magierin Rielle, aber sie sträubt sich, diese Verantwortung zu übernehmen. Ohne ihre Wünsche zu beachten bekämpfen sich im Hintergrund bereits ihre Unterstützer und ihre Gegner. Und niemand weiß, dass Valhans Pläne über seinen Tod hinausgehen. Er will wiedergeboren werden, um ein weiteres Jahrtausend die Welten zu beherrschen – und dafür werden er und seine Anhänger jedes Hindernis beseitigen.
Autorin
Trudi Canavan wurde 1969 im australischen Melbourne geboren. Sie arbeitete als Grafikerin und Designerin für verschiedene Verlage und begann nebenbei zu schreiben. 1999 gewann sie den Aurealis Award für die beste Fantasy-Kurzgeschichte. Ihr Erstlingswerk, der Auftakt zur Trilogie Die Gilde der Schwarzen Magier, erschien 2001 in Australien und wurde weltweit ein riesiger Erfolg. Seither stürmt sie mit jedem neuen Roman die internationalen Bestsellerlisten. Allein in Deutschland wurden bislang über 2,5 Millionen Bücher von Trudi Canavan verkauft.
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Trudi Canavan
Die MÄCHTIGE
DIE MAGIE DER TAUSEND WELTEN 3
Roman
Deutsch von Michaela Link
ERSTER
TEIL
1 Tyen
Das Rumpeln war eher zu fühlen als zu hören, ein tiefes Beben, das von den Füßen aufgenommen durch Mark und Bein ging und in der Brust seine natürliche Resonanz fand. Alle Scheibenmacher blickten gleichzeitig auf, dann ließ das Rumpeln wieder nach, und sie wandten sich zu Tyen um.
Er sah von einem zum anderen, während sich in ihren ängstlichen Mienen ein wachsendes, ungreifbares Grauen widerspiegelte. Alle standen ganz still, daher erregte die kleine Bewegung an der Eingangstür zur Werkstatt sofort seine Aufmerksamkeit. Ein menschenförmiger Schatten nahm Gestalt an, gewann Konturen und wurde schnell dunkler. Eine Frau, den Mund zu einem grimmigen Strich zusammengepresst.
»Sprecherin Fursa«, sagte er, und als die anderen sich zu der Zauberin umwandten, veränderten sich ihre Züge und zeigten jetzt Respekt. Sie legten sich zwei Finger aufs Herz, um die Anführerin ihrer Welt zu grüßen, und Tyen tat es ihnen gleich.
»Tyen Scheibenmacher.« Die Frau trat in die Welt ein. »Der Große Markt ist überfallen worden. Wir brauchen Hilfe.« Sie sah sich um. »Von euch allen.«
Tyen nickte. »Die Angreifer?«
»Verschwunden.« Sie holte tief Luft und stieß den Atem wieder aus, in ihren Augen ein dunkler, gehetzter Ausdruck. »Das halbe Dach ist eingestürzt. Viele sind darunter begraben.«
Die Scheibenmacher wechselten entsetzte Blicke. Tyen griff nach einem Lappen und wischte sich das Öl von den Händen. »Wir kommen sofort.«
Sie nickte, dann verblasste sie und war gleich darauf nicht mehr zu sehen.
»Ich werde euch hinbringen«, erbot sich Tyen. Die anderen Scheibenmacher entfernten sich von den Maschinen, an denen sie gearbeitet hatten, und gesellten sich zu ihm in den einzigen freien Bereich im Raum, die Stelle vor der Eingangstür. Jeder ergriff die Hand eines anderen Arbeiters; Männer und Frauen verbunden durch ihre Berührung.
»Seid ihr bereit?«
Ein zustimmendes Raunen folgte, dann holten alle tief Luft. Tyen zog Magie von einer Stelle weit über ihnen, um das, womit die Stadt für schwächere Zauberer mit einer kürzeren Reichweite angefüllt war, nicht antasten zu müssen. Doum war zwar eine an Magie reiche Welt, und die Lücke, die er hinterließ, würde schon bald wieder ausgefüllt sein durch das, was aus der Umgebung dorthin nachfloss, doch er fände es schrecklich, wenn durch seine Schuld andere Zauberer am Schauplatz der Katastrophe nicht helfen konnten.
Als er sich aus der Welt abstieß, schien die Werkstatt ihre Farben zu verlieren, und alle Geräusche erstarben. Er spürte eine frische Delle im Stoff zwischen den Welten, zweifellos dort, wo Sprecherin Fursa hindurchgetreten war, um zu ihnen zu gelangen, da der Pfad aus der Richtung des Rathauses kam. In dem Bewusstsein, dass er und seine Arbeiter zwischen den Welten nur so lange durchhalten konnten, wie sie ohne Luft zu überleben vermochten, sandte er sie rasch empor und passierte die Decke und das erste Stockwerk hinein in einen blassblauen Himmel. Mit Blick über Alba, der größten und berühmtesten Stadt der Töpfer in Doum, suchte er nach der vertrauten, bogenförmigen Silhouette des Großen Marktes.
Als er sie fand, hielt er erschrocken inne. Fursa hatte bei der Beschreibung des Schadens untertrieben, oder es hatte sich in der Zwischenzeit noch Schlimmeres ereignet. Nur ein Viertel des bemerkenswerten, gewellten Daches, konstruiert durch zusammenzementierte, flache Ziegelsteine, war übrig geblieben.
Er ließ sie darauf zusausen.
Die Halle des Großen Marktes war ein wunderschönes Gebäude gewesen. Darin befanden sich Verkaufsstände, an denen die besten Waren der Stadt feilgeboten wurden und die Tag und Nacht besetzt waren. Warum sollte irgendjemand versuchen, den Markt zu zerstören?, fragte er sich. War der Angriff von einer rivalisierenden Stadt ausgegangen oder von irgendwo außerhalb der Welt? Den Markt anzugreifen hieß, Albas wichtigste Einkommensquelle zu attackieren. Es war außerdem ein Angriff auf den Ort, in den er fünf Zyklen investiert hatte, um sich ein neues Zuhause zu schaffen – ein Ort, den er mehr liebte als seine eigene Heimatwelt –, und Zorn regte sich in ihm.
Zweifellos wussten die von den Werkstattmeistern der Städte Doums gewählten Sprecher mehr. Er könnte nach Informationen suchen, indem er ihre Gedanken las, aber wie bei vielen Völkern der Welten war das Gedankenlesen ohne Erlaubnis hier geächtet. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, dieses Gesetz zu befolgen, nicht zuletzt, weil es nur eines Ausrutschers seinerseits bedurfte, um zu offenbaren, dass er dieses Gesetz gebrochen hatte, und damit wäre die Billigung, nach der er strebte, verloren. Er mochte sich als ein mächtiger Zauberer und der Erfinder der ersten magiebetriebenen Töpferscheiben der Welt ihren Respekt verdient haben, aber als Anderweltler betrachtete man ihn trotzdem mit Argwohn.
Die Stadt unter ihm blitzte verschwommen vorbei. Das zerstörte Gebäude gewann mit zunehmender Annäherung an Größe und Details. Als sie sich den gezackten, eingestürzten Mauern näherten, erblickten sie in den Schatten dazwischen einen großen Schutthaufen. In den Trümmern glitzerten Glassplitter. Ein paar Überreste der Verkaufsstände ragten aus dem Chaos hervor, aber die Waren und die Betreiber der Stände waren vielerorts unter den Trümmern begraben. Einige Menschen waren dabei, Schutt wegzuräumen; andere lagen auf dem Boden inmitten der Verkaufsbereiche, die noch standen, ihre Kleider voller Blut. Manche bewegten sich, andere nicht.
Der Anblick brachte unschöne Erinnerungen an einen einstürzenden Turm mit sich sowie eine Welle von Schuldgefühlen. Er drängte beides beiseite. Seit der Tragödie des Einsturzes der Helmburg waren zehn Zyklen vergangen – wobei Zyklen ein Ersatzmaß für »Jahre« war, das Zauberer und Händler zwischen den Welten benutzten, da keine Welt das exakt gleiche Jahresmaß hatte wie die anderen –, aber er erinnerte sich immer noch deutlich daran. Er war jetzt noch fester entschlossen zu helfen. Diesmal kann ich etwas tun, sagte er sich. Wenn man mich lässt.
Er brachte seine Arbeiter auf der Suche nach einem sicheren Ankunftsort nach unten. Er entschied sich dagegen, sie innerhalb des Gebäudes wieder in die Welt zu bringen, da er sich nicht sicher sein konnte, ob der verbliebene Teil des Daches nicht einstürzen würde. Fursa hat gesagt, wir seien die Zauberer, die am nächsten sind – also sind wohl noch nicht viele andere da. Ich sollte besser alle abschirmen, falls die Mauer nach außen stürzt. Auf dem Platz draußen vor dem Gebäude wimmelte es von Schaulustigen. Helfer eilten aus dem Gebäude, warfen Trümmer auf stetig wachsende Haufen und liefen dann wieder hinein. Weil es dort keine freie Fläche zum Landen gab, wählte er einen Bereich zwanzig Schritt entfernt und wartete darauf, dass die Leute, die dort standen, sie bemerkten und Platz machten.
Es dauerte nicht lange. Als sie die zum Teil durchsichtige Gruppe entdeckten, liefen die Schaulustigen hastig beiseite. Kaum war der Platz frei, brachte Tyen seine Arbeiter zurück in die Welt. Alle sogen hustend die staubige, trockene Luft ein. Manche verbargen das Gesicht in den Händen, als die körperlichen Auswirkungen von Gefühlen, die zwischen den Welten fehlten, plötzlich zurückkehrten. Noch während sie tief durchatmeten, um sich von der Reise zu erholen, strafften sich ihre Schultern, und die Hände, mit denen sie sich an ihren Nachbarn festgehalten hatten, um sich von Tyen mitziehen zu lassen, tätschelten und drückten nun zur Beruhigung und Unterstützung.
»Lasst uns sehen, was wir tun können«, sagte Tyen und ging auf das Gebäude zu.
Als sie eintraten, blickte er zu der verbliebenen Decke empor. Nur eine der fünf hohen Säulen in der Mitte stand noch. Er zog ein wenig Magie in sich hinein und brachte die Luft über seinen Arbeitern zum Stillstand, um einen Schild zu formen – vielleicht ein wenig zu stark, da Kälte die Luft sofort kondensieren ließ.
»Das ist nicht nötig, Tyen Scheibenmacher«, meldete sich ein Mann zu Wort, der irgendwo rechts von Tyen stand. »Wir sorgen dafür, dass das Dach obenbleibt.«
Tyen hielt nach dem Sprecher Ausschau. Ein ihm bekannter alter Mann erschien und schlängelte sich zwischen den Arbeitern hindurch.
»Meisterglaser Rayf.« Tyen stieß den Atem aus. »Was können wir tun?«
»Hat irgendjemand von euch heilende Fähigkeiten?«, fragte Rayf.
Die Arbeiter wechselten Blicke, und die meisten von ihnen schüttelten den Kopf.
»Ich kenne mich ein bisschen aus«, meldete sich einer der jüngeren Männer zu Wort. »Ich verstehe mich nicht auf heilende Magie, aber auf Verbände und das Nähen von Wunden.«
»Ich habe ein wenig Zeit in Faurio verbracht, während der Ausbildung«, sagte Tyen. Bis mich ein ehemaliger Rebell erkannt hat, fügte er im Geiste hinzu, und ich hatte die Wahl, ihn entweder zu töten oder fortzugehen. »Ein paar Grundlagen habe ich mitbekommen.«
Rayfs Blick wanderte zu Tyen, und er zog eine Augenbraue hoch. »Ihr könnt mit Magie heilen?«
Tyen schüttelte den Kopf. »Das können nur die, die nicht altern.«
Bei diesem Informationsfetzen über Tyen schärfte sich der Blick des alten Mannes. Zweifellos hatte er sich schon gefragt, ob der mächtige Anderweltler alterte – oder vielmehr, was es für Doum bedeutete, wenn er das nicht tat. Dann schaute er an Tyens Schulter vorbei und runzelte die Stirn. Er trat ein wenig näher an Tyen heran und lud ihn mit leiser Stimme ein: »Blickt in meinen Geist.«
Tyen tat es und sah dort Bestürzung und ein Bild von den Ständen in seinem Rücken. Hinter einer Reihe von Trümmer wegschaffenden Leuten befand sich zwischen Töpferware, die in einem noch intakten Marktstand aufgestapelt war, ein dunklerer Schatten. Daraus blitzte ein Paar Augen hervor, das auf den großen Schutthaufen gerichtet war.
Dann sah Rayf wieder Tyen an. »Ich kann seine Gedanken nicht lesen. Wer ist das?«, zischte er.
Tyen sandte seine Sinne hinter sich und suchte nach dem Besitzer der Augen. Angesichts der Gedanken, auf die er dort traf, runzelte er die Stirn.
Das wird noch Stunden dauern. Je länger ich hierbleibe, desto größer ist die Gefahr, dass mich jemand entdeckt. Warum sollte ich es riskieren, gefangen genommen zu werden, obwohl nicht ich derjenige war, der den Auftrag gegeben hat, den Markt zu überfallen? Und wenn tatsächlich ein Sprecher gestorben ist, wird der Kaiser keine Verhandlungen führen, um mich zurückzubekommen. Er wird mich im Stich …
»Sein Name ist Axavar«, murmelte Tyen. »Er stammt von Murai. Ein Zauberer der dortigen Schule.«
»War er bei denen, die das hier getan haben?«
Tyen nickte. »Er ist hier postiert worden, um Wache zu halten und sicherzustellen, dass er und die anderen Angreifer keine Sprecher getötet haben. Der Kaiser wird nur gegen die vorgehen, die den Angriff in Auftrag gegeben haben, wenn einer unserer Anführer gestorben ist.«
Rayfs Augen wurden schmal. »Und wer hat das getan?«
»Er hat die Händler von Murai in Verdacht.«
Der alte Mann stieß ein Zischen aus. »Zweifellos bestraft man uns dafür, dass wir einen Mindestpreis festgesetzt haben. Was für Händler?«
»Er denkt an niemand Bestimmten. Er ist nur ein Handlanger. Noch zu jung, als dass man ihm viel Autorität übertragen hätte.«
Und er störte sich nicht im Mindesten an dem, was er und seine Leute hier angerichtet hatten. Tyen schüttelte den Kopf. Es war unglaublich grausam, Menschen zu töten, nur weil sie sich weigerten, ihre Waren zu einem zu niedrigen Preis zu verkaufen, um noch davon leben zu können. Wenn Axavars Gedanken zutreffend waren, dann hatten die Händler von Murai sich überlegt, dass ihr eigenes Überleben davon abhing, die Waren Doums mit einem ordentlichen Profit weiterverkaufen zu können, obwohl Tyen den Verdacht hatte, dass »Überleben« nicht bedeutete, dass sie dem Hungertod entgegensahen – sie befürchteten lediglich eine Verringerung ihres gewaltigen Reichtums.
»Was erwartet Ihr von mir?«, fragte Tyen.
Rayf zögerte, sein Gesichtsausdruck unentschlossen, doch als eine Frau seinen Namen rief, hellte sich seine Miene ein wenig auf. Sie drehten sich beide um und sahen mehrere in rote Gewänder gekleidete Männer und Frauen in das Gebäude kommen. Eine Frau ging direkt auf Rayf zu, während die Übrigen zu den Verletzten eilten.
»Ah, gut. Die Heiler von Payr sind hier.« Der alte Mann wandte sich wieder Tyen zu. »Folgt ihm, wenn er geht. Findet heraus, wer sonst noch verantwortlich ist und ob der Kaiser dahintersteckt.«
Tyen nickte. Er holte tief Luft, dann stieß er sich aus der Welt ab und hielt an, als er kaum noch seine eigene Position im Raum ausmachen konnte. Man hätte glauben können, er sei verschwunden, wenn man nicht ganz genau hinschaute. In einem weiten Bogen näherte er sich dem Muraianer von hinten.
Im letzten Moment drehte der Mann sich um und entdeckte Tyen. Und floh, schoss in das Dazwischen und raste davon.
Tyen jagte ihm nach.
Der zerstörte Große Markt verblasste, während Tyen dem Mann folgte. Der Stoff zwischen den Welten wallte zu beiden Seiten von Axavars frischem Pfad auf. Als Tyen langsam auf den Mann aufholte, beschleunigte dieser sein Tempo. Tyen hätte zu ihm aufschließen können, aber er hielt sich zurück und ließ den Mann den Abstand zwischen ihnen vergrößern. Es war besser, Axavar glauben zu machen, er habe Tyen abgeschüttelt, sodass er direkt zu seinem eigentlichen Ziel flog.
Höchstwahrscheinlich handelte es sich dabei um die anderen Zauberer, die den Markt angegriffen hatten. Tyen würde sich ihnen vorsichtig nähern, und zwar so, dass sie es nicht bemerkten. Es war unwahrscheinlich, dass ein einzelner muraianischer Zauberer stark genug war, um eine Bedrohung für Tyen darzustellen, aber er konnte nicht ermitteln, wie mächtig sie zusammen sein mochten. Und wenn sie dachten, er sei die Vorhut eines Gegenangriffs von Doum, würden einige von ihnen vielleicht nach Alba zurückkehren und erneut angreifen.
Als er endlich den Punkt genau zwischen den Welten, wo überhaupt nichts sichtbar war, passiert hatte, tauchten langsam Schatten aus dem Weiß auf. Eine Stadt lag unter ihnen, die schnell Gestalt annahm. Sie befand sich am Fuß einer Felswand, über die sich ein großer Wasserfall ergoss, der die Stadt unablässig in einen Nebel aus Gischt hüllte. Der Fluss unterhalb der Felswand teilte die Stadt, aber eine Reihe anmutiger Brücken verband die beiden Hälften.
Dies war Glaemar, die Hauptstadt des mächtigsten Landes auf Murai und die Heimat des Kaisers, der hier über alle bis auf einige wenige ferne Länder herrschte, die zu arm waren, um zu einer Eroberung zu verlocken. Tyen war ungefähr zu der Zeit schon einmal hier gewesen, als er sich in Doum niedergelassen hatte, neugierig auf den wohlhabenden und mächtigen Nachbarn und Hauptkunden der Welt der Töpfer. Während Glaemars Klima kühler war als das von Alba, war die Atmosphäre kultivierter – aber unfreundlicher. Wohlstand und Macht wurden hier weitervererbt und die Armen in ewiger Knechtschaft gehalten. Magische Fähigkeiten boten nur begrenzte Freiheit von starren Klassenschranken.
Es erinnerte ihn zu sehr daran, woher er kam, aus dem erhabenen leratianischen Reich, das den größten Teil seiner Welt erobert und kolonialisiert hatte – auch wenn es in der Stadt Beltonia mit ihrem fortschrittlichen Kanalisationssystem erheblich weniger stank, als es Glaemars notdürftig abgedeckte Gräben taten.
Axavar stürmte auf seine Heimatwelt zu und verminderte erst im letzten Moment das Tempo, um seine Position zu verändern. Tyen ließ sich zurückfallen. Er wusste, dass die geringeren magischen Fähigkeiten des Mannes bedeuteten, dass er größere Schwierigkeiten hatte, andere zwischen den Welten zu sehen. Schließlich machte Axavar einen Satz auf ein großes Gebäude mit einem viereckigen Innenhof zu.
Tyen blieb hoch genug über der Stadt, sodass er für die Leute unter ihm nur als Punkt zu erkennen war. Trotzdem erzeugte er eine Kugel aus zum Stillstand gebrachter Luft um sich herum, die ihn sowohl trug als auch abschirmte, als er in der Welt auftauchte. Er beobachtete Axavar, indem er in dessen Geist las.
Der muraianische Zauberer war in der Schule der Zauberer von Murai angekommen. Aus allen Richtungen näherten sich Schritte, als andere Zauberer auf seinen Ruf reagierten. Gesichter ließen sich sehen, Männer und Frauen spähten von Balkonen herab. Weitere kamen mit langen Schritten aus den Bogengängen darunter. Alle starrten Axavar an, als er seine Erklärung stammelte.
Ein Zauberer habe ihn gesehen. Sei ihm gefolgt. Er würde vielleicht jeden Moment hier ankommen.
Axavar nahm dunkle Strahlen wahr, die um die Zauberer herum aufflammten, als sie Magie in sich hineinzogen, in Vorbereitung auf einen möglichen Eindringling.
Aber Tyen hatte nicht die Absicht, ihnen entgegenzutreten. Stattdessen durchsuchte er ihren Geist. Er erfuhr, dass Meister Rayf recht gehabt hatte. Als die Sprecher von Doum Mindestpreise für ihre Waren festgesetzt hatten, hatten die muraianischen Händler beschlossen, sie zu bestrafen, und fünf Angehörige der Schule der Zauberei von Glaemar angeheuert, damit sie nach Alba reisten und den Markt zerstörten.
Sie wussten, dass der Kaiser sie nicht bestrafen würde, solange keine Anführer Doums dabei starben. Muraianer hielten den Tod von Männern, Frauen und Kindern, die in den Marktständen arbeiteten, nicht für wichtig, weil Ladenbesitzer in ihrer Kultur einen niederen Rang bekleideten. Aber in Doum wurde der Handel von den Familien der Töpferwarenhersteller, Ziegelbrenner, Fliesenhersteller und anderer Produzenten kontrolliert – darunter Verwandte der Sprecher. Familienmitglieder, die kein künstlerisches Talent besaßen, aber Geschick im Umgang mit Zahlen und für Verhandlungen, wurden genauso geschätzt wie die Schöpferischen, da sie den Kunsthandwerkern ermöglichten, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren.
Axavars Kollegen sahen die Leiterin der Schule an, eine Frau namens Oerith. Sie bezweifelte, dass ein einzelner doumianischer Zauberer es wagen würde, die Schule zu attackieren. Doch er würde auf Informationen aus sein, und sobald heraus war, warum der Große Markt angegriffen worden war, würden sich die Doumianer vielleicht die Händler vornehmen oder sogar den Kaiser selbst. Der Schule würde man zum Vorwurf machen, dass Axavar sich hatte erwischen lassen. Es sei denn, sie handelten schnell und warnten alle. Die Namen der Händler hatte man der Schule nie offenbart, und ihre Verhandlungen waren stets durch einen Mittelsmann abgewickelt worden, aber der Kaiser kannte sie wahrscheinlich oder würde es zumindest bald, wenn die Nachricht ihn erst erreichte. Sie gab Anweisungen, dass die Schule einen Wachposten aufstellen und sich bereithalten sollte, sich zu verteidigen, dann stieß sie sich aus der Welt ab, und ihr Geist verstummte.
Was soll ich tun?, überlegte Tyen. Für einen Moment erwartete er, zur Antwort Pergamas Stimme zu hören, aber er hatte sie gut versteckt in seinem Haus zurückgelassen.
Rayf wollte die Namen der Händler. Tyen konnte unten nach ihrem Geist suchen, aber die Stadt war groß, das würde seine Zeit dauern. Oerith glaubte, dass der Kaiser sie kannte.
Tyen richtete seine Aufmerksamkeit auf ein großes, weitläufiges Gebäude am Fuß der Felswand. Es stand neben dem Wasserfall, und seine Bewohner hatten wahrscheinlich Zugang zu dem saubersten Wasser. Er suchte Geister im Inneren des Gebäudes. Es dauerte nicht lange, bis er Oerith fand. Da so viele Leute dazu angestellt waren, dem Kaiser zu gefallen, war es nicht schwer, diesen ebenfalls auszumachen. Oerith befand sich bereits bei ihm im Audienzsaal. Als sie damit fertig war, vor dem Zauberer zu warnen, der Axavar gefolgt war, drehte sie sich um und sah die fünf Männer an, die in der Nähe knieten.
Die Händler, vermutete sie. Tyen schaute in deren Geist und fand es bestätigt. Er hatte ihre Namen. Er konnte verschwinden.
Aber dann hörte Tyen mit ihren Ohren, wie der Kaiser in Gelächter ausbrach.
Als Tyen einen suchenden Blick in den Geist des Herrschers warf, lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Der Mann zeigte sich belustigt. Er hatte nicht die Absicht, die Händler zu bestrafen. Stattdessen überlegte er, wie schwierig eine richtige Invasion Doums sein würde.
Hitze verjagte die Kälte, als Tyens Ärger von vorhin an die Oberfläche zurückkehrte, aber er hielt still.
Wenn ich mich einmische, könnte ich die Situation noch verschlimmern.
Doch wenn er nichts tat, würde der Ort, an dem er sich so mühevoll ein Zuhause geschaffen hatte, der Ort, den er mehr zu lieben gelernt hatte als seine eigene Welt, zerstört werden.
Aber er hatte keine Ahnung, wie viele Zauberer der Kaiser zu seinem Schutz um sich scharte oder wie mächtig sie waren. Jedenfalls dürfte es sich nicht um geringe Kräfte handeln.
Tyen sah in den Geist der Männer und Frauen, die dem Kaiser am nächsten standen, um festzustellen, wie viele davon Zauberer waren. Mit der Anzahl, auf die er kam, war er zuvor schon fertig geworden. Aber wie stark waren sie? Viele von ihnen wogen ab, welche Chancen sie gegen Doum haben würden, wenn es zu einem großen Konflikt kommen sollte. Sie hielten sich unter diesen Umständen zwar für überlegen, aber keiner von ihnen hatte Erfahrung mit Kämpfen zwischen den Welten, und die meisten schienen sich ziemlich zu überschätzen.
Es würde also ein Risiko sein, den Kaiser zur Rede zu stellen, aber eins, das Tyen für seine neue Heimat einzugehen bereit war.
Mit einem tiefen Atemzug stieß er sich ab in das Dazwischen und flog dann nach unten.
Er stürzte sich jedoch nicht durch das Dach des Audienzsaals. Das wäre zu bedrohlich gewesen. Er wollte, dass der Kaiser es sich noch einmal genau überlegte, ob er sich Doum zum Feind machte, und ihn nicht wirklich herausfordern. Also landete er ein gutes Stück entfernt von dem Saal und näherte sich dann einem Wachposten.
Der Mann – ein Hauptmann – zuckte zusammen, da er Tyens Ankunft gar nicht bemerkt hatte.
»Ich möchte mit dem Kaiser über das Volk von Doum sprechen.«
Der Hauptmann sah Tyen mit zusammengekniffenen Augen an, denn er bezweifelte, dass irgendjemand von Wichtigkeit einen so schmutzigen Gesandten schicken würde. »Und Ihr seid?«
»Tyen, der Scheibenmacher. Aus Alba.« Tyen schnaubte. »Und ich hätte mir die Zeit genommen, mich dem Anlass entsprechend zu kleiden, wenn es nicht vordringlicher gewesen wäre, einen Krieg zwischen unseren Welten abzuwenden.« Er stieß sich aus der Welt ab und flog an dem Mann vorbei. Dann tauchte er hinter ihm wieder auf und schaute hochmütig über seine Schulter. »Wäre es Euch lieber, ich suche selbst nach dem Kaiser?«
Der Hauptmann richtete sich auf. »Nein. Ich werde Euch zu ihm bringen.« Er bedeutete Tyen mitzukommen, dann machte er sich auf den Weg durch den Palast.
Bei seinem letzten Besuch in Glaemar hatte Tyen den Palast nur von außen gesehen, aber nie einen offiziellen Grund gehabt, ihn zu betreten, und deshalb auch keine Gelegenheit, ihn sich von innen anzusehen. Er hatte ihn sich anders vorgestellt. Statt der gewohnten Überfülle kostbarer Gegenstände und Verzierungen, die sich in einer Zurschaustellung von Wohlstand und Pracht zusammendrängten, war der Palast innen offen gestaltet und bar jeden Schmucks. Keine massiven Wände unterteilten das Gebäude in Zimmer, lediglich Säulenreihen. Bögen öffneten sich in Atrien, die Sonne und Feuchtigkeit zu kunstvoll angeordneten Pflanzen in riesigen Töpfen hereinließen. In manchen der Innenhöfe gab es Pergolen. Die Wirkung war, dass innen und außen ineinander übergingen. Es bedeutete auch, dass der Nebel vom Wasserfall, den ein sanfter Wind überall hintrug, die Luft feucht und kühl hielt.
Doch im Palast fehlte es nicht gänzlich an Kunstwerken. Hier und da stand zwischen den Säulen eine anmutige Skulptur, die Töpfe der Pflanzen stammten aus einer der besten Töpfereien von Doum, und die Böden waren mit Mosaiken bedeckt, die genauso beeindruckend waren wie jene, die den Haupteingang schmückten. Wenn der gesamte Gebäudekomplex, den er von oben gesehen hatte, mit Mosaiken ausgelegt war, mussten sie eine Fläche so groß wie ein Dorf, vielleicht sogar wie eine kleine Stadt bedecken.
Zweifellos schmückten viele der wohlhabenderen Häuser in Glaemar und anderen muraianischen Städten ihre Häuser ebenfalls auf diese Weise. Alles, was als gut genug für die Herrscher eines Landes oder einer Welt galt, war auch für diejenigen mit Ehrgeiz und dem Verlangen, reich und mächtig zu erscheinen, erstrebenswert. Als er genauer hinschaute, stellte er fest, dass die Mosaikteilchen alle glasiert waren. Also Keramik, nicht Stein.
Kein Wunder, wenn die Händler etwas empfindlich darauf reagieren, dass die Sprecher die Preise kontrollieren. Es muss für dieses spezielle Produkt einen blühenden Markt geben, zusätzlich zu dem der Töpferwaren und der Rohre, die sie in Doum kaufen.
Er passierte Diplomaten und Höflinge, Bürokraten und Diener. Letztere waren alle jung und hübsch, bemerkte er, obwohl sie allesamt schlichte Kleidung aus dem gleichen Tuch trugen. Ich schätze, an einem so öffentlichen Ort kann man die Diener nicht verstecken, daher sorgt der Kaiser dafür, dass sie einen angenehmen Anblick bieten.
Mehrere Personen in einer anderen, aufwendigeren Uniform hielten in ihrem Gespräch inne und starrten ihn an. Einige folgten ihm, andere eilten davon. Zauberer, las er in ihrem Geist, hier aufgestellt, um alle Besucher des Kaisers in Augenschein zu nehmen. Es gefiel ihnen nicht, was sie von ihm zu sehen bekamen – nämlich einen Anderweltler in doumianischer Tracht, dessen Geist sie nicht lesen konnten.
Doch niemand stellte sich ihm in den Weg, und er wusste aus den Geistern, die er las, dass er sich tatsächlich dem Audienzsaal näherte. Schließlich kamen sie an Innenmauern. Eine riesige Doppeltür stand zwischen ihm und dem Kaiser. Eine der sechs Wachen davor riss einen Türflügel auf. Der Hauptmann verlangsamte überrascht seine Schritte, dann zuckte er die Achseln und führte Tyen in den Raum. Er trat beiseite und bedeutete Tyen, dass er vor ihm hergehen solle.
Im ersten Moment verblüffte es Tyen, was für eine Dunkelheit in dem Saal herrschte. Er war vollkommen in sich abgeschlossen, im Gegensatz zum übrigen Palast, und die einzige Beleuchtung kam vom Schein der Lampenschalen in den Wandnischen.
Ein Mann mittleren Alters stand in der Mitte des Raums. Er trug ein gerade geschnittenes Gewand aus goldenem Stoff, über das eine Weste aus glasierten Perlen drapiert war. Das bescheidene Aussehen dieser Perlen überraschte Tyen zuerst, bis er sich ins Gedächtnis rief, dass die Welt Murai kaum Tonvorkommen hatte. Was du nicht hast, begehrst du, überlegte er, und das war für Doum ein Vorteil gewesen … bis jetzt.
Zwei der Zauberer, die ihm gefolgt waren, standen links und rechts neben ihm, und von ihnen erfuhr Tyen, dass die Männer und Frauen, die an der hinteren Wand aufgereiht standen, ebenfalls Zauberer waren. Man hatte den Kaiser über ihr Unvermögen informiert, Tyens Gedanken zu lesen. Gegen ihren Rat hatte er beschlossen, den Boten von Doum kennenzulernen.
Eine Bewegung lenkte Tyens Aufmerksamkeit auf fünf Männer, die in der Nähe hockten, den Blick starr auf den Boden gerichtet. Sie waren alle gut gekleidet und unterschiedlichen Alters, einer ein wenig jünger als der Kaiser, bis hin zu einem, der doppelt so alt war. Die Händler. Die Leiterin der Schule für Zauberei stand hinter ihnen.
Als Tyen sich wieder zu dem Kaiser umdrehte, zog dieser die Augenbrauen hoch und reckte das Kinn vor, verstimmt über den Mangel an Respekt des Boten. Getreu seinem Vorsatz, nicht noch mehr Gewalt zu verursachen, nahm Tyen die gleiche Haltung ein wie die Händler.
»Wer ist das?«, fragte der Kaiser auf Muraianisch. Seine Worte hallten im Raum wider.
»Tyen, der Scheibenmacher«, antwortete der Hauptmann irgendwo hinter Tyen.
Die Stimme des Kaisers erfüllte zweifelnd den Raum. »Die Sprecher haben einen Diener geschickt, der für sie die Verhandlungen führen soll?«
»Nein, Kaiser Izetala-Moraza«, antwortete Tyen. Da er aus dem Geist des Mannes wusste, dass der Herrscher die Sprache der Fahrenden sprach, fuhr er dann in dieser Sprache fort. »Sie haben mich ausgeschickt, um zu erfahren, wer kürzlich den Großen Markt in Alba angegriffen hat. Und warum. Ich bin einem der Zauberer gefolgt, einem Mann, den man zurückgelassen hatte, damit er herausfindet, ob ein Sprecher unter den Toten ist …«
»Und war einer dabei?«, fragte der Kaiser, indem er in die Sprache der Fahrenden wechselte.
»Ich weiß es nicht, Kaiser.«
»Nun, du hast die Schuldigen gefunden. Du kannst sie nach dem Zweck ihres Tuns fragen.«
»Diese Information habe ich bereits, Kaiser.«
»Warum bist du dann hier?«
Tyen blickte dem Mann in die Augen und deutete auf die Händler. »Diese Männer haben soeben Doum angegriffen, Kaiser«, sagte er und ließ einen scharfen Unterton in seine Stimme einfließen. »Das könnte man als einen kriegerischen Akt deuten.« Tyen hielt inne, dann erhob er sich auf die Füße. »Jetzt will ich Folgendes wissen: Was werdet Ihr unternehmen, Kaiser Izetala-Moraza? Habt Ihr Einwände gegen ihr Handeln?« Der Herrscher reckte wieder das Kinn vor, sprach aber nicht und hielt inne, um über seine Antwort nachzudenken. Während Tyen die Gedanken des Mannes las, wurde ihm mulmig zumute.
»Allerdings«, sagte der Kaiser. »Sie haben ein großes Risiko auf sich genommen und hätten mich um Erlaubnis fragen sollen.«
Der Herrscher bedachte die Händler mit einem strengen Blick, und die Männer wanden sich und fragten sich, ob sie ihn falsch eingeschätzt hatten. »Aber sie haben das Recht, gegen die Weigerung der Sprecher, mit ihnen zu verhandeln, einzuschreiten.«
»Also werdet Ihr sie nicht bestrafen?«
Der Kaiser schaute jäh wieder zu Tyen hinüber. »Nur wenn dabei Sprecher geschädigt wurden.« Ich muss wohl zumindest so tun als ob, dachte der Mann unwillig. Diese Sprecher sind jämmerliche Herrscher. Sie sind nur Künstlerdiener, die den ungebärdigen, hochmütigen Mob, den sie ihre »Bürger« nennen, vorübergehend lenken. »Ruft ihnen ins Gedächtnis, dass sie sich dies selbst zuzuschreiben haben«, fuhr der Kaiser fort. »Sie haben sich geweigert, sich an Abmachungen zu halten. Haben muraianische Bestellungen an andere Welten verkauft. Das dulde ich nicht.«
Tyen runzelte die Stirn. »Wenn Ihr nicht den angemessenen Preis für ihre Zeit und ihre Fähigkeiten bezahlen wollt, warum sollten sie sich dann nicht Kunden suchen, die dazu bereit sind?«
»Sie haben uns schon immer beliefert«, erwiderte der Kaiser. »Es handelt sich um ein uraltes Abkommen, unterstützt vom Raen.«
»Der Raen ist tot.«
Die Miene des Kaisers versteinerte, und er presste verstimmt die Lippen aufeinander. Ein unangenehmes, zorniges Schweigen folgte. Tyen hatte ein Tabu gebrochen, indem er die Wahrheit ausgesprochen hatte. Ein ziemlich junges Tabu im Maßstab der Geschichte.
Wer ist dieser Emporkömmling?, dachte der Kaiser. Jemand mit Macht. Jemand, der stark genug ist, um mich oder meine Zauberer nicht zu fürchten. Doch sein Akzent ist mir unbekannt, und obwohl er den Leuten aus Alba ähnlich sieht, hat er etwas Fremdartiges an sich. Könnte er ein Anderweltler sein? Ja, ich denke, das ist er wohl.
»Warum schert Euch das?«, fragte er. »Ihr stammt nicht aus ihrer Welt.«
Tyen verschränkte die Arme vor der Brust. »Doum ist mein Zuhause, und seine Bewohner sind meine Familie. Ich werde tun, was ich tun muss, um es zu verteidigen.«
»Dann verteidigt es. Überzeugt die Sprecher davon, diese Torheit um die Preise fallen zu lassen.«
»Ich wäre niemals so hochmütig, ihnen zu sagen, wie sie ihr Leben leben und ihre Geschäfte führen sollen«, entgegnete Tyen. »Aber ich begreife, dass es nicht leicht sein wird, Euch ebenfalls davon zu überzeugen. Es sei denn vielleicht, indem ich alle Magie aus dieser Welt abziehe, sodass Ihr für einige Hundert Zyklen isoliert seid. Ich stelle mir vor, dass das schlecht für den Handel wäre.«
Der Kaiser starrte Tyen an. Oerith machte einen kleinen Schritt auf ihren Herrscher zu. Der Kaiser bedeutete ihr zu bleiben, wo sie war.
»Nur der Raen war so mächtig«, wandte er ein.
»Nicht nur er.«
»Er hätte Euch getötet, wenn er Euch gefunden hätte.«
Tyen zuckte die Achseln. »Wie Ihr seht, hat er das nicht. Und ich bin mir sicher, Ihr wisst, dass dies eine kleine Welt ist. Ich kenne mindestens zwei Personen mit genug Reichweite, um ihr alle Magie zu entziehen, und es würde mich nicht überraschen, wenn es noch mehr gäbe. Selbst wenn es meine Fähigkeiten überschreiten sollte, die gesamte Magie auf einmal wegzunehmen, könnte ich trotzdem dafür sorgen, dass Glaemar in ein Vakuum gerät, das groß genug ist, um viele Zyklen anzudauern, bis es wieder verschwindet. Und da ihr vielleicht Zweifel daran habt, dass ich die Wahrheit sage …« Tyen sandte seinen Geist und seine Sinne aus, bis er schätzte, dass er die ganze Stadt umfasst hatte, und zog dann die Hälfte der Magie in Strahlenbändern heraus. Was übrig blieb, würde sich schnell verteilen, um die Leere wieder zu füllen und dafür zu sorgen, dass kein Zauberer, der mit etwas Wichtigem, wie etwa dem Heben eines schweren Gegenstands, beschäftigt war, aller Macht beraubt sein würde.
Ein Aufkeuchen ging durch den Raum, als die Zauberer darin spürten, was er getan hatte. Dann, bevor irgendjemand in Panik geraten und Tyen angreifen konnte, ließ er die Magie wieder fließen. Sie strömte hinaus und machte den Palast vorübergehend ungeheuer reich an Magie. Schreck verwandelte sich in Erstaunen. Furcht in Erleichterung.
»Ich werde Euch jetzt allein lassen, damit Ihr Eure Position überdenken und Euch fragen könnt, ob diese Männer« – Tyen blickte zu den Händlern hinüber – »eine Strafe dafür verdienen, dass sie die Familien von Doums Handwerkern und Sprechern getötet haben.« Zu seiner Befriedigung sah Tyen, dass der Kaiser, trotz seines Zorns über die Drohung, widerstrebend genau das tat. »Danke, dass Ihr mich angehört habt, Kaiser. Ich wünsche Euch Gesundheit und Glück.«
Ohne auf eine Antwort oder seine Entlassung zu warten, nahm Tyen etwas von dem Überschuss an Magie im Palast in sich auf und stieß sich aus der Welt ab.
Kaum dass er tief ins Dazwischen gelangte, verflüchtigte sich seine Zufriedenheit wieder und machte Sorge Platz. Wie würden die Sprecher darauf reagieren, dass er sich aus eigenem Antrieb und ohne sich zuvor mit ihnen zu beraten, dem muraianischen Kaiser um ihretwillen genähert und ihn bedroht hatte?
Werden sie wütend oder dankbar sein? Habe ich die Situation nun besser gemacht oder schlechter?
Er wünschte, er hätte mit Pergama darüber sprechen können. Bei den Gedanken an sie, versteckt in seinem Haus, wurde ihm klar, dass er sich mit seiner Drohung gegen den Kaiser von Murai möglicherweise selbst zur Zielscheibe gemacht hatte. Obwohl er einigermaßen zuversichtlich war, dass er sich verteidigen konnte, würde der Kaiser vielleicht Rache suchen, indem er Tyens Haus verwüstete.
Nach dem heutigen Tag würde er sie wieder ständig bei sich tragen.
Er fand seinen und Axavars Pfad von Doum nach Murai und folgte ihm in umgekehrter Richtung. Der Verkaufsstand innerhalb dessen, was vom Großen Markt übrig war, tauchte um ihn herum auf.
Und dann spürte er einen Schatten. Irgendjemand folgte ihm.
Erschrocken flog er über die Welt hinweg, sodass er und sein Verfolger sich wieder von den Ruinen entfernten. Zu seiner Erleichterung blieb dieser ihm auf den Fersen. Er lockte ihn aus der Stadt und suchte nach einem unbewohnten Ort, an dem er ihn zur Rede stellen konnte, ohne zu riskieren, dass andere dabei zu Schaden kamen. In einem ausgetrockneten See tauchte er in der Welt auf und rang nach Luft, während sein nach Sauerstoff gierender Körper den Preis dafür zahlte, so lange durch Bereiche zu reisen, wo er nicht atmen konnte.
Eine kaum auszumachende menschliche Silhouette nahm einige Schritte entfernt von ihm Gestalt an. Eine weibliche Figur, angetan mit einem langen fließenden Kleid. Oerith? Kam hier eine der Zauberinnen des Kaisers, um ihn zum Kampf herauszufordern? Oder hatte er sie ausgeschickt, um ihm eine Nachricht zu übermitteln? Vielleicht eine Gegendrohung?
Doch ihr Gesicht wirkte nicht sehr muraianisch. Sie hatte dunklere Haut und glattes schwarzes Haar. Und dann durchfuhr es ihn wie ein Blitz, als er sie erkannte.
Sie atmete ein, um zu sprechen, als sie ankam, aber sie rang nicht nach Luft, ein sicheres Zeichen für eine alterslose Zauberin.
»Tyen, nicht wahr?«, sagte die Frau, die sich geweigert hatte, den Raen wiederauferstehen zu lassen. »Erinnert Ihr Euch an mich? Aber vielleicht habe ich Euch ja auch nie meinen Namen genannt. Ich bin Rielle.«