Titel

Ellinor Skagegård

Fanny Mendelssohns unerhörtes Gespür für Musik

Aus dem Schwedischen von Regine Elsässer

Insel Verlag

Widmung

Für Belle

Vorwort

Über die Familie Mendelssohn ist schon sehr viel geforscht und geschrieben worden, vor allem über den bekanntesten Sohn der Familie, Felix. Aber auch seine ältere Schwester hat seit den 1980er Jahren viele Musikwissenschaftlerinnen fasziniert.

Mein Buch ist keine wissenschaftliche Arbeit, ich möchte lebendig und auf leicht zugängliche Art die Geschichte einer genialen Musikerin erzählen, der man aufgrund von Klassenzugehörigkeit, Geschlecht und ethnischer Herkunft einen Platz in der Öffentlichkeit verweigert hat. Es ist die Geschichte über den Menschen Fanny und die sehr besondere Verbindung zu ihrem Bruder Felix. Zudem hoffe ich, einen Zugang zu der Musik schaffen zu können, die in der Welt der Geschwister einen so großen Raum eingenommen hat.

Die beiden großen Biografien über Fanny waren sehr wichtiges Ausgangsmaterial für mich, und hier besonders Fanny Hensel – The Other Mendelssohn von R. Larry Todd und Die verkannte Schwester – Die späte Entdeckung der Komponistin Fanny Mendelssohn Bartholdy von Françoise Tillard. Aber vor allem haben mir die 279 Briefe, die Fanny an ihren Bruder geschrieben hat, als primäre Quellen für dieses Buch gedient.

Fannys Sohn, Sebastian Hensel, hat der Mendelssohn-Forschung mit seinem zweibändigen Werk Die Familie Mendelssohn 1729 bis 1847 die wichtigste Grundlage geliefert. Er hat die Briefe zusammengestellt, kommentiert und so die Familiengeschichte erzählt. Natürlich war er ein Sohn seiner Zeit und als solcher war es sein Bestreben, das Leben einer kulturell bedeutsamen, hervorragend integrierten Familie zu erzählen, man muss deshalb so manche seiner Deutungen kritisch betrachten.

Ich habe mir bei meiner Arbeit gewisse literarische Freiheiten genommen. Ich weiß natürlich nicht, was ein Mensch, der vor zweihundert Jahren lebte, wirklich gedacht und gefühlt hat oder wie die Wellen sich an einem bestimmten Tag bewegt haben. In solchen Fällen habe ich mich, soweit das möglich war, an Hinweise gehalten, die ich in Briefen, Tagebüchern, Porträts und anderen Fakten über die Familie Mendelssohn gefunden habe.

Nachdem ich mich lange mit der Primär- und Sekundärliteratur und natürlich auch der Musik beschäftigt habe, ist Fannys Person und Stimme hervorgetreten. Dieses Buch ist meine Interpretation ihres Lebens und Werks, so wie es vielleicht ausgesehen hat.

Prolog

Berlin, September 1847

Der Notenständer ist leer. Der Klavierdeckel ist geschlossen, eine Staubschicht bedeckt die braune glänzende Fläche. Die Septembersonne zeichnet friedliche Streifen auf den Holzboden, aber der Tisch mit dem Kruzifix liegt im Schatten. Von den grün gestrichenen Wänden schauen Mitglieder der Familie Mendelssohn herab, mit großen, ausdrucksvollen Augen, die vielleicht mehr den Maler als sie selbst charakterisieren.

Über vier Monate sind seit dem schrecklichen Tag vergangen. Jemand, vielleicht Rebecka oder Wilhelm, hat aufgeräumt, aber niemand hat seither einen Fuß in Fannys Zimmer gesetzt. Als Felix über die Schwelle tritt, durchzuckt es ihn. Auf einmal wird ihm schwarz vor Augen und er muss sich an dem hellen Holztisch niederlassen. Als er nach einer Weile die Augen wieder öffnet, fällt sein Blick auf eine aufgeschlagene Ausgabe der Allgemeinen musikalischen Zeitung.

Er beugt sich über den Tisch, blickt auf die Zeitungsseite und findet, was er sucht: »Mendelssohns Ausdrucksweise ist höchst präzis, er sagt lieber zu wenig als zu viel, er baut stets auf einen Gedanken und rundet das Ganze auf leicht verständliche Weise. Die Lieder der Frau F. Hensel sind komplizierter; der Phantasie ist hier freiere Bewegung gestattet, die Form breiter angelegt, nicht selten durch einen antithetischen Mittelsatz größere Mannigfaltigkeit erzielt.«

Die Zeilen legen sich schwer auf seine Brust. Warum ist er nicht öfter zu Besuch gekommen, hat ihre Nähe gesucht? Das hätte ihm gutgetan, aber noch mehr ihr, das weiß Felix. Und vor allem, warum hat er sie nicht öfter ermuntert und sie bei ihrer Musik unterstützt? Wie oft hat sie ihm aus der Patsche geholfen, hat alles beiseitegelegt, um ihm beizustehen, und sei es auch nur, um ihm eine Partitur zu schicken, die er brauchte? Im Nachhinein ist es ihm unbegreiflich, aber nun ist es zu spät.

Bei ihrer letzten Begegnung, im Februar, war sie so glücklich. Das konnte er sich kaum als sein Verdienst anrechnen. Mit Dankbarkeit und einem Gefühl der Schuld dachte er an ihren Mann. Ihr waren die beiden Männer gleich lieb, aber Wilhelm ließ Fanny nie im Stich, im Unterschied zu ihm selbst.

Auf dem Tisch liegt außerdem ein ordentlicher Stapel Papier, Felix hebt ihn hoch und legt ihn vor sich. Er will wenigstens jetzt tun, was er kann, um ihr ein wenig Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Entschieden, aber ohne Begeisterung geht er die Partituren durch, Seite für Seite, Takt für Takt. Bei einem neu geschriebenen romantischen Klaviertrio in d-Moll in vier Sätzen hält er sich besonders lange auf. Er hat selbst ein Trio in der gleichen Tonart komponiert, und als er Fannys Trio studiert, meint er, ihre Stimme zu hören. Als würde sie durch die Musik auf seine Komposition antworten, genau wie sie es noch vor kurzem getan hat.

Der erste Satz, Allegro molto vivace, ist fantastisch, mit seinem gewagten Thema und einer Klavierstimme, die so hervorragend mit den Streichern verschmilzt. Der zweite Satz, Andante espressivo, ist zurückhaltender, sie kehrt zur kontrapunktischen Technik zurück, die sie beide geformt hat. Als er zum dritten Satz kommt, brennen seine Augen. Es ist kein Scherzo wie in seinem Trio, sondern ein schlichtes und einfaches Lied ohne Worte.

Als er fertig ist, steht er auf und nimmt einige ausgesuchte Partituren mit. Er bleibt noch einen Moment in der Tür stehen, dann schließt er sie hinter sich. Die Erholung, die sein Aufenthalt in der Schweiz ihm gebracht hat, ist dahin. Felix fühlt sich durch und durch grau, als hätte man ihm seine Jugend genommen. Die Zeilen, die er Wilhelm kurz nach Fannys Tod geschrieben hat, kommen ihm mehr als wahr vor: »Das ganze Irdische sieht uns anders aus, und wir wollen versuchen zu lernen und einzuschränken, aber bis wir's gelernt haben, ist wohl auch unser Leben vergangen.«

Zum allerletzten Mal verlässt er das Haus Leipziger Straße 3. Keine zwei Monate später wird auch Felix im Grab liegen, neben seiner Schwester – Fannys Musik muss noch weitere 150 Jahre warten, bis sie die Welt erreicht.

I. Finger, die Bach-Fugen spielen

»Seit meinem vierten Jahr begann die Musik die erste meiner jugendlichen Beschäftigungen zu werden. So frühe mit der holden Muse bekannt, die meine Seele zu reinen Harmonien stimmte, gewann ich sie, und wie mir es wohl deuchte, sie mich wieder lieb.«

Ludwig van Beethoven

Fanny weiß, dass er in der Tür steht und sie durch halb geschlossene Augen betrachtet. Die braunen Locken tanzen um sein Gesicht. Ungeduldig tritt er von einem Fuß auf den anderen, wartet, bis sie endlich aufhört zu üben.

Aber noch ist es nicht so weit. Zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Nachmittag spielt sie das erste Präludium aus Johann Sebastian Bachs Das Wohltemperierte Klavier. Weiche Arpeggios über einen C-Dur-Akkord. Technisch ist es ein leichtes Stück, aber umso schwieriger, das richtige Gefühl zu erzeugen, und Mittel- und Ringfinger machen nicht ganz, was sie will.

Ihr Vater hat Geburtstag, und sie will ihn am Abend überraschen und alle vierundzwanzig Stücke auswendig spielen. Sie hat Monate geübt. Abraham ist kein Mann des überschwänglichen Lobs, aber wenn sich der barsche Mund zu einem kleinen stolzen Lächeln verzieht, ist das aller Mühen wert.

Wohlmeinende Verwandte sind der Ansicht, das Vorhaben sei eine zu große Herausforderung für ein so junges Mädchen. Aber Fanny ist nicht wie andere Dreizehnjährige. Wenn ihre gleichaltrigen Freundinnen von Kleidern und Jungen plappern, fühlt sie sich ausgeschlossen. Abgesehen von der Gesellschaft ihrer Geschwister, fühlt sie sich am wohlsten, wenn sie mit Erwachsenen zusammen ist, wo ihre Ernsthaftigkeit und ihre etwas barsche Art akzeptiert werden. Trotz ihrer großen, seelenvollen Augen, die viele Betrachter faszinieren, ist sie die am wenigsten anziehende der vier Geschwister. Aber, gesteht ihr eine ihrer Cousinen diplomatisch zu, sie wird sich schon noch entwickeln und mit der Zeit attraktiv werden, denn sie ist sehr intelligent.

Im Zimmer nebenan sitzt Lea und liest. Fanny weiß, die Mutter schaut ins aufgeschlagene Buch auf dem Schoß, ihre Konzentration ist jedoch mindestens zur Hälfte auf das Klavierspiel von jenseits der Wand gerichtet. Ist es zu lange still, kommt bald ein strenges: »Fanny, was machst du?« Lea selbst hat Bachs Präludien unendlich oft gespielt und kennt jeden Ton. Aber bald ist der lange Arbeitstag vorbei und Fanny darf eine Weile mit Felix zusammen sein, bevor es Zeit für den großen Auftritt ist. Sie weiß, er wartet ungeduldig darauf, dass sie sich umdreht und ihm all ihre Aufmerksamkeit widmet. Er ist es gewohnt, sie von ihr und von allen anderen zu bekommen.

Ihr kleines Lamm, ihr Hamlet.

Am Abend zuvor haben sie sich mit einem neuen Spiel vergnügt. Sie hat den ersten Teil eines Klavierstücks komponiert, ihn dann Felix gegeben, der hat weitergeschrieben und ihr zurückgegeben, und immer so weiter. Daraus wurde eine Montage, in der jedes Teil neu und einzigartig ist und doch in das große Muster passt. Felix' Strophen sind melodiös und leicht, Fannys etwas freier und leidenschaftlicher. Aber es gibt Gemeinsamkeiten, als würden sie zwar die gleiche Sprache sprechen, jedoch mit unterschiedlichen Wörtern und Betonungen.

Später werden sie dieses Musikspiel zu einem ganz neuen musikalischen Stil entwickeln, den Liedern ohne Worte, einer Serie von kurzen, lyrischen Klavierstücken, eng verwandt mit Schumanns Noveletten. Diese Lieder ohne Worte werden Felix Mendelssohn sehr berühmt machen, er wird zu einem der einflussreichsten Komponisten in Europa.

Aber all das liegt noch in einer fernen Zukunft. Fanny bewegt die Finger mit einem kurzen Ritardando über den abschließenden Triller. Sie entspannt die Schultern und atmet aus, ihre Wangen sind rosig nach der Anstrengung. Noch bevor sie sich umdrehen kann, kommt Felix und setzt sich neben sie ans Klavier. Schwester und Bruder spielen zusammen.

*

An dem Tag, als Fanny Mendelssohn geboren wird, am 14. November 1805, erreichen die französischen Truppen Wien. Der Friede von Amiens, der das Ende der langen Revolutionskriege besiegeln sollte, war nicht mehr als eine Atempause. Napoleon hatte sich zum Kaiser von Frankreich ausgerufen und kontrolliert nun die Niederlande, die Schweiz und Teile von Italien. Bald wird er sich auch den deutschen Fürstentümern zuwenden.

Abraham Mendelssohn hatte schon einige Jahre zuvor gespürt, wie die Stimmung in Berlin härter wurde. Er verlässt das in seinen Augen staubige und unterdrückte Provinzkaff und begibt sich geradewegs in das Maul des Feindes – in das offene und liberale Paris. Er schwört, nie wieder nach Hause zurückzukehren, und nimmt eine Arbeit als Assistent bei der Foulds Bank in der Rue Bergère an.

Der junge Jude mit den lockigen Haaren, einem entschlossenen Zug um den Mund und einem auffordernden Blick hinter den runden Brillengläsern musste, als sein Vater Moses Mendelssohn starb, mit zehn Jahren von der Schule abgehen. Aber als Sohn eines der größten Philosophen der Aufklärung, bekannt als »der deutsche Sokrates«, stand er auf einem festen Grund. Sein Vater hatte ihn ein neugieriges Interesse für seine Umwelt gelehrt.

»Je préfererais manger du pain sec à Paris!«, ich bevorzuge trocken Brot in Paris, sagt Abraham selbstsicher, als seine Schwester Henriette sich Sorgen um seine Zukunft macht. Sie fürchtet, er könnte in Paris, weit weg von Familie und Kontakten, nur für andere arbeiten müssen und nie etwas eigenes aufbauen. »Du pain sec ist freilich nicht zu verachten […]aber es könnte auf die Länge […] du pain amer – bitteres Brot werden«, antwortet sie dem kleinen Bruder.

Juden war es lange Zeit verboten, sich in Berlin niederzulassen. Aber als der österreichische Kaiser Leopold I. um 1670 alle Juden aus Wien und dem südlichen Österreich auswies, wandten sich viele an den preußischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg und baten um Gnade. Dieser akzeptierte – nicht aus Wohlwollen, sondern aus ökonomischen Gründen – die fünfzig reichsten Juden aus Wien. Für 2000 Taler pro Kopf, eine Summe, die heute 80 ‌000 Euro entspricht, wurden sie zu sogenannten »Schutzjuden«.

Sie mussten bestimmte Industrien verwalten und sich einer ganzen Reihe von Restriktionen unterwerfen. Außerdem mussten sie hohe Gebühren bei Lebensereignissen wie Heirat oder Geburt zahlen. Der Hof war in vielerlei Hinsicht von der ökonomischen Unterstützung durch die Schutzjuden abhängig, die reichsten Juden standen ihrem Fürsten oft sehr nahe.

Unter der Regierungszeit von Friedrich dem Großen, 1740 bis 1786, bekamen einige sehr reiche Juden zusätzliche Privilegien und fast die gleichen Rechte wie andere Deutsche. Für die Mehrheit der Juden jedoch verschärften sich die Restriktionen und das Leben verschlechterte sich, mit dem Ergebnis, dass die Kluft innerhalb der jüdischen Gruppen größer wurde. Trotz des harten Lebens wuchs die jüdische Bevölkerung, nicht zuletzt aufgrund der Eroberungen des Königs. Zehntausende Juden kamen allein durch die drei sogenannten schlesischen Kriege (1740 bis 1763) unter preußische Herrschaft.

Die Überredungsversuche der Schwester konnten Abraham also nicht nach Berlin locken. Aber während eines kurzen Besuchs in seiner Heimatstadt verliebt er sich in Daniel Itzigs Enkelin, Lea Salomon. Daniel Itzig war 1761 einer der wenigen Juden in Berlin, die »generelle Privilegien« zugesprochen bekamen, also die gleichen Rechte wie andere Bürger besaß. Etwas später wurde er sogar Staatsbürger, der Grund war natürlich, dass er einer der reichsten Männer Preußens war. Als Abraham Lea kennenlernt, verkörpert die Familie Itzig weit mehr als ökonomisches Kapital. Man legt großen Wert auf Kultur und Bildung, und das galt nicht nur für die Männer, sondern auch für die Frauen.

Schon früh nimmt Leas Mutter Bella Klavierstunden bei dem Bach-Schüler Johann Philipp Kirnberger. Einige ihrer Schwestern führen gut besuchte intellektuelle Salons, ein aus Paris übernommenes Phänomen, das in Berlin gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufkam, Gastgeberinnen waren meist gebildete Jüdinnen.

Auch Lea hat eine gründliche Ausbildung genossen. Sie spricht und schreibt französisch, englisch und italienisch und kann Homer im Original lesen. Als junge Frau ist sie am liebsten in der Sommerresidenz ihres Großvaters, wo sie über ein kleines Zimmer mit Klavier, Bücherregalen und Schreibtisch verfügt. »Hier entwickelte sich mein Gefühl, hier entfaltete sich zuerst der jugendlich Sinn […] mit erhöhter Empfindung las ich hier meine Dichter […]selbst die schwachen Töne, die meine ungeübten Finger hervorlocken, wähne ich hier melodischer und reiner«, schreibt sie in einem Brief.

Und so wird sie später von einem Freund der Familie beschrieben: »Lea war nicht schön, aber reizend durch ihr sprechendes schwarzes Auge, durch ihren Sylphidenwuchs, durch ihr zartes, bescheidenes Benehmen und ihre geistvolle Unterhaltung voll heller Verstandesblitze und treffendem, aber immer schonend geäußertem Witz.«

Im Unterschied zu Abraham, der nur ein begeisterter Musikhörer ist, spielt sie Klavier, und genau wie ihre Mutter am liebsten Bach. Die Musik wird das stärkste Band zwischen ihr und ihrer Tochter Fanny sein.

In einer der ergiebigsten Quellen über die Familie Mendelssohn, vor allem über Fanny, in den Memoiren ihres Sohns Sebastian Hensel, bekommt Lea eine eher untergeordnete Rolle zugeschrieben, was die Erziehung der Kinder angeht, Abraham hat größeres Gewicht. Diese Memoiren, meint die Musikhistorikerin Marion Wilson Kimber, sind parteiisch zu nennen, denn die Familie lebte nach den herrschenden Normen und Geschlechteridealen. Wenn man Leas Ausbildung bedenkt, ihr Heranwachsen umgeben von intellektuellen Frauen, ihre eigene Musikalität und die Tatsache, dass sie am Leben ihrer Kinder immer sehr aktiv teilgenommen hat, dann hätte sie erheblich mehr Platz verdient. Es ist Lea zu verdanken, dass Fanny ihre Musikalität in weit höherem Maße ausleben konnte, als es für Frauen des Bürgertums üblich war.

*

Als Jungvermählte wäre Abraham es am liebsten gewesen, wenn seine Frau mit ihm nach Paris gezogen wäre, aber davon wollte deren Familie nichts wissen, das Paar bleibt in Berlin. Ihre Ehe mit einem einfachen Assistenten wurde gar nicht gern gesehen – auch wenn der ein Sohn des berühmten Moses Mendelssohn war.

Aber die Sorge ist unbegründet. Zusammen mit seinem Bruder Joseph betreibt Abraham jetzt in Berlin eine Bank. Die Geschäfte laufen sehr gut, und die Brüder eröffnen bald eine Filiale in der freien Stadt Hamburg, wohin Abraham und Lea 1804 umziehen.

Sie kommen in ein belebtes und lautes Hafendelta, hunderte von Schiffen bewegen sich über die Elbe nach Europa und Amerika. Mit seinen 130 ‌000 Einwohnern ist Hamburg Europas zweitgrößte Hafenstadt – ein idealer Ort für einen Geschäftsmann am Beginn seiner Karriere – und noch herrscht hier Frieden. Zehn Jahre zuvor hatten die Regierenden in Hamburg außerdem beschlossen, ein neues »Judenreglement« einzuführen, und als Folge davon konnte man in dieser Stadt als Jude erheblich besser leben als in Preußen. Man musste zum Beispiel keine anderen Steuern bezahlen als die übrigen Einwohner. Aber Synagogen waren verboten, Juden durften ihre Religion nur privat ausüben, eine Bestimmung, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts bestehen bleibt.

Viele Juden, die in Hamburg arbeiten, entscheiden sich deshalb dafür, drei Kilometer außerhalb der Stadt zu wohnen, im von Dänen kontrollierten Altona, wo es eine Synagoge gibt. Abrahams Mutter, Fromet, lebt dort, aber dennoch lässt die Familie Mendelssohn sich in Hamburg nieder.

Eine eigenartige Entscheidung für eine religiöse Familie, jedoch vernünftig für eine säkulare, meint der Musikprofessor und Autor Jeffrey S. Sposato, der auch betont, dies sage etwas über Abrahams Einstellung zu seinem jüdischen Erbe aus. Man wisse wenig über die frühen Jahre von Fanny und Felix, sie wurden laut Sposato nicht in den jüdischen Registern geführt, ein Zeichen dafür, dass die Familie nicht am jüdischen Leben teilnahm.

Abraham und Lea ziehen in ein großes dreistöckiges Haus, das sie sich mit seinem Bruder Josef Mendelssohn und dessen Familie teilen. Und in diesem Haus in der Großen Michaelisstraße 14 kommt das erste Kind der Familie zur Welt. Nach einer langen und schweren Entbindung kann eine erschöpfte Lea Mendelssohn zufrieden konstatieren, ihre neugeborene Tochter »habe Bach'sche Fugenfinger!«. Das Mädchen bekommt den Namen Fanny.

Im gleichen Haus wird auch Fannys jüngerer Bruder Felix geboren. Später wird die schwedische Sopranistin Jenny Lind über der Tür eine Marmortafel anbringen lassen, zur Erinnerung an Felix Mendelssohn, mit dem sie zusammenarbeitete und, wie behauptet wird, auch eine Liebesaffäre hatte. Die Marmortafel hing dort bis zu ihrer Demontage durch die Nationalsozialisten 1936, »die damit versuchten, den Namen Mendelssohn aus der deutschen Kultur zu tilgen«, wie R. Larry Todd schreibt.

Zwei Jahre nachdem die Familie nach Hamburg gekommen ist, wird die Stadt, ebenso wie Preußen, von den Truppen Napoleons besetzt. Eine Blockade gegen jeglichen internationalen Handel wird eingeführt, was katastrophale Folgen für das Handelszentrum hat. Von vielen Juden werden die Franzosen jedoch willkommen geheißen; mit ihnen kommt die Emanzipation, die Freiheit.