Peter Gerdes
Ostfriesische Verhältnisse
Kriminalroman
Peter Gerdes, geb. 1955, lebt in Leer (Ostfriesland). Studierte Germanistik und Anglistik, arbeitete als Journalist und Lehrer. Schreibt seit 1995 Krimis und betätigt sich als Herausgeber. Seit 1999 Leiter des Festivals „Ostfriesische Krimitage“. Die Krimis „Der Etappenmörder“, „Fürchte die Dunkelheit“ und „Der siebte Schlüssel“ wurden für den Literaturpreis „Das neue Buch“ nominiert. Gerdes betreibt mit seiner Frau Heike das „Tatort Taraxacum“ (Krimi-Buchhandlung, Veranstaltungen, Café und Weinstube) in Leer.
Handlung und Personal dieses Kriminalromans sind frei erfunden. Allerdings stand die Realität dabei der Fantasie des Autors hilfreich zur Seite.
Wer sich jedoch womöglich in diesem Text wiederzuerkennen glaubt, der ist nicht gemeint. Höchstens der Autor selbst.
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2020
(Originalausgabe erschienen 2015 im Leda-Verlag)
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer
unter Verwendung eines Fotos von: © Günther_Ramm/stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6464-5
Hass ist wie Sex. Du spürst die Hitze, du fühlst das Prickeln, diese irren Wellen von den Fingern bis in die Fußspitzen. Da ist das Schnappen nach Luft. Da ist diese Anspannung, die Lust aus jeder Zelle presst. Wenn der Verstand beiseitetritt, kann der Körper plötzlich Dinge tun, von denen du sonst nur träumst. Dann kennst du keine Grenzen mehr, dann hörst du nicht auf, bis du die Sache auf die Spitze getrieben hast und darüber hinaus. Bis sich die Spannung in einer Explosion löst. Bis die Flut alles überrollt.
Gegen erfüllten Hass ist ein Orgasmus doch ein Witz!
Genug Zeit ist vergangen. Jeder andere Gedanke hat in eine Sackgasse geführt. Nein, anders ist die Sache nicht zu regeln.
Ein Telefon klingelt. Ein Hund bellt. Ein Motorrad fährt vorbei. Ein Pärchen unterhält sich, eine Frau lacht. Eine Schiffssirene aus dem Hafen, dumpf und fern. Leise quietschende Autobremsen. Alles weckt Erinnerungen, alles heizt und nährt den Hass.
Innehalten, die Muskeln anspannen bis zum Krampf. Süßer Schmerz strömt zur Mitte. Am liebsten jetzt, am liebsten sofort!
Nur einen Moment gezögert, schon mischt der Verstand sich ein. Sicher, es gibt sie, die guten Gründe, es nicht zu tun. Argumente. Aber sie haben Pech, diese Argumente. Ihre Zeit ist vorbei.
Hände greifen nach Pistole und Telefon. Eine Tür schwingt auf.
»Hier kannste ja durchschießen!« Der Blasse mit den schütteren roten Haaren zeigte anklagend auf das fast menschenleere nächtliche Panorama der Einkaufsstraße. Hier und dort glänzten nasse Wachbetonplatten im grellen Licht vereinzelter Schaufenster, dazwischen lagen halbe Ladenzeilen im Dunklen. Das Ganze erweckte den Eindruck eines lückenhaften Gebisses.
»Könnte auch am Wetter liegen.« Der Begleiter des hageren Rothaarigen, größer und erheblich korpulenter als der, strich sich ein paar lange graue Haare, die sich aus seinem Pferdeschwanz gelöst hatten, aus dem Gesicht. »Dass es heute so schietig ist, da kann ja keiner was dafür. Da bleiben die Leute einfach weg, das ist reines Pech.« Er zuckte mit den breiten Schultern.
»Unsinn! Siebenmal Mitternachts-Shopping pro Jahr, das ist einfach zu viel«, schimpfte der Rothaarige. »Einmal, zweimal, okay. Aber wenn man das ständig macht, dann ist das doch nichts Besonderes mehr. Nicht mal am dritten Oktober.«
»Dabei ist das doch günstig, dass der Tag der deutschen Einheit diesmal auf einen Mittwoch fällt. So ein verkaufsoffener Feiertag mitten in der Woche sollte eigentlich die Leute locken.«
»Siehst du ja, wie toll das lockt! Und von wegen Feiertag – jedenfalls nicht für die Verkäuferinnen! Dabei ist übernächste Woche schon wieder Gallimarkt, dann ist sogar sonntags geöffnet. Dieser Eickhoff ist doch ein echter Leuteschinder.«
»Ich frage mich, warum der das unbedingt so oft durchziehen will.« Der Dicke nickte in Richtung einiger bereits geschlossener Läden. »Guck mal, gerade erst zehn Uhr, und viele haben schon dicht! Das wird doch auch schlicht zu teuer, so lange offen zu halten, mit Personal und Licht und Heizung und so, wenn deswegen kaum mehr Kunden kommen. So ist das eben, wenn man einen Gaul unbedingt totreiten muss. Dann springen die Leute ab.« Er breitete die Arme aus. »Vielleicht erledigt sich das ja so von selbst.«
»Aber um welchen Preis!« Der Rothaarige war schon wieder auf Hundertachtzig. »Was für einen Eindruck macht das denn hier! Die paar Leute, die sich trotz allem noch anlocken lassen, stehen ja überall im Dunklen und vor verschlossenen Türen, außer bei den Läden, die Eickhoff gehören oder deren Besitzer er in der Hand hat. Das macht natürlich einen verheerenden Eindruck! Und diesen Eindruck, den nehmen die mit, das erzählen sie herum. Das schadet auf Dauer unserem Image, das sage ich dir! Von wegen, Leer, die Einkaufsstadt Nummer eins in Ostfriesland! Auf diese Weise schicken wir unsere Kunden doch praktisch selber in die Einkaufszentren auf der grünen Wiese.«
Der Dicke nickte versonnen. »Stimmt. Außerdem verschiebt sich ja alles durch diese penetranten Nachtöffnungen. An den Tagen, an denen Mitternachts-Shopping angesagt ist, kann man das Vormittagsgeschäft glatt vergessen, weil die Leute einfach später kommen. Aus Kostengründen wäre es besser, erst mittags zu öffnen – aber das geht natürlich nicht, wegen der Stammkunden, die es eilig haben, die wären ja sauer. Und abends trotzdem länger offen halten geht auch nicht, weil von den Mitternachts-Shoppern gar nicht so viele überhaupt bis in die Altstadt kommen; da kostet uns das Personal ja mehr, als es einbringt! Unterm Strich machen wir kleinen Händler auf jeden Fall Verlust bei diesen Aktionen.«
»Genau. Der Einzige, der profitiert, ist Eickhoff selber.« Der Rothaarige seufzte. All diese Argumente waren ihm wohlbekannt, benutzte er sie doch selbst bei jeder Gelegenheit.
Gerade gingen die beiden an Eickhoffs leuchtendem Einkaufspalast vorbei, der alles in seiner Nachbarschaft überstrahlte, auch die kleineren Läden, die alle schon dicht hatten. Hier war tatsächlich einiges los; Gruppen mit prallen Tüten verließen das Gebäude, andere strebten den einladend geöffneten Glastüren zu. Es ging lebhaft und laut zu. Einige der späten Kunden machten einen angeheiterten Eindruck.
»Solche Besuffskis möchte ich bei mir im Laden gar nicht haben«, schimpfte der Dicke halblaut.
»Die wüssten ja auch gar nicht, was sie bei uns eigentlich sollten«, pflichtete der Rothaarige ihm bei. Sein bedauernder Unterton aber ließ vermuten, dass es ihm letztlich doch um jeden Kunden leid tat, der jetzt und hier einkaufte statt tagsüber in der Altstadt.
»Jetzt guck dir das an!« Abrupt blieb der Rothaarige stehen und packte seinen Kollegen am Arm. »Die Einkaufswelt hat auch schon zu! Mann, das ist doch der Hammer.« Er rieb sich die Hände. »Wenn selbst dieses Kaufhaus nicht mehr bis Mitternacht offen hält, dann kann Eickhoff einpacken! Der Besitzer ist doch sonst sein treuester Mitstreiter, was Shopping-Events angeht. Wenn der ihm jetzt auch von der Fahne geht, dann gute Nacht. Aber ohne Shopping!«
»Bist du sicher?«, wandte der Dicke ein. »Das Licht dort ist zwar aus, aber guck mal – die Tür ist noch offen.«
»Stimmt. Merkwürdig.« Schon stürmte der Rothaarige los. »Wollen doch mal sehen, was es damit auf sich hat.«
Tatsächlich stand nur noch der äußerste rechte Flügel der Glasfront offen, und gewiss wäre kein Kunde auf die Idee gekommen, das Halbdunkel dieses Verkaufslabyrinths zu betreten, so eindeutig sah es hier nach Geschäftsschluss aus. Trotzdem, je näher die beiden Flaneure kamen, desto deutlicher vernahmen sie Stimmen von drinnen, aus dem Kassenbereich, wo noch eine Lampe brannte. Laute und erregte Stimmen. Neugierig traten sie näher.
»Absprachen sind das, feste Absprachen! Herrgott, du hast die Inserate doch selber mit abgesegnet!« Der Hochgewachsene im grauen Maßanzug verlor soeben seine Beherrschung; seine Gesichtshaut rötete sich bedenklich. »Das ist Verrat, was du hier machst, mein Lieber!«, brüllte er. »Verrat! Du weißt, das lasse ich mir nicht gefallen!«
»Das ist ja Eickhoff«, flüsterte draußen der Rothaarige. Seine Stimme klang ergriffen, als gehe gerade ein lang gehegter Traum in Erfüllung. »Da, schau, zusammen mit seinem Junior! Mann, die geben aber Stoff.«
Der Besitzer des verdunkelten Kaufhauses trat einen Schritt zurück, um dem Schauer von Speicheltröpfchen aus Eickhoffs Mund auszuweichen. Er war kaum kleiner als sein Mitbewerber und nicht weniger elegant gekleidet. »Führ dich hier nicht so auf!«, zischte er den Wütenden an. »Du bist hier immer noch in meinem Haus, verstehst du? Hier wird gemacht, was ich will, basta! Ist ja alles gut und schön mit deinen Ideen und Plänen, und ich unterstütze dich ja auch, solange sie funktionieren. Aber zu viel ist zu viel, verstanden? Und wenn es sich nicht mehr rechnet, dann ist Schluss mit lustig. Hast du etwa gedacht, ich riskiere deinetwegen Verluste? Das kannst du vergessen! Ich mache zu, egal was in der Zeitung stand, und daran wirst du mich nicht hindern.«
»Das können Sie nicht machen! Sie hören doch, das ist Verrat!« Wie ein verspätetes Echo schaltete sich Eickhoff junior ein. Oliver Eickhoff war einen ganzen Kopf kleiner als sein Vater; mit seinem pausbackigen Gesicht und dem blonden Bubikopf sah er deutlich jünger aus als Mitte zwanzig, und obwohl er inzwischen zum stellvertretenden Geschäftsführer aufgerückt war, wirkte er doch immer noch ziemlich altklug.
Der Kaufhausbesitzer würdigte ihn keiner Antwort. »Merk dir für die Zukunft«, knurrte er Eickhoff senior an, »du kannst auf mich zählen, wenn es etwas bringt, was du vorschlägst. Aber wenn nicht, dann nicht. Nibelungentreue gibt es für mich nicht. Spinnerei, sowas! So, und jetzt Schluss mit dem Theater. Raus mit euch beiden, ich will abschließen.«
Die beiden Flaneure hatten mit glühenden Ohren gelauscht. Um bloß nicht zu verpassen, wie Eickhoff senior auf diesen Rauswurf reagieren würde, schob sich der Rothaarige näher und näher an die Türöffnung heran, drängelte schließlich den Dicken beiseite. Der verlor kurz das Gleichgewicht und rumpelte mit der Schulter gegen die offene Türscheibe, die zu scheppern begann.
Drei Köpfe flogen herum, drei Augenpaare spähten ins Halbdunkel. Gegen das Streulicht der Straßenbeleuchtung waren nur die Silhouetten der beiden Lauschenden zu erkennen, aber Eickhoff genügte das. »Schau mal an, Asterix und Obelix auf Horchposten«, höhnte er laut. »Ihr kennt wohl überhaupt keinen Anstand mehr, was, ihr ewig Gestrigen? Schert euch bloß zurück in euer Freilichtmuseum! Bremser können wir hier nicht brauchen. Wenn wir Leer nach vorne bringen wollen, brauchen wir hellwache Köpfe, keine Penner.«
»Genau, Penner!«, echote Eickhoff junior. Sein Kindergesicht, zunächst erschrocken, nahm einen trotzigen Ausdruck an. Er rückte näher an seinen Vater heran.
»He, Moment mal, du … du Pöbelkasper!«, erwiderte der Dicke schwach. Der Rothaarige hakte ihn unter und zog in seitlich weg, so schnell wie möglich außer Sicht.
»Ärgere dich nicht«, beschwichtigte er ihn. »Mann, was wir da gerade gesehen und gehört haben, ist doch Gold wert! Dafür dürfen die uns gerne ein bisschen anpöbeln.« Er zog seinen Begleiter mit sich in Richtung Denkmalsplatz. »Komm, darauf genehmigen wir uns einen!«
Sie entschieden sich für den Außenbereich eines Cafés, wo der Dicke eine Zigarette rauchen konnte. Sonnenschirme schützten vor dem leichten Regen; obwohl es Anfang Oktober war und der Herbst sich unmissverständlich ankündigte, konnte man noch gut im Freien sitzen, wenn man die Jacken anbehielt. Die beiden prosteten sich zu.
»Und inwiefern jetzt Gold wert?«, fragte der Dicke über seinen Bierschaum hinweg.
Der Rothaarige nahm einen tiefen Schluck. »Erstens«, verkündete er dann, »weil die beiden mächtigsten Mitglieder der Werbegemeinschaft, die bislang allen möglichen Quatsch gemeinsam durchgedrückt haben, uneinig sind. Zerstritten! Und zweitens«, er trank wieder, »weil wir das jetzt wissen! Das können wir hervorragend verwenden, wenn die wieder ihre Riesenwelle machen und uns andere an die Wand drücken wollen. Das wird ihnen künftig nicht mehr so leicht gelingen!«
Der Dicke zuckte die Achseln; er hatte sich wohl mehr erhofft. »Kurzfristig sehe ich noch keinen Nutzen. Unsere Hauptprobleme bleiben doch: die abgehängte Altstadt, die umgelenkten Käuferströme, die mangelnde Unterstützung durch die Verwaltung.« Er schüttete sein Bier in zwei großen Schlucken in sich hinein. »Werben tun sie ja gerne mit unserer malerischen Altstadt, aber wenn es drum geht, uns mal unter die Arme zu greifen, dann erhöhen die lieber noch die Gebühren.«
Kichernd winkte der Rothaarige ab. »Du musst das langfristig sehen! Und da kommt drittens ins Spiel. Nämlich drittens, dass wir die nächste Generation des kaufmännischen Zweiges der Familie Eickhoff nicht fürchten müssen!« Er blies seine hohlen Wangen auf und imitierte den glotzenden Oliver Eickhoff so treffend, dass der Dicke laut lachen musste.
Die gute Laune hielt sich, bis sich die beiden auf den Heimweg machten, zurück aus der wenig belebten Fußgängerzone in die gänzlich verödete Altstadt. Der Rothaarige, weil er direkt über seinem Geschäft in der Brunnenstraße wohnte, und der Dicke, weil sein Fahrrad in der Rathausstraße stand.
Eingangs der Brunnenstraße blieben sie noch einen Augenblick stehen, um sich das bronzene Modell der Altstadt anzuschauen, das seit kurzem den Büntingplatz zierte. Eine Gestalt hastete mit gesenktem Blick an ihnen vorbei. Der Rothaarige schaute auf. »War er das nicht?«, fragte er.
»Wer?« Der Dicke hob jetzt erst den Blick.
»Na, der Kleine! Der Oliver! Der, der uns vorhin beschimpft hat.«
»Und wenn?« Der Dicke zuckte mit den Schultern. »Hat ja nur seinem Vater nachgeplappert wie ein Papagei. Der Typ ist doch hohl. Willst du ihm etwa nach und ihn verkloppen? Also ehrlich, aus dem Alter sind wir doch raus.«
Sie zuckten zusammen, als sich von hinten ein Motorrad näherte, dessen bollernder Sound von den eng stehenden Häuserfassaden bedrohlich laut reflektiert wurde. »Verdammt, wann wird das hier endlich mal Fußgängerzone!«, knurrte der Dicke, als die Maschine an ihnen vorbeipreschte. Seine Worte wurden vom Lärm aus dem Auspuff verschluckt.
Als es im nächsten Augenblick laut knallte, glaubten der Dicke und der Rothaarige zunächst an eine Fehlzündung. Der Motorradmotor aber lief fehlerlos, brüllte auf und katapultierte die Maschine sekundenschnell bis ans Ende der Brunnenstraße, wo sie mit kreischenden Reifen um die Kurve verschwand. Der Motorenlärm verklang in der Ferne.
Zurück blieb ein anderes Geräusch. Das eines vor Schmerzen jammernden Menschen. Der Rothaarige und der Dicke brauchten einen Moment, um es richtig einzuordnen. Entsetzt starrten sie einander an, dann liefen sie los, der Rothaarige voran. »Das ist wirklich Oliver Eickhoff«, rief er. »Verdammt, alles voller Blut! Aber er lebt noch. Schnell, schnell!«
Der Dicke antwortete nicht. Er hatte sein Handy bereits am Ohr.
»Und? Ist er außer Lebensgefahr?« Hauptkommissar Stahnke war mitten in der Bewegung erstarrt, die tropfende Regenjacke am ausgestreckten Arm, zehn Zentimeter vor dem Garderobenhaken. Nach dem, was er da gerade vom Kollegen Kramer erfahren hatte, lohnte es sich gar nicht, die Jacke aufzuhängen, weil sie ja doch gleich wieder los mussten.
Kramer nickte bedächtig. »Das ist er und das war er, von Anfang an. Die Schusswunde ist nämlich nicht lebensbedrohlich. Mal abgesehen vom Blutverlust, aber es gab ja zum Glück Zeugen, die sofort einen Rettungswagen gerufen haben. Und uns.«
Und zum Glück nicht mich, dachte Stahnke. Immerhin, ein Mordanschlag, wenn auch ein offenbar missglückter – da hätte man auch gleich das komplette Besteck anfordern können. Gut, dass Kramer Rufbereitschaft gehabt und anders entschieden hatte, warum auch immer. Denn Stahnke hatte gestern Abend mit ein paar Segelkameraden gefeiert. Zwar nicht die deutsche Einheit, sondern Saisonschluss, aber Alkohol hatte es reichlich gegeben.
Ob es daran lag, dass er sich immer noch nicht entscheiden konnte, wie nun mit der nassgeregneten Jacke zu verfahren war? Irgendwie fehlte ihm noch Input. »Wohin wurde es denn getroffen, das Anschlagsopfer?«, fragte er aufs Geratewohl.
»In den verlängerten Rücken«, informierte Kramer ihn prompt, ohne eine Miene zu verziehen. »Steckschuss.«
»In den … Allerwertesten?« Jetzt ließ der Hauptkommissar die Jacke doch auf den Haken sinken. Er benötigte beide Hände, um sie sich in die Seiten zu stemmen. »Wie konnte das denn passieren? Also, ich meine natürlich – war es ein Fehlschuss aus größerer Distanz?«
»Wohl nicht.« Natürlich war Kramer wieder bestens informiert. »Die Entfernung war eher gering, so sehen es jedenfalls die Zeugen. Allerdings wurde im Vorbeifahren geschossen, und zwar von einem Motorrad aus. Ein Schuss und dann blitzartig ab durch die Mitte.«
Stahnke pfiff durch die Zähne und ließ sich schwer auf den nächstbesten Stuhl fallen. »Ach nee. So weit sind wir schon? Bei den Amis gibt’s das ja öfter. Nennt sich Drive-by. Wird gerne von rivalisierenden Banden praktiziert, wegen Gebietsabgrenzungen und so.« Er runzelte die Stirn. »Interessieren sich jetzt schon Kuttenträger für die Leeraner Altstadt?«
»Darauf weist derzeit nichts hin«, antwortete Kramer mit stoischem Ernst. »Zumal das Opfer dieses Drive-by kein einschlägig bekannter Krimineller ist, sondern ein wohlangesehenes, wenn auch noch junges Mitglied der Leeraner Kaufmannschaft.«
»So. Na dann.« Der Hauptkommissar ersparte sich einen Exkurs über gewisse Parallelen zwischen krimineller und kaufmännischer Energie. Schließlich musste man hier mal vom Fleck kommen, auch wenn Kramer offenbar ausgezeichnete Vorarbeit geleistet hatte. »Name?«
»Oliver Eickhoff. Sohn von Karl-Friedrich Eickhoff, dem Kaufhaus-Tycoon.«
»Oha.« Und ob man vom Fleck kommen musste, und zwar schnell! Nicht mehr lange, und die gesamte regionale und überregionale Presse würde ihnen auf den Zehen stehen. Sofern dort noch Platz war vor lauter drängelnder Lokalprominenz. »Hast du ihn schon einvernommen? Beziehungsweise: Ist er schon vernehmungsfähig?«
»Nein und ja. Ich dachte, das machen wir zusammen.«
Stahnke nickte beifällig. »Wo liegt er denn, Borromäus oder Kreis?«
»Kreiskrankenhaus. Beziehungsweise Klinikum, wie es ja seit geraumer Zeit heißt.« Kramer nahm es wie immer genau.
Stahnke seufzte und erhob sich. Seine Regenjacke war immer noch nass. Wieder erstarrte er mit ausgestrecktem Arm. »Vom fahrenden Motorrad aus niedergeschossen, ja?«
»Wie schon gesagt.« Kramer verschränkte die Arme.
»Und die Maschine ist unmittelbar nach dem Schuss mit hoher Fahrt davongebraust, richtig? Darf ich deine Worte so interpretieren?«
»Darfst du.«
»Und das Opfer wurde auf welchem Bürgersteig aufgefunden?«
»In Fahrtrichtung rechts. Wieso?« Jetzt merkte man sogar einem Stoiker wie Oberkommissar Kramer an, dass er neugierig war.
Stahnke knickte seine immer noch ausgestreckte Hand im Gelenk ab, als würde er an einem Gasgriff drehen. »Weil alle Motorräder, die ich kenne, das Gas rechts haben«, sagte er. »Was dir übrigens auch bekannt sein müsste, schließlich hattest du doch selber auch mal ein Bike. Wenn man den Griff loslässt, dreht er sich automatisch zurück auf Standgas. Bei voller Fahrt ist das nicht angenehm. Das heißt …«, Stahnke deutet den Griff in die Innentasche einer Jacke an, die er gar nicht trug, »der Täter müsste kurz vor Erreichen seines Opfers den Gasgriff losgelassen, seine Waffe gezogen, gezielt und den Schuss abgegeben sowie anschließend die Pistole wieder eingesteckt haben. Erst danach konnte er wieder Gas geben – und musste vorher auch noch herunterschalten, um wirklich blitzartig, wie du es nanntest, abdüsen zu können. Der eigentliche Drive-by müsste sich also in besserem Schritttempo abgespielt haben. So klang mir die Schilderung aber nicht.«
»Das stimmt«, musste Kramer zugeben. »Aber vielleicht war die Waffe ja irgendwie anders platziert? Griffbereiter?«
»Und damit offen sichtbar?« Stahnke schüttelte den Kopf. »Unwahrscheinlich.«
»Oder der Täter hatte den Choke gezogen? Dann dreht der Motor doch höhere Touren.«
»Das erklärt das anschließende sofortige Beschleunigen nicht, wenn der Täter die Hand am Gasgriff nicht frei hat. Es sei denn, er hätte die Waffe sofort fallen lassen. Aber gefunden wurde sie ja wohl nicht, oder?«
»Nein«, bestätigte Kramer. »Dann bleibt eigentlich nur noch eins.«
»Genau. Der Täter muss Linkshänder gewesen sein.« Stahnke klatschte in die Hände.
»Und das wiederum bedeutet, dass er vor seinem eigenen Körper entlang geschossen haben muss, zur falschen Seite sozusagen«, spann Kramer den Faden weiter. »Was erklären würde, warum sein Schuss so schlecht gezielt war.«
»Welche Arschbacke wurde denn getroffen?«
»Die linke. Würde passen.«
»Wie Arsch auf Eimer.« Stahnke griff erneut nach seiner Regenjacke. Diesmal richtig. »Mal hören, was uns der junge Mann selber noch Erhellendes zum Tathergang erzählen kann«, sagte er im Gehen.
»Polizei, ja? Kommen Sie auch schon!«, keifte der blonde Jüngling, kaum dass Stahnke die Tür zum Krankenzimmer geöffnet hatte. »Wird langsam Zeit! Oder fanden Sie es nicht so wichtig, dass man in Ihrer Stadt auf offener Straße seines Lebens nicht mehr sicher ist?«
So also sieht einer aus, der mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden ist, dachte Stahnke. Noch ein halbes Baby und schon stellvertretender Geschäftsführer. Und so hört er sich auch an. Wenn ihm das schon derart gegen den Strich ging – was sollten dann die Leute sagen, die so einen Pimpf als Vorgesetzten hatten?
Na ja, wenn sie ihn so sehen könnten, auf dem Bauch liegend, das verbundene Gesäß halb freigestrampelt, das Gesicht nicht nur vom Schimpfen verzerrt, dann würde es diesen Leuten vielleicht schon ein bisschen besser gehen. Selbst Stahnke spürte einen Anflug von Schadenfreude, für den er sich nicht einmal schämte. Kam er hier vielleicht gedanklich in die Nähe eines Tatmotivs?
»Guten Morgen, Herr Eickhoff«, grüßte er betont freundlich und stellte sich und Kramer vor. »Es freut mich zu sehen, dass Sie schon wieder so weit hergestellt sind. Wenn man bedenkt, was Sie hinter sich haben – das hätte ja auch anders ausgehen können.«
Der Hauptkommissar hatte deutlich den Ärger erkennen können, der die helle Haut von Oliver Eickhoffs Gesicht zwischen den schräg hängenden Ponyfransen rötlich getönt hatte. Mit Stahnkes Worten aber war dieser Ausdruck wie weggewischt. Jetzt sprach schiere Panik aus den kindlichen Zügen. Dann wandte sich der junge Mann ab und drückte sein Gesicht ins Kopfkissen.
Veräppeln lässt er sich nicht gerne, registrierte Stahnke. Verständlich. Aufbrausend ist er – wie nicht anders zu erwarten bei solch einem Geldadelsspross. Und Angst hat er. Normal. »Könnten Sie mir den Vorfall bitte aus Ihrer Sicht schildern?«, bat er.
Aus dem Kopfkissen waren halb erstickte Laute zu hören. Dann stemmte sich der junge Mann auf die Ellbogen hoch. »Es war alles ganz normal, eigentlich«, begann er, jetzt ohne Allüren. »Ich hatte noch spät gearbeitet, meinem Vater geholfen, wegen des Mitternachts-Shoppings. Dann musste er noch zu einer Sitzung, zu der ich nicht geladen war. Es hat geregnet, und ich war zu Fuß unterwegs, also habe ich mich ziemlich beeilt. Das Motorrad konnte ich kommen hören, habe mir aber nichts dabei gedacht. Das heißt, doch – ich dachte noch, der soll bloß aufpassen, bei Nässe kann das Pflaster in der Brunnenstraße ganz schön rutschig sein.« Er ließ den Kopf wieder sinken.
»Und dann?«
»Dann.« Schweres Atmen, durch das Kissen gedämpft. »Es war wie ein Schlag. Oder ein Tritt in den … Plötzlich lag ich am Boden, hatte keine Gewalt mehr über meine Beine. Nach und nach kam der Schmerz.« Er drehte sein Gesicht wieder seinen Besuchern zu; die blasse Haut war rot gefleckt. »Ich habe nach hinten gefasst, und meine Hand war voller Blut. Da hab ich dann wohl geschrien.«
»Konnten Sie das Motorrad erkennen? Irgendein Detail vielleicht?«
Oliver Eickhoff schüttelte den Kopf. »Hab’s nur gehört. Vorher. Danach – plötzlich war es weg, keine Ahnung, wie und wohin. Nur an den Sound kann ich mich erinnern.«
»Kennen Sie sich aus mit Motorrädern?«, fragte Stahnke verwundert. Diesem kleinen Stenz hatte er höchstens einen Roller zugetraut.
»Ein bisschen«, sagte Eickhoff junior. »Nicht, dass ich Ihnen jetzt den Typ sagen könnte oder so. Es war aber irgendein Eintopf. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Der Hauptkommissar nickte. »Ein großvolumiger Einzylinder-Motor also. Sind Sie sich da sicher? Irrtum ausgeschlossen?«
»Logo«, schnauzte der junge Mann zurück. »Was denken Sie denn? Eine Harley war es jedenfalls nicht, auch keine BMW, überhaupt kein moderner Mehrzylinder und schon gar kein Zweitakter. Nee, das war ein Eintopf, vermutlich irgend so eine Enduro.«
Immerhin etwas, dachte der Hauptkommissar. Auch wenn das für eine Fahndung natürlich nicht reichen würde, dafür gab es von diesem hochbeinigen Fahrzeugtyp denn doch zu viele.
Plötzlich lachte Oliver Eickhoff auf. »Als dann plötzlich Asterix und Obelix angerannt kamen, dachte ich zuerst, die seien es gewesen«, sagte er.
Stahnke runzelte die Stirn. Hatte es den Knaben doch schlimmer erwischt als gedacht? Verfolgt von zwei Comicfiguren, so etwas hatte er auch noch nicht gehört. Aber wieso hatte der Bursche etwas am Kopf, wo ihn die Kugel doch am Hintern getroffen hatte? Litt er unter einer posttraumatischen Verwirrung?
Oliver Eickhoff feixte, als er Stahnkes ratlose Miene bemerkte. »Sie kennen die beiden wohl nicht? Ich dachte, die seien stadtbekannt. Laufen überall rum und meckern, wie die beiden alten Knacker aus der Muppetshow.«
»Möglicherweise bekommen Sie da etwas durcheinander.« Der Hauptkommissar versuchte sich so schonend wie möglich auszudrücken. »Asterix und Obelix kenne ich, und die beiden sind nicht nur stadtbekannt, sondern weltberühmt. Aber Figuren aus der Muppetshow sind sie nicht. Das eine ist eine amerikanische Produktion, während die zwei Gallier …«
»Wollen Sie mich verarschen?«, brüllte der junge Kaufmann unvermittelt los. Im nächsten Moment verzog er schmerzerfüllt sein gerötetes Gesicht. Seinen linken Arm hielt er angewinkelt an den Brustkorb gepresst. »Asterix und Obelix, so nennen wir die beiden doch bloß. Weil, der eine ist ziemlich klein und rothaarig, der andere groß und dick und trägt einen Pferdeschwanz. Treten immer gemeinsam auf, und der Große dackelt hinter dem Kleinen her. Zwei Kaufleute aus der Altstadt, echte Museumsstücke. Geschäftsgebaren wie vor Kaisers Zeiten, sagt mein Vater immer. Aber wenn etwas verändert oder erneuert werden soll, stehen die beiden da und motzen rum. Echt lästig.«
Endlich klickte es in Stahnkes immer noch leicht weindementem Oberstübchen. »Die beiden haben Sie also dort gefunden, schwer verletzt, wie Sie waren. Haben Polizei und Rettungswagen gerufen. Und Sie haben geglaubt, einer der beiden hätte auf Sie geschossen? Wieso denn das?«
»Na ja.« Oliver Eickhoff hob die Schultern, was ihm anscheinend Schmerzen bereitete. »Wie die da so angerannt kamen … Wir verstehen uns eben nicht so gut, die und wir. Da ist schon manches böse Wort gefallen.«
»Wie böse? Ich meine, gab es Drohungen?«
»Na sicher! Sogar öffentlich.« Der Verletzte versuchte sich mehr auf die rechte Körperseite zu betten. »Stand doch im Frühjahr in der Zeitung. Nachdem mein Vater unsere Mitternachts-Shoppings als ›für den Umsatz so sicher wie ein Elfmeter‹ bezeichnet hatte und dann zum ersten Mal eine dieser Aktionen nicht wirklich erfolgreich war, hat der Asterix doch gehöhnt, Eickhoff sei der Einzige, der per Elfmeter ein Eigentor fabrizieren könne. Da war mein Vater natürlich mächtig sauer und hat ihn einen ›ewig Gestrigen‹ genannt. Darauf hat dieser rothaarig Gnom doch gedroht, er werde ihm schon das Maul stopfen. So war das! Haben Sie das nicht mitgekriegt? Das war doch mehr als deutlich.«
Doch, Stahnke hatte das sehr wohl mitbekommen seinerzeit, und er wusste noch gut, was ihm dabei deutlich geworden war – nämlich, dass es dem Leeraner Einzelhandel schlechter gehen musste, als seine Wortführer zuzugeben bereit waren. Mehr als ein wechselseitiges Gepöbel von Konkurrenten mit mangelhafter Kinderstube hatte er darin ansonsten nicht gesehen. Eine Bewertung, die er vielleicht revidieren würde, wenn Karl-Friedrich Eickhoff angeschossen und bäuchlings vor ihm im Krankenhausbett läge und nicht sein Sohn Oliver. So aber …
Die Zimmertür platzte so abrupt auf, dass Stahnke die verdrängte Luft kühl auf seiner Wange spürte. Der hochgewachsene Mann, der in den Raum stürmte, trug einen grauen, teuer aussehenden Anzug unter einem auswehenden, ebenso kostspieligen Mantel. Der Hals dieses Mannes war ungewöhnlich lang, das Kinn klein, aber vorstehend und in zwei Halbkugeln gespalten, die Lippen wirkten ständig gespitzt. Ein langer Nasenrücken führte hinauf zu einer hohen, in Falten gelegten Stirn. Ein honorig wirkender Mann, das musste Stahnke sich eingestehen. Und doch – sah er nicht aus wie ein Gockel?
»Wer sind Sie denn?«, schnauzte der Mann. »Etwa der Bodyguard? Dann sollten Sie wohl draußen auf dem Flur stehen. Mensch, hier kann ja jeder reinspazieren, wie er gerade möchte! Sie haben ja wohl gar keine Ahnung.«
Wenn der Hauptkommissar noch Zweifel gehegt hätte, dass es sich hier um den prominenten Vater des Verwundeten handelte, dann wären die nunmehr ausgeräumt gewesen. Lag diese Art zu schnauzen eigentlich in den Genen, oder bekam jede neue Eickhoff-Generation die in die Wiege gelegt, quasi als Ausweis der Zugehörigkeit zu einer privilegierten Kaste?
Stahnke tat, was er selten tun musste: Er zückte seinen Dienstausweis und hielt ihn dem großen Gockel unter die Nase. »Kriminalpolizei«, fügte er erläuternd hinzu. »Wir untersuchen den Anschlag auf Ihren Sohn. Womit hatten Sie denn gerechnet?«
»Mit Personenschutz selbstverständlich«, erwiderte Eickhoff, jetzt in normalem Ton, aber ohne eine Spur von Verlegenheit. »Offensichtlich hat ein Mordanschlag stattgefunden, und sowie der Täter feststellt, dass er nicht erfolgreich war, wird er doch wohl den nächsten Versuch starten. Sehen Sie das etwa nicht so?«
»Wir stehen ganz am Anfang unserer Ermittlungen und sind noch dabei, uns ein Bild zu machen.« Die Forderung nach Personenschutz entbehrte natürlich nicht der Logik. Wieso hatte Kramer das denn noch nicht geregelt? Aber darüber würde er sich ganz bestimmt nicht mit diesem Power-Papa hier streiten. »Haben Sie denn eine Vermutung, wer hinter dieser Tat stecken könnte?«, fragte er stattdessen. »Gab es vielleicht Drohungen oder haben Sie andere Beobachtungen in dieser Richtung gemacht?«
Karl-Friedrich Eickhoff blickte zu seinem Sohn hinüber, zum ersten Mal, seit er das Krankenzimmer betreten hatte. »Natürlich wurden und werden wir bedroht«, konstatierte der Senior. »Seit dem Streit um das große Center in der oberen Mühlenstraße hat das nicht wieder aufgehört. Das richtet sich gegen mich, das richtet sich natürlich auch gegen Oliver. Gegen unsere ganze Familie und alles, was wir uns aufgebaut haben! Man hat uns gesagt, das wäre alles nur Getöse, so sei das nun einmal in der Politik, und Bebauungspläne sind nun eben ein Politikum. Alles nur Gebell, da würde schon nicht gebissen. Aber jetzt sehen wir ja mit eigenen Augen, dass eben doch etwas dahintergesteckt hat. Dass Hunde, die bellen, manchmal auch beißen. Nicht wahr, Oliver?«
Sein Sohn schlug die Augen nieder und nickte.
»Sie meinen also, der Anschlag hätte gar nicht Ihrem Sohn persönlich gegolten, sondern Ihrer ganzen Familie? Sozusagen, äh, einer für alle?« Stahnke mochte selbst kaum glauben, was er da fragte.
Karl-Friedrich Eickhoff nahm wieder den Hauptkommissar ins Visier, und wenn man seine Physiognomie auch belächeln mochte, so hatte sein Blick doch Kraft. »Jawohl, das meine ich! Wie sollte es auch anders sein? Schließlich habe ich – und damit auch meine gesamte Familie – in den letzten Monaten und Jahren eine Menge Feindseligkeit erfahren! Vieles davon ging unter die Gürtellinie. Und glauben Sie mir, so etwas bleibt nicht in den Kleidern hängen! Ich bin mir sicher, da ist einer dabei gewesen, dem es irgendwann nicht mehr gereicht hat, uns nur zu beschimpfen und zu beleidigen. Den müssen Sie finden, dann haben Sie den Täter!«
Mit ausgestreckter Hand wies Eickhoff senior auf seinen Sohn Oliver, diesmal ohne ihn anzuschauen. »Mein Sohn dagegen hatte doch noch gar keine Gelegenheit, sich Feinde zu machen! In der Schule und auf der Uni war er überall beliebt, das wird Ihnen jeder bestätigen. Und seit er unter mir ins Management eingerückt ist, ist er quasi in meinem Fahrwasser gesegelt. Wer hätte denn einen Grund, ihm nach dem Leben zu trachten, wenn nicht deshalb, weil sein Nachname Eickhoff ist?«
Bisschen früh für solch ein Plädoyer, dachte Stahnke; komm lieber mit Informationen rüber! Wen genau hast du im Auge? Aber noch ehe er den Mund öffnen konnte, walzte eine imposante Frau in Weiß ins Zimmer. »So, meine Herren, wenn ich Sie dann mal hinausbitten dürfte«, rief sie laut; ihr Ton duldete keinen Widerspruch. »Ich muss dem jungen Mann an den Podex gehen, dabei möchten wir doch keine Zeugen, nicht wahr, mein Lieber?« Sie klatschte auffordernd in die Hände.
Oliver Eickhoff lief wieder an, diesmal dunkelrot.
»Ich muss sowieso gehen. Meine Zeit ist begrenzt.« Eickhoff senior winkte seinem Sohn flüchtig zu und wandte sich zum Gehen. Wobei er gleich wieder stoppen musste, denn Stahnkes massiger Körper verstellte ihm den Weg.
»Ich hätte gerne ein paar konkretere Angaben zu Ihren Ausführungen«, sagte der Hauptkommissar. »Würden Sie mich vielleicht in die Polizeiinspektion begleiten?«
»Unmöglich!« Eickhoff hob abwehrend die Hände. »Der Vorstand der Werbegemeinschaft tagt jetzt mit der Bürgermeisterin, die warten sicher schon auf mich. Mit denen habe ich mir schon den größten Teil der letzten Nacht um die Ohren geschlagen. Verstehen Sie, da geht es um viel Geld.«
»Hier geht es um Leben und Gesundheit Ihres Sohnes.« Stahnke machte keine Anstalten, seine Wegblockade aufzugeben. »Und, falls Sie mit Ihren Vermutungen recht haben sollten, um Ihre gesamte übrige Familie einschließlich Ihrer eigenen Person. Also, es liegt in Ihrem eigenen Interesse, dass Sie kooperieren.«
Karl-Friedrich Eickhoff schnaufte tief durch, fand aber offenbar kein stichhaltiges Gegenargument. »Natürlich, es stimmt, was Sie sagen«, lenkte er ein. »Trotzdem, die Sitzung ist enorm wichtig und meine Mitwirkung unverzichtbar. Aber länger als eine Stunde wird das alles wohl nicht dauern. Was meinen Sie, in neunzig Minuten bei Ihnen im Präsidium? Maximal in zwei Stunden?«
Ihr guckt alle zu viel Tatort, dachte der Hauptkommissar, während er nickte und beiseitetrat. Von wegen Präsidium! Eickhoff rauschte ohne ein weiteres Wort an ihm vorbei.
»So, jetzt aber auch raus mit Ihnen«, ertönte hinter ihm das Organ der resoluten Krankenschwester. »Ich kann doch die Intimität unseres Jünglings hier nicht freilegen, solange es hier zugeht wie im Taubenschlag! Am besten fange ich erst einmal mit dem Druckverband an. Der ist ja auch schon länger dran, was?«
Beim Zuziehen der Tür erhaschte Stahnke noch einen Blick auf das schmerzverzerrte Gesicht von Oliver Eickhoff und das breite Gesäß der Schwester, die sich an dessen Oberkörper zu schaffen machte. Schnell wandte er sich ab. Er hasste Krankenhäuser – genau genommen hasste er jeden Gedanken an körperliche Beeinträchtigungen, wohl wissend, dass auch er nicht dagegen gefeit war, und das umso weniger, je älter er wurde. Vielleicht hasste er Krankenhäuser gerade deshalb so sehr.
Und das, obwohl seine Freundin in einer Klinik arbeitete. Ein Widerspruch? Darüber mochte er nun überhaupt nicht nachdenken. Eher schon darüber, wie er die nächste Stunde sinnvoll nutzen konnte, mindestens so sinnvoll wie Eickhoff senior. Darüber aber brauchte er nicht lange zu grübeln.
»Einen kleinen Augenblick, ich komme sofort!« Die Stimme kam aus dem hinteren Bereich des Ladens. Woher genau, ließ sich nicht ausmachen, denn der weitläufige Raum war zugestellt mit Regalen, Vitrinen und Kleiderständern. Auch draußen auf dem Bürgersteig und dem Parkstreifen flatterten ausgestellte Jacken und Blusen. Die haben es gut, dachte Stahnke, die sind wenigstens an der frischen Luft. Daran nämlich mangelte es hier drinnen. Licht war dafür überreichlich vorhanden, grelles, gleißendes Licht aus langen Neonröhren, von denen eine flackerte.
Die Stimme war immer noch zu hören, jetzt aber gedämpfter; ihr Besitzer telefonierte offenbar irgendwo da hinten. Weitere Mitarbeiter gab es anscheinend nicht. Ungewöhnlich für ein Geschäft dieser Größe, fand der Hauptkommissar. Was, wenn es hier einen Kundenansturm zu bewältigen gab?
Den aber gab es nicht. Was vermutlich das Problem war.
Hinten wurde aufgelegt. Schnelle Schritte näherten sich. »So, jetzt bin ich ganz für Sie da. Was kann ich denn für Sie tun?« Eine schmale Gestalt tauchte zwischen den Kleiderständern auf, das Gesicht blass, die Wangen hohl, die halblangen rötlichen Haare schütter; die Augen lagen tief in ihren Höhlen und vervollständigten den Gesamteindruck völliger Überarbeitung. Einen erfolgreichen Geschäftsmann stellte sich der Hauptkommissar anders vor. Aber was nicht war, konnte ja noch kommen – immerhin schien das Feuer in diesen tief liegenden Augen noch nicht erloschen zu sein.
»Nur ein paar Fragen, Herr Dahlmann«, sagte Stahnke und zückte seinen Dienstausweis. »Sie waren ja Tatzeuge gestern Abend, gar nicht weit von hier.«
»Ach so.« Enttäuschung sprach aus der Miene des Rothaarigen. Ein Kunde wäre ihm offenkundig lieber gewesen als ein Kriminalpolizist. »Na, dann schießen Sie mal los. Ich meine natürlich – na, Sie wissen schon. Dieser eine Schuss von gestern Abend, der reicht mir erst einmal für eine Weile.«
Stahnke musterte den bleichen, ausgemergelten Mann, dessen Blick mehr Energie ausstrahlte als seine restliche Erscheinung. Wie kam solch ein Typ dazu, ausgerechnet einen Klamottenladen aufzumachen? Und wieso blieb er derart verbissen dabei, obwohl es doch offensichtlich nicht funktionierte?
So kurz das Schweigen auch währte, für den Rothaarigen war es schon zu lang. »Ich war ja bereits auf dem Heimweg gestern Abend, mit dem Herrn Christiansen, meinem Kollegen«, begann er unaufgefordert zu erzählen. »Der von dem Buchladen gleich da vorne. Wir standen gerade vor dem Coloniale, als der junge Schnösel an uns vorbeikam, nicht wahr, Eickhoff junior. Schien es ziemlich eilig zu haben.«
»Bei Ihnen stehen geblieben ist er nicht? Ich meine, weil Sie sich doch kennen, so als Kollegen. Schließlich sind Sie in der gleichen Branche tätig.«
»Der? Bei mir stehen bleiben?« Dahlmann lachte spöttisch auf. »Dafür wäre sich der junge Herr doch viel zu fein! Auf so etwas wie mich schaut man in seinen Kreisen bloß angewidert herab. Für den bin ich doch wie Scheiße am Hacken!« Der Rothaarige grinste so breit, wie sein schmales Gesicht es zuließ. »Entschuldigung, Herr Kommissar. Meine Scherze sind manchmal etwas derb.«
Und dein Lachen ist nicht echt, setzte Stahnke in Gedanken hinzu. Dieser Mann scherzte nicht, er tat nur so. In Wahrheit schien er tief verletzt zu sein.
»Trotzdem haben Sie nicht gezögert, Herrn Eickhoff junior zu Hilfe zu kommen«, sagte er laut. »Die Schusswunde war zwar nicht lebensgefährlich, trotzdem war es gut, dass sie schnellstmöglich versorgt werden konnte. Wäre die Kugel anderswo eingeschlagen, hätte Ihre Reaktion den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen können.«
Dahlmann winkte ab und schaute zu Boden. »Ach, das war doch selbstverständlich, ich bitte Sie! Wenn man so was heutzutage nicht mehr ganz automatisch täte, wo kämen wir denn da hin? Außerdem, den Anruf beim Rettungsdienst hat ja der Christiansen gemacht. Der hat noch viel schneller reagiert als ich. Und das, obwohl ihn der Typ kurz zuvor ebenso angepöbelt hat …« Der Kaufmann unterbrach sich und blickte erschrocken auf.
»Angepöbelt«, wiederholte Stahnke. »Ebenso wie wen?«
Dahlmann zuckte die Achseln. »Wie mich«, sagte er. »Aber das ist ja nichts Neues. Dass die Eickhoffs und wir von der Altstadt ständig überkreuz sind, das weiß ja nun jeder, der regelmäßig Zeitung liest. Dabei spielt der Kleine nur eine Nebenrolle. So etwa wie der Papagei auf der Schulter von Long John Silver.« Er lachte wieder, diesmal gehässig. Das wirkte ehrlicher.
»Was war denn der Anlass Ihres Wortgefechts?« Der Hauptkommissar ließ nicht locker. »Wann und wo spielte sich das ab?«
Dahlmann seufzte, dann begann er den Vorfall vom vergangenen Abend im Zusammenhang zu schildern, wobei er den kläglichen Verlauf des Einkauf-Events in der Fußgängerzone in den dunkelsten Farben malte. »Kein Wunder, dass bei denen die Nerven blank liegen«, schloss er. »Wenn die sogar schon aufeinander losgehen! Nach außen spucken sie noch große Töne, tatsächlich aber wissen sie langsam nicht mehr, wie sie der Konkurrenz des Internets und der großen Märkte am Stadtrand noch Paroli bieten sollen. Da regiert einfach die Panik.« Der Geschäftsinhaber breitete bedauernd die Arme aus; seine Miene aber ließ Schadenfreude erkennen. »Eickhoff senior steht natürlich besonders unter Erfolgsdruck, weil er ständig Angst hat, von seinem eigenen kleinen Bruder in den Schatten gestellt zu werden. Karl-Joseph Eickhoff, der Reeder, sagt Ihnen das was?«
Stahnke nickte, ohne richtig hingehört zu haben. Er musste an die Worte von Karl-Friedrich Eickhoff denken, die möglichen Motive für den Anschlag auf seinen Sohn betreffend. Tatsächlich schien sich der Senior durch seine rigide Geschäfts- und Verbandspolitik täglich neue Feinde zu machen, nicht zuletzt im eigenen Lager. Aber waren konkurrierende Kaufleute, mochten sie untereinander auch noch so uneinig oder gar verfeindet sein, als neuzeitliche Pistoleros auf dem Motorrad vorstellbar?
Natürlich waren sie das, stellte der Hauptkommissar fest und war selber überrascht.
Unwillig schüttelte sich Stahnke den Gedanken aus dem Kopf. »Was halten Sie von der Idee, dass der Anschlag auf Oliver Eickhoff gar nicht ihm persönlich gegolten hat, sondern seiner Familie? Dass der junge Mann sozusagen stellvertretendes Opfer war?« Jetzt, da er sie aussprach, kam ihm die Theorie absurd vor.
Genauso kam sie bei Dahlmann an. »Das hat Ihnen der Alte selber erzählt, stimmt’s?«, rief er. »Der Spinner! Lässt wirklich keine Gelegenheit aus, sich aufzuspielen und seine Kritiker ins schlechte Licht zu rücken! Selbst wenn sein eigener Sohn dafür den Kopf hinhalten muss.« Er grinste: »Oder vielmehr den Popo. Ist ja echt die Frage, welches bei dem der edlere Körperteil ist.«
Stahnke musste sich beherrschen, um dienstlich ernst zu bleiben. »Sie glauben also nicht an diese These. Aber wer könnte denn sonst einen Grund gehabt haben, derart auf Oliver Eickhoff loszugehen?«
»Wer?« Der Rothaarige kniff die Augen zusammen. »Eine ganze Menge Leute, davon können Sie ausgehen! Der Kleine ist nämlich nicht so lieb und nett, wie er und sein Vater Sie anscheinend glauben machen wollen. Allein schon, was der für einen Umgang hat! Kein Wunder, dass der Christiansen langsam graue Haare kriegt.«
»Sie meinen den Buchhändler da vorne an der T-Kreuzung, mit dem Sie gestern Abend unterwegs waren? Inwiefern ist der denn von Eickhoff juniors Umgang betroffen?«
»Weil, der Christiansen, der vermietet ja auch«, erläuterte Dahlmann. »Die große Wohnung über seinem Laden. Na ja, das Haus ist alt, abends ist es im Restaurant naturgemäß etwas lauter, da kann er sich seine Mieter nicht wirklich aussuchen, verstehen Sie? Deswegen nimmt er gerne Wohngemeinschaften. Aber mit der jetzigen hat er echt ins Klo gegriffen. Ständig Lärm, ständig Randale, und die Polizei ist auch jede zweite Woche da. Eigentlich wollte Christiansen die Leute längst raussetzen, aber da ziehen ja sowieso ständig welche ein und aus, und jedes Mal heißt es, den Ärger hätte immer nur der gemacht, der jetzt weg sei. Tja, und der Christiansen, der hat eben so ein weiches Herz, verstehen Sie? Deswegen geht der ganze Mist auch immer weiter.«
»Und Oliver Eickhoff soll zu dieser WG gehören?« Der Hauptkommissar klang ungläubig.
»Nein, natürlich nicht!« Dahlmann verzog sein Gesicht. »Als ob der im Altbau wohnen würde! Nee, für den hat Papa ganz was Modernes hochziehen lassen, da draußen im Neubaugebiet an der Grenze zwischen Loga und Heisfelde. Aber der Oliver verkehrt mit den Leuten, die oben beim Christiansen wohnen, und ich schätze, das darf man auch wörtlich nehmen, also von wegen verkehren.« Er zwinkerte anzüglich. »Jedenfalls hält er sich alle paar Nächte dort auf, und wenn mal wieder die Remmi-demmi-Feten steigen, dann ist der Junior auf jeden Fall dabei. Und der Leiseste ist er dann bestimmt nicht!«
»Stößt sich also die Hörner ab«, brummte Stahnke. »Weiß sein Vater davon?«
»Es gibt wenig, was der alte Eickhoff hier in Leer nicht weiß«, orakelte der Kaufmann. »Aber manchmal macht er auch einfach die Augen zu.«
Der Hauptkommissar verzog seinen Mund. Es war ja erfreulich, dass dieser Klamottenhöker hier so geschwätzig war, aber Stahnke hatte keine Lust, sich die Sumpfblüten der ewigen Händler-Rivalität zwischen Fußgängerzone und Altstadt als verwertbare Spuren andrehen zu lassen. Dahlmann und Eickhoff senior schienen nichts anderes im Sinn zu haben, als ständig mit dem Finger auf den jeweils anderen zu zeigen, und das gab hier motivtechnisch keinen Sinn, war doch der eine der Vater des Tatopfers und der andere ein Tatzeuge, der wiederum durch seinen Begleiter alibimäßig abgesichert war. Was also sollte das bringen? Zeit, die Aussage unter Dach und Fach zu bringen. Der Kriminalpolizist straffte sich. »Erzählen Sie doch bitte weiter, wie sich die Sache gestern Abend abgespielt hat. Ab dem Moment, als Sie den jungen Eickhoff erkannt hatten.«
»Noch einmal?« Dahlmann stöhnte unwillig auf. »Was das wieder an Zeit kostet!« Sein Blick schweifte durch den Laden, und hätte er auch nur einen Kunden erspäht, so hätte er sich bestimmt auf ihn gestürzt, um dieser lästigen Pflicht zu entgehen. Kunden aber gab es keine, und so fügte sich der Kaufmann seufzend in sein Schicksal.