Geleitwort

Die Menschen lassen sich in zwei große Gruppen teilen: Solche, die operieren, und solche, die operiert werden“ stellte der deutsche Chirurg Konrad Langenbeck einst fest. Ganz gleich, ob die fachärztliche Ausbildung oder das Schicksal bestimmt haben, wer auf den Operationstisch oder von ihm herunterschaut: Beides sind Menschen, die in Kontakt miteinander stehen.

Menschen die sich operieren lassen, vertrauen ihr Leben dem Chirurgen an. Dieses Vertrauen ist die Grundlage für eine erfolgreiche Behandlung: Sind die Patientinnen und Patienten über die Chancen, aber auch die Risiken eines chirurgischen Eingriffs aufgeklärt, können sie umso aktiver am Genesungsprozess mitwirken. Daher muss darüber im Vorfeld einer Operation gesprochen werden. Liegt der Patient, die Patientin einmal „unterm Messer“, ist es für vertrauensbildende Maßnahmen zu spät.

Neben den praktischen Fähigkeiten im Operationssaal ist es daher die sprechende Medizin, die eine gute Chirurgin, ein guter Chirurg beherrschen muss. Volker Schumpelick kann auf über vier Jahrzehnte zurückblicken, in denen die Zuwendung zum kranken Menschen seinen Alltag prägte. In mehreren Fachbüchern hat er sein praktisches Wissen um die chirurgische Kunst und die Bedeutung der sogenannten „Soft Skills“ aufgeschrieben und es auf diesem Weg an angehende Chirurginnen und Chirurgen weitergegeben. Als Chirurg, akademischer Lehrer und Klinikchef hat er aber auch Erfahrungen gesammelt, die den Rahmen eines klassischen Lehrbuches sprengen würden. Wichtig für die praktische Tätigkeit und zu wertvoll, um sie für sich zu behalten, sind sie dennoch.

In „Unterm Messer – Patienten in der Chirurgie“ sammelte Volker Schumpelick Anekdoten über mal mehr, mal weniger alltägliche Vorkommnisse in seinem langen Berufsleben. Auch im zweiten Teil seiner Anekdotensammlung liest man über Patientinnen und Patienten, die den Chirurgen Schumpelick mit dem Ziel aufsuchten, schnellstmöglich wieder gesund werden. Falsche Hoffnungen durfte er bei ihnen genauso wenig wecken wie ihnen das Gefühl zu vermitteln, sie einfach aufzugeben. Schlechte Prognosen bergen aber genau diese Gefahren in sich. Kein Arzt gibt seinen Patienten auf, er wägt Risiken und Chancen miteinander ab. Er muss realistisch bleiben und das auch so vermitteln können.

Fast täglich begegnete Schumpelick Menschen, die aufgrund einer schweren Erkrankung dem Tod näher standen als dem Leben. Da war Fingerspitzengefühl gefragt. Nicht nur mit dem Skalpell. Situationen, die belegen, dass Chirurgen auch „nur“ Menschen sind.

„Unterm Messer II“ unterhält die Leserinnen und Leser mit Erzählungen aus der chirurgisch-ärztlichen Praxis. Approbierte Ärztinnen und Ärzte, angehende Medizinerinnen und Mediziner, aber auch medizinische Laien lernen den Chirurgen, die Chirurgin aus einem ganz anderen Blickwinkel kennen: Nämlich als Menschen. Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, unterhaltsame und lehrreiche Stunden mit der Lektüre.

Daniel Bahr, Bundesminister für Gesundheit

Vorwort

Folgt man aktuellen Berichten in den Medien, so muss man den Eindruck gewinnen, dass Krankenhäuser heute in erster Linie Marktplätze gewinnsüchtiger Trägergesellschaften sind oder Tatorte geldgieriger Ärzte, überforderter Schwestern und Pfleger, mogelnder Transplantationsmediziner, korrupter Verwaltungschefs, überfütterter Krankenkassen und nicht zuletzt Orte des Missbrauchs der Fallpauschalen zum Zweck der Gewinnmaximierung anstatt einer auf den individuellen Patienten abgestimmten ärztlichen Behandlung. Man fragt sich verwundert, ob das Krankenhaus – früher eine verlässliche Stätte mildtätiger Humanität – heute zum Arbeitsplatz geschäftstüchtiger Gesundheitsfabrikanten verkommen ist. Patient, Arzt und Pflegepersonal, für die das Krankenhaus ja gebaut wurde, scheinen kaum noch eine zentrale Rolle zu spielen. Der Patient als der eigentliche Souverän im Behandlungsprozess erlebt diese Funktion gelegentlich nur noch anlässlich innerbetrieblicher Verteilungskämpfe. Ansonsten scheint er das wohlfeile Objekt merkantiler Fremdinteressen zu sein. Für ihn als Subjekt, d.h. für den individuellen Patienten, interessiert sich vielleicht noch der Arzt im Bemühen um die Optimierung des Behandlungserfolgs.

In der Realität bleibt das Krankenhaus unverändert die verlässliche Stätte praktizierter Humanität

In der tatsächlichen – in den Medien lediglich in vorabendlichen Soaps dargestellten – Realität aber bleibt das Krankenhaus unverändert die verlässliche Stätte praktizierter Humanität. Hierbei stützt es sich auf den Idealismus mehrerer Hunderttausend medizinischer Mitarbeiter, für die das Wohl ihrer Patienten ein höheres Ziel ist als die Rendite ihres Krankenhausträgers. Auf diesen Wertehorizont darf der Patient vertrauen, da die Patienten in jedem Gesundheitssystem in den Ärzten und im Pflegepersonal ihre verlässlichsten Partner haben. Angesichts der fortschreitenden Ökonomisierung der Medizin ist es darum dringend notwendig, den Patienten wieder auf seinen Platz im Mittelpunkt des Krankenhauses zu stellen. Dort, wo sich Ökonomen gelegentlich selbst als das Bedeutungs-Zentrum der Klinik begreifen, muss wieder der Patient stehen.

Ein Beitrag zu dieser notwendigen Umorientierung war das 2012 veröffentlichte Buch „Unterm Messer“, das Patienten und ihren Geschichten im Alltag einer chirurgischen Klinik beschreibt. Zu meiner Freude fand dieser Band eine so wohlwollende Aufnahme, dass bald schon von vielen Seiten der Wunsch nach einer Fortsetzung geäußert wurde. Deshalb ergänze ich die bereits vorliegenden Patientengeschichten mit diesem neuen Buch „Unterm Messer II“ um weitere 43 Anekdoten chirurgischer Patienten. Auch hierbei wurden zum Schutz der Persönlichkeit und zur Wahrung der ärztlichen Schweigepflicht alle persönlichen Daten durch Verfremdung unkenntlich gemacht.

Wozu dient eine solche Anekdotensammlung? Sie ergänzt die Lehre und Ausbildung in der Chirurgie, die trotz aller Technik und Wissenschaft stets ein Fach der „sprechenden Medizin“ war, das allein durch abstrakte Wissensvermittlung nicht erlernbar ist. Wegen der notwendigen Verwissenschaftlichung droht zudem das Narrative in der Lehre der Chirurgie verloren zu gehen. Evidenzbasierte Medizin lässt keinen Platz für narrative Elemente, wer mitteilt, will nicht erzählen. Erzählungen aber waren es, die den Menschen von Anbeginn an kulturell prägten. Sowohl die Ilias oder die Bibel, wie auch Grimms Märchen bis hin zu Harry Potter, immer nahmen Erzählungen den Menschen mehr gefangen als sachliche Mitteilungen. Auch Chirurgen erfahren in ihrer Ausbildung bei aller gebotenen Sachlichkeit durch Anekdoten mehr über ihre Patienten, als das beste Lehrbuch es je vermitteln könnte. Darum war es die erklärte Absicht dieses Buches, im Zeitalter des abstrakten Multiple-Choice-Lernens durch lebensnahe Anekdoten Studenten, junge Ärzte, Schwestern, Pfleger aber auch interessierte Laien am bunten Erfahrungsschatz täglicher Chirurgie mehr Anteil nehmen zu lassen.

„Anekdote“ meint die Hervorhebung pointierter Erlebnisse mit Patienten in der Chirurgie, die das Kontinuum der täglichen Arbeit schlaglichtartig erhellen. Sie sind die markanten Fußspuren im Sand der Routine, die bereits der nächste Wind zerstreuen wird. Es galt, diese Spuren mit Empathie und Bewunderung aufzuzeichnen, um die Persönlichkeit des einzelnen Patienten gebührend zu würdigen. Sind es doch wahre Heldentaten, wenn der einzelne gegen sein übermächtiges Schicksal ankämpft, obwohl er weiß, dass er nicht jede Schlacht gewinnen wird. Seine Waffen in diesem Kampf sind Vertrauen, Hoffnung, Zuversicht und Humor.

Verehrte Leser, folgen Sie bei ihrer Lektüre unserem Patien­ten mit Zuneigung, Verständnis und Respekt.

Hamburg, im April 2013 Volker Schumpelick

Zweite Hilfe

Arbeitsunfälle sind in den letzten Jahren seltener geworden. Die strengen Vorschriften zur Unfallverhütung und die für alle Firmen vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahmen sowie Schutzvorrichtungen haben das Risiko sich bei der Arbeit zu verletzen drastisch reduziert. Dafür haben sich jedoch die Verletzungsgefahr und das Unfallrisiko in eine Sphäre verlagert, die weder adäquat überwacht wird, noch durch etwaige Schutzvorschriften auf eine Unfallverhütung vorbereitet ist, nämlich in den häuslichen Bereich. Hier kann jeder Laie ohne Ausbildung oder Erfahrung und ohne irgendwelche Schutzmaßnahmen jedwede handwerkliche Tätigkeiten ausüben. Die überall etablierten Baumärkte und die hohen Lohnkosten der Handwerker verlocken geradezu, häusliche Reparaturen selbst oder mit Nachbarschaftshilfe durchzuführen. Wenn der Stundenlohn eines regulären Handwerkers mehr als doppelt so hoch ist wie der eines angestellten Arztes, Studienrats oder Juristen, ist es ein einfaches Rechenexempel, wer den verstopften Abfluss im Badezimmer, die zu lockere Handbremse im Auto oder die tropfende Waschmaschine reparieren wird. Auch die losen Gehwegplatten vor dem Haus oder die gesplitterte Schranktür schreien nach Hilfe, wie gern würde man einfach einen Handwerker anrufen, der diese Schäden professionell und sicher beseitigt. Aber wer kann sich das leisten? In der Abwägung ist eine Woche in Mallorca die bessere Wahl als eine vom Handwerker kostenträchtig reparierte Waschmaschine.

Und so führt der Weg zum Baumarkt mit seinen tausenden, meist unvertrauten Instrumenten und Artikeln, die von dem spärlich vorhandenen Personal vor Ort eher wortkarg erklärt werden. „Hilf Dir selbst so hilft Dir Gott“ könnte über jedem Baumarkt stehen. Aber Gott hat nicht immer Zeit, unserem Hobby-Bastler so zu helfen, dass dieser durch seine Taten Gott nicht zu nahe kommt. Verletzungen durch laienhaft durchgeführte handwerkliche Tätigkeiten sind das tägliche Brot jeder Notaufnahme. Hier treffen sich die unerfahrenen bastelnden Heimwerker am Abend oder am Wochenende. Was die offizielle Statistik der Arbeitsunfälle stolz als Fortschritt der Unfallverhütung darstellt, hat sich übergangslos in den Bereich der häuslichen Unfälle verschoben. Hier treffen Hämmer auf zarte Akademikerhände, spießen sich abgerutschte Schraubenzieher in ungeschützte Bauchdecken oder treten niedliche Frauenfüße ohne Sicherheitsschuhe auf am Boden liegende rostige Nägel. In diesem Hobby-Bereich passiert tausendfach vermeidbares Unglück durch Ignoranz, fehlende Schutzmaßnahmen und übertriebene Sparsamkeit.

Neben einem Grundverständnis mechanischer Reparaturen ist das einzige, was man von einem Hobbyhandwerker noch erwartet, eine zumindest bescheidene Kenntnis der Maßnahmen zur Ersten Hilfe. Jeder, der einen Führerschein hat, ob für das Auto oder das Sportboot, hat einen Kurs in Erster Hilfe absolviert, um sich selbst oder vor allem anderen im Notfall helfen zu können. Damit wäre auch der häusliche Arbeitsunfall eigentlich gut abgesichert und Verbandskästen lassen sich in jedem Baumarkt kaufen. Man hat gelernt, damit umzugehen und weiß über Herzmassage, Mund-zu-Mund-Beatmung und Wiederbelebung zumindest theoretisch Bescheid. So dürfte also nichts Schlimmes passieren, alles müsste im Ernstfall in geordneten Bahnen verlaufen – sollte man denken, wenn die Realität nicht gelegentlich einen Strich durch die Rechnung machen würde:

Eigentlich hatte er Besseres zu tun. Er wollte schon seit langem seine Steuererklärung machen. Aber nun glotzte ihn der abgetretene, verschmutzte Teppich vor seinem Schreibtisch an, der schon seit drei Wochen erneuert werden sollte. Der Ersatzteppich war schon gekauft und stand als Rolle in der Ecke seines Arbeitszimmers. Das Teppichmesser lag daneben und wartete auf seinen Einsatz. Zweimal hatte ihn der Handwerker schon versetzt, der Teppiche verlegen in der Kleinanzeige zu einem konkurrenzlos günstigen Preis als seine Spezialität angepriesen hatte.

Nun war aber der auf diesen „Künstler“ wartende Kaufmann mit seiner Geduld am Ende, jetzt würde er es selbst machen. So schwierig könnte es ja nicht sein, einen einfachen quadratischen Teppich in sein Arbeitszimmer zu verlegen. Also griff der junge Schiffsmakler selbst zum Messer und passte den neuen Teppich unter Fluchen über die fehlende Verlässlichkeit von Handwerkern den Dimensionen des Zimmers an: „So sollte er selbst einmal mit seinen Kunden umgehen, dann würde er sicher bald arbeitslos sein. Verlässlichkeit sei nun einmal das zwingende Gebot moderner arbeitsteiliger Verantwortung und damit die notwendige Voraussetzung für jeden beruflichen Erfolg“, fluchte er laut vor sich hin, während er mit dem Teppichmesser die Kanten des sperrigen Teppichs zurechtschnitt. Und dabei passierte das, wovor ihn alle Kollegen gewarnt und deshalb das Einschalten eines Handwerkers empfohlen hatten: Er rutschte mit dem Messer an der harten Teppichkante ab und stieß mit aller Wucht der rechten Hand das Messer in die linke, die gerade noch den Teppich gehalten hatte. Die Messerklinge verschwand tief im Daumenballen, aus dem es sofort spritzend blutete. Als erstes drückte er instinktiv mit dem rechten Daumen auf die Wunde, konnte dadurch die Blutung aber nicht stoppen, es spritzte am Daumen vorbei auf den neuen Teppich. Ehe er sich versah, hatte sich hier bereits eine größere Blutmenge angesammelt. Da die Stichwunde anhaltend und heftig sprudelnd den schönen neuen Teppich mit Blut bespritzte, rief er nach seiner Frau, sie möge ihm bitte einen Aufwischlappen und vor allem den Verbandskasten bringen. Sie stürzte in das Zimmer, um ihren Mann in einer Blutlache hockend zu sehen und holte weinend aus dem Badezimmer den nie zuvor benutzten Verbandskasten. In ihm fanden sich verschiedene Binden, Pflaster, Kompressen und vor allem eine Staubinde zum Abbinden einer Extremität. Da die Blutung weiter spritzte, erinnerte er sich an seine Erste-Hilfe-Ausbildung im Rahmen des Sportbootführerscheins, bei der für spritzende Blutungen das Abbinden der Extremität empfohlen und so auch im Seglerhandbuch „Seemannschaft“ vorgeschlagen worden war. Dafür war wohl die Staubinde im Verbandskasten vorgesehen, die er sich nun selbst eng um den Unterarm legte.

Doch nach Anlage der Staubinde kam es zu einer Verstärkung der Blutung, die trotz mehrerer überlappender Verbände nicht aufhören wollte. Angesichts dieses Verlaufs sah der Reedereikaufmann sein Leben gefährdet und stürzte sich in seinen PKW, der von seiner Ehefrau ins nächste Krankenhaus gesteuert wurde. Um die Dringlichkeit der Situation kenntlich zu machen, fuhren sie unter aufgeblendeten Scheinwerfern, permanentem Hupen und angestellter Warnblinkanlage mit überhöhter Geschwindigkeit direkt vor die Notfallambulanz der Klinik, die von seiner Frau bereits telefonisch alarmiert worden war. Hier stoppten sie mit quietschenden Reifen vor dem Eingang und stürzten sich auf den wartenden Ambulanzarzt. Dieser übernahm den Verletzten, um ihn umgehend zu untersuchen. Nach einer ersten Inspektion der Wunde winkte er der telefonisch alarmierten und in Bereitschaft stehenden Operations-Mannschaft ab, die auf die angekündigte „schwerste Gefäßverletzung der Hand“ eingestellt war und bereits im Hintergrund wartete, sich aber nun zurückziehen konnte. Danach tat der Ambulanzarzt dann das einzig Richtige, er entfernte die Staubinde am Unterarm. Wegen der hierdurch verursachten venösen Abfluss-Stauung – wie bei einer Blutentnahme – war aus der eher harmlosen kleinen Blutung von einer Stichwunde nun eine anhaltende Blutung aus den gestauten Venen des Unterarms geworden. Schon Minuten nach Entfernung der Staubinde und Anlage eines kleinen Druckverbands stand die Blutung vollständig. Danach wurde die frische Stichwunde durch eine einfache chirurgische Naht verschlossen und mit einer Kompresse unter einem leichten Druckverband versorgt. Der so behandelte Reedereikaufmann konnte nach zusätzlicher Tetanusprophylaxe bereits zwei Stunden später die Notfallambulanz wieder verlassen, um zu Hause die Folgen seiner missglückten Teppichverlegung zu beseitigen.

Diese „Zweite Hilfe“ durch den Chirurgen einer Notfallambulanz wäre völlig überflüssig oder zumindest weniger dramatisch gewesen, wenn die laienhafte „Erste Hilfe“ fachgerechter, also nur mit einem Druckverband, ohne die überflüssige und gefährliche Staubinde, stattgefunden hätte. In Zeiten neu erwachter Do-it-yourself-Bastellust von Laien auf der Flucht vor hohen Handwerker-Preisen sind praktische Kenntnisse in Erster Hilfe heute eben wichtiger denn je.

Erbsensuppe und Herzinfarkt

Zweifellos hat Deutschland weltweit eines der besten Notarztsysteme sowohl hinsichtlich der Qualität als auch der Verfügbarkeit mit einem ganzjährigen vierundzwanzigstündigen Bereitschaftsdienst. In Großstädten ist es garantiert, dass bei Anruf der 112 – diese gilt auch als Euro­notrufnummer – in weniger als 15 Minuten ein Notarzt mit komplett ausgestattetem Einsatzwagen samt seinem Team vor Ort sein wird, um lebensbedrohliche Notfälle kompetent und auf höchstem medizinischen Niveau zu versorgen. Zudem sind diese Fahrzeuge teilweise mit telemedizinischen Einrichtungen ausgestattet, über die bei entsprechender Eingabe durch den Notarzt Ferndiagnosen gestellt und erste Behandlungen nach Absprache mit den Spezialisten im Krankenhaus bereits vor Ort begonnen werden können. Dies hat sich etwa bei Schlaganfällen, Herzinfarkten mit Rhythmusstörungen, aber auch bei Vergiftungen häufig als lebensrettende und vor allem etwaige Spätfolgen verhindernde Maßnahme hervorragend bewährt. – Dieses über Jahrzehnte entwickelte hochleistungsfähige Netzwerk akuter Diagnostik und optimaler sofortiger Krankenversorgung steht jedem Bürger unabhängig von seinem Versicherungsstatus an jedem Kalendertag rund um die Uhr uneingeschränkt zur Verfügung. Durch einen einfachen Telefonanruf setzt er eine diagnostische und therapeutische Versorgungskette in Bewegung, die allein auf der Basis der Angaben des Patienten und der Einschätzung der Situation durch den verantwortlichen Leitenden Notarzt gestartet wird. Für diesen geht es um rasches Handeln auf Grund von Wahrscheinlichkeits-Diagnosen gemäß den Angaben des Anrufers. Hierbei gilt das Motto: in dubio pro patiente, d. h. im Zweifel hat der Anrufer oder Patient mit seiner Schilderung Recht, seine laienhafte Einschätzung der Situation hat den höchsten Stellenwert: Konkret ist die Schilderung eines Patienten von akut einsetzenden Brustschmerzen, Luftnot, Schweißausbruch und Ausstrahlung der Schmerzen in den linken Arm ausreichend, um einen Notarztwagen samt Notarzt unter der Verdachtsdiagnose eines akuten Herzinfarkts unverzüglich in Bewegung zu setzen. Aufgrund dieser großzügigen Vorgehensweise ist es in den letzten Jahren gelungen, die Sterblichkeit und die Langzeitfolgen des Herzinfarktes, des Schlaganfalls und auch von Vergiftungen dramatisch zu reduzieren.

Leider wird dieses hocheffiziente System der Akutdiagnostik und -therapie häufig aus Unkenntnis oder einfach nur aus Faulheit missbraucht und fälschlicherweise für banale Erkrankungen wie Kopfschmerz, Sonnenbrand oder Verstopfungen in Anspruch genommen. Nicht immer und von jedem wird das Notarztsystem in seiner bewunderungswerten Leistungsfähigkeit und weltweit einmaligen Qualität entsprechend respektiert und wirklich nur bei tatsächlich lebensbedrohlichen Notfällen in Anspruch genommen. Mit etwa 65 Prozent sind unnötige Einsätze fast die Regel, dazu rechnen Beschwerden, die beim Hausarzt am Tage (z.B. jahrelanger Kopfschmerz), beim Spezialisten nach entsprechender Terminabsprache (z.B. chronischer Gelenksverschleiß) aber auch ohne Arzt durch Hausmittel (z.B. Prellungen, akuter Sonnenbrand) genauso gut hätten behandelt werden könnten.

Hierzu mag mein persönliches Erlebnis als Notarzt beispielhaft herangezogen werden. Um mir in Aachen ein Bild über das Notarztwesen zu machen, das ja einer der wichtigsten Partner für jedes Universitätsklinikum ist, begleitete ich den Notarzt für zehn Tage in seinem „Höllentaxi.“ Im Rahmen dieser freiwilligen Hospitation sah ich bei vielen Patienten den segensreichen Einfluss dieser Notarzttätigkeit für die Verbesserung der Akutversorgung und konnte erleben, wie bei mehreren Patienten durch rasches Eingreifen vor Ort das Leben gerettet oder eine spätere Behinderung vermieden wurde. Die Bilanz dieser zwei Wochen war uneingeschränkt positiv. Dennoch blieb ein schaler Beigeschmack bei einzelnen Notarzteinsätzen, bei denen der rechtzeitige Besuch des Hausarztes offenkundig die einfachere und kostengünstigere Lösung gewesen wäre: Nach einer Fahrt mit Martinshorn und Blaulicht durch Fußgängerzonen und über rote Ampeln erreichten wir ein Mehrfamilienhaus, in dem laut Notarztzentrale ein Patient mit akutem Herzinfarkt im vierten Stock auf uns wartete. Mit quietschenden Reifen hielten wir vor dem Haus und stürzten zu Fuß und zu dritt mit dem mobilen EKG-Gerät, dem Defibrillator, der Sauerstoffflasche, mobilem Sonografiegerät, mehreren Infusionsbestecken und dem Medikamentenkoffer in den Händen über vier Stockwerke das Treppenhaus hinauf und klingelten an der Tür des uns namentlich mitgeteilten Patienten. Uns öffnete ein etwa 70-jähriger Mann und wies auf unsere Frage nach dem Patienten mit Herzinfarkt auf sich selbst. Er stellte uns die Frage, ob er seine Erbsensuppe zu Ende essen dürfe. Denn so früh hätte er nicht mit uns gerechnet und es wäre doch schade, wenn die Suppe kalt würde. – Hierfür hatten wir angesichts unseres engen Zeitplanes kein Verständnis und begannen sofort neben der duftenden Erbsensuppe die notwendige Ausschlussdiagnostik eines Herzinfarkts mit Blutdruckmessung, Anamnese des Patienten, Blutentnahmen, EKG, Ultraschallkardiografie, Oberbauchsonographie und Pulskontrolle u.a., ohne einen pathologischen Befund erheben zu können. Als wir damit fertig waren und einen Herzinfarkt ausschließen konnten, zeigte sich der Patient kaum erfreut über diese Diagnose, „die Botschaft überrasche ihn nicht, denn sein Hausarzt habe ihm gestern schon gleiches mitgeteilt. Er wollte nur auf Nummer Sicher gehen, man solle doch besser immer eine Zweitmeinung einholen, habe es letzte Woche im Fernsehen geheißen.

Und so packten wir, (fast) ohne Emotionen, unsere sieben Sachen wieder zusammen und stürzten die vier Stockwerke zum Notarztwagen hinunter, da schon neue Aufgaben auf uns warteten. Der Patient aber bedankte sich pflichtschuldig, fast unverständlich mit dem Mund voller rasch gelöffelter Erbsensuppe und ergänzte seinen Abschiedsworte mit der Feststellung, dass er sich ja nun morgen den Hausarztbesuch und damit auch die Praxisgebühr sparen könne. – Auf dem Weg zum nächsten Einsatz diskutierten wir, dass es ja gerade diese Großzügigkeit in der Möglichkeit zur Anforderung eines Notarztwagens sei, die vielen Schwerstkranken eine realistische Überlebenschance bietet. Dafür müsse man eben in Kauf nehmen, dass gelegentlich eine Herzinfarktdiagnostik über der dampfenden Erbsensuppe eines Patienten stattfindet, der aufgrund des schlechten Zustandes seiner Herzkranzgefäße eben gelegentlich harmlose Stenokardien (=Herzschmerzen) habe. Dass auf dieser Basis vielleicht sogar ein frischer Herzinfarkt auftreten könnte, war uns allen klar; dass dieser aber allgemeine Symptome verursachen würde, die die Freude an der Erbsensuppe nehmen würden, hatte er nicht gewusst. Wie sollte er das auch wissen ohne irgendeine Gesundheitserziehung im Rahmen seiner Schulausbildung? So werden die NAW-Einsätze auch weiterhin häufig in Nichtigkeiten bestehen, bei denen man als Notarzt gelassen bleiben muss, um aus der Spreu das Weizenkorn des wirklich notwendigen Einsatzes heraus zu sortieren. Besser wäre es allerdings, wenn in den Schulen eine einfache Gesundheitskunde Pflichtfach wäre.

Angst vor Blutvergiftung

Blutvergiftung ist eine Ur-Angst, da das Blut als besonderer Saft den Inbegriff des Reinen darstellt. Mystisch aufgeladen mit Begriffen wie Blutsbrüderschaft, Blutsverwandtschaft, mein eigenes Blut und gleichsam aufgefasst als Zentrum der Existenz mit blamiert bis auf das Blut, spielt das Blut eine ganz besondere Rolle im Verständnis des Menschen. Wenn diese Essenz des Lebens vergiftet ist, so gilt das bereits als Vorbote des Todes. Das Gift wird den Körper zerstören, das Ende ist nah. Dabei ist dem Laien nicht bewusst, dass kein anderes Organ besser geeignet ist, sich mit Bakterien auseinanderzusetzen, als gerade das Blut. Ausgerechnet im Blut finden sich die besten Abwehrmechanismen gegen bakterielle Invasionen, die besser sind als die der Haut, der Knochen oder der Sehnen, die alle deutlich mehr durch Infektionen gefährdet sind als gerade das Blut.

Andererseits ist das Blut als Transportsystem für alle Körperregionen ein wichtiges Medium der Keimverschleppung, da kein Organ ohne Blutzufuhr auskommt. Was im Blut ist, gelangt in alle Organe, die allerdings unterschiedliche Schutzmechanismen gegen eine Keimüberschwemmung entwickelt und perfektioniert haben. Das Blut als Transportmedium ist auf diese Schutzfunktion angewiesen, da jedes verspeiste Nahrungsmittel, jeder Schluck unsauberen Wassers, jeder entzündliche Schleim in den Lungenbläschen mit dem Blut in Kontakt treten wird. So ist im Verständnis einer Blutvergiftung der Begriff Gift vor allem eine Frage der Dosis, des Zeitpunkts und der jeweiligen Lokalisation dieser Keiminvasion.

Der rote Streifen unter der Haut von Arm und Bein als der jedem Laien bekannte Ausdruck einer Blutvergiftung ist von alters her eine Signalfarbe mit Handlungsgebot. Wenn jetzt nicht auf die Entzündung reagiert wird, droht die Verschleppung der Keime in den gesamten Organismus mit der Entwicklung einer möglicherweise tödlichen Sepsis. Allerdings kann dieser rote Streifen auch andere, nicht bakterielle Ursachen haben:

Eine 42-jährige Immobilienmaklerin war beim Baden im häuslichen Schwimmbad mit dem linken Arm an die am Beckenrand aufgestellten Kakteen gestoßen und hatte hierbei unzählige zarte Stacheln in die Haut bekommen, ohne dabei nennenswerte Schmerzen zu empfinden. Stunden später begann der Arm allerdings weh zu tun, anzuschwellen und war in seiner Beweglichkeit, vor allem an der Hand, zunehmend eingeschränkt. Zusätzlich zeigte sich ein roter Streifen entlang der Innenseite des Armes, wobei die Patientin deutliches Fieber entwickelte. Die Angst vor einer Blutvergiftung brachte sie in unsere Klinik. Wir konnten ihr diese Angst nehmen mit dem Hinweis, dass alle Symptome auf eine allergische Reaktion gegen die wohl schon häufiger eingedrungenen Kakteenstacheln zurückzuführen sei, aber eine Blutvergiftung sicher nicht vorläge. Die Behandlung bestand in der minutiösen Entfernung aller Kakteenstacheln mit Pinzette und Lupenbrille, der Jodierung des Armes und der antiallergischen, intravenösen Verabreichung einer Ampulle Kalzium, aufgrund derer die Beschwerden bereits nach kurzer Zeit vollständig zurückgingen. Allein schon die ihr mitgeteilte Tatsache, dass keine Blutvergiftung vorläge, machte den halben Behandlungserfolg aus. Die Allergie auf die Kaktusstachel sei aber ernst zu nehmen, sagten wir ihr, sie würde sich bei jedem neuen Kontakt steigern und könnte bis zum lebensbedrohlichen Schock mit Atemnot führen.

Der Kaktus verschwand daraufhin am gleichen Tag aus dem Schwimmbad und landete als Pflanze im Garten. Diese Lehrstunde zu Allergien, Blutvergiftung und Kakteen im Schwimmbad hat sicher ihren Berufsweg begleitet, vor allem in den Fällen, in denen sie neuen Kunden Luxusvillen mit Schwimmbad verkaufen will. Dass nicht jeder Pool eine ungefährliche Wonne und nicht jeder rote Streifen am Körper eine Blutvergiftung sein muss, hatte sie durch uns dankbar begriffen.

Der Stich des Skorpions

Reisen bildet, sagt der Volksmund. Dies gilt für jeden, der sich auf Reisen begibt, die in unbekannte oder nur wenig bekannte Gegenden führen. Neben dem touristischen Erfahrungen, den kulturellen Erlebnissen oder den neuen menschlichen Kontakten gilt dies auch für gesundheitliche Erfahrungen jeglicher Art. Jeder Reisende wird mindestens einmal Erfahrung mit Montezumas Rache oder ähnlichen Magendarminfekten machen, wird sich mit Schutzimpfungen auseinandersetzen und wird die empfohlenen Verhaltensregeln in entsprechenden Reiseführern studieren. Auch ist er basierend auf Erzählungen von Freunden und Ortskundigen im eigenen Interesse bemüht, voraussehbare Risiken und Gefahren durch etwaige Vorbeugemaßnahmen gering zu halten. Hierzu gehören so allgemeine Tipps wie der Verzicht auf ungeschältes frisches Obst, nicht abgekochtes Leitungswasser oder unversiegelte Getränkeflaschen, um nur die banalsten Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge zu erwähnen. So ist man mit einem Hut zum Sonnenschutz, luftiger Kleidung, leichter mediterraner Kost und hochfaktoriger Sonnencreme bestens auf das Leben an der türkischen Südküste vorbereitet. Aber auch dann kann man noch überrascht werden: Vom Beruf und deutschen Großstadtleben permanent gestresst und ruhebedürftig sucht man den einsamen Strand ohne Badetrubel, lärmende Motorboote oder Busladungen voller hektischer Touristen. Nach einem längeren Fußmarsch findet man beladen mit schweren Badetaschen endlich die erträumte einsame Bucht ohne jegliche Menschen weit und breit. – Das Auspacken der mitgebrachten Badesachen, das Aufstellen des kleinen Sonnenzeltes über den Getränken und Nahrungsmitteln, das Ausbreiten der Handtücher und das Entledigen der in diesem Paradies überflüssigen Badebekleidung, die sorgfältig an der Zeltstange aufgehängt wird, um sie dem Einfluss der allgegenwärtigen Ameisen zu entziehen, sind die nächsten Schritte vor dem Absturz in einen fast, komatösen Erschöpfungsschlaf nach mehrstündiger Autofahrt bei 41 Grad im Schatten. Geweckt von der nachlassenden Sonne, dem angenehm kühlen Schatten des Zeltes und dem aufkommenden Wind der Nachmittagsbrise erwacht man mit dem trotz Urlaub immer noch immanenten Schuldgefühl, verschlafen zu haben. Um in die Welt der Zivilisation zurückzukehren, erfolgt reflektorisch der erste Griff nach der an der Zeltstange aufgehängten Badehose. – Und jetzt endet die Idylle, hier kehren wir abrupt wieder zu unserem Thema „Unterm Messer II“ zurück. Beim Anziehen der Badehose erfuhr der Autor einen bislang noch nie so stark erlebten Schmerz in der rechten Pobacke, der ihn die Hose reflektorisch abreißen und ihren Inhalt untersuchen ließ. Hier fand sich ein etwa sechs Zentimeter langer Skorpion, der seine Giftladung zielgerichtet in des Autors Gesäß abgegeben hatte. Der Schmerz war unbeschreiblich und führte zu einem Schockzustand. Mit der Entdeckung des Skorpions war für die fünfköpfige Badegruppe mit immerhin drei Medizinern die Perspektive klar: Ohne Antiserum war in dieser gottverlassenen Gegend keine Hilfe möglich, man musste sich in stoischer Gelassenheit in sein Schicksal ergeben. Stiche von Skorpionen ohne Antiserum waren nach unserem Lehrbuchwissen immer tödlich, es sei denn man könnte einen größeren Teil des Giftes durch Inzision, Aussaugen und Auspressen des Gewebes zumindest teilweise eliminieren. So wurde ich selbst Opfer laienhafter chirurgischer Kunst. An meinem mir selbst nicht einsichtigen Hinterteil wurde nach Kräften geschnitten, gesaugt und gepresst, wobei mir eine zunehmende Bewusstseinstrübung den Schmerz der Prozeduren erträglicher machte. –