Transit wird herausgegeben am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien und erscheint im Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main
Herausgeber: Krzysztof Michalski (Wien/Boston)
Mitherausgeber dieses Heftes: Charles Taylor (Montréal/Wien)
Kuratorin des Bildteils: Maren Lübbke (Camera Austria, Graz)
Redaktion: Klaus Nellen (Wien)
Redaktionsassistenz: Miriam Schmitthenner und Maximilian Wollner
Redaktionskomitee: Cornelia Klinger (Wien), Janos Matyas Kovacs (Budapest/Wien), Ivan Krastev (Sofia/Wien), Timothy Snyder (Yale/Wien).
Beirat: Peter Demetz (New Haven), Timothy Garton Ash (Oxford), Elemer Hankiss (Budapest), Claus Leggewie (Essen), Petr Pithart (Prag), Jacques Rupnik (Paris), Aleksander Smolar (Warschau/Paris), Fritz Stern (New York).
Redaktionsanschrift: Transit, Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Spittelauer Lände 3, A-1090 Wien, Telefon (+431) 31358-0, Fax (+431) 31358-30 , E-mail: transit@iwm.at
Website Transit und Tr@nsit online: www.iwm.at/transit
Verlagsanschrift: Verlag Neue Kritik, Kettenhofweg 53, D-60325 Frankfurt/ Main, Telefon (069) 72 75 76, Fax (069) 72 65 85, E-mail: verlag@neuekritik.de
ISSN 0938-2062 / ISBN 978-3-8015-0546-2 (epub) / ISBN 978-3-8015-0547-9 (mobi) (2016=
Textnachweis: Der Beitrag von Jacques Rupnik erschien zuerst unter dem Titel »Twenty Years of Postcommunism: In Search of A New Model« in: Journal of Democracy, vol. 21, nr. 1 (2010).
© 2010 für sämtliche Texte und deren Übersetzungen Transit / IWM
Transit 40 (Winter 2010)
Editorial
Timothy Snyder
Tony Judt: Eine intellektuelle Reise
Tony Judt mit Timothy Snyder
Mein Osteuropa
Zeitalter der Ungewissheit
Cornelia Klinger
Trikolore – drei Farben der Gerechtigkeit
Claus Offe
»Shared Social Responsibility«
Reflections on the need for and supply of
»responsible« patterns of social action
Ulrich K. Preuß
Social Solidarity and the Crisis of Economic Capitalism
Political implications
Roman Frydman / Michael D. Goldberg
Marktmystizismsus
Jacques Rupnik
Die postkommunistischen Länder
auf der Suche nach einem neuen Modell
Robert Kuttner
Die demokratische Linke in der Krise
Katherine S. Newman
Obama und die Krise: Was dürfen wir hoffen?
Jan- Werner Müller
Der liberale Utopist: Friedrich von Hayek Revisited
Mario Vargas Llosa
Jede Nation ist eine Lüge
Jan Patočka-Gedächtnisvorlesung 1993
Zu den Autorinnen und Autoren
Tobias Zielony
Am Ende der Welt: Trona, California 2008
Photografien
Editorial
Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums ließ das herrschende Narrativ des 20. Jahrhunderts, insbesondere das Bild des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit, über Nacht überholt erscheinen. 1991 traf sich in Wien am Institut für die Wissenschaften vom Menschen eine Gruppe von Historikern aus dem Westen und aus Osteuropa, um über eine europäische Geschichtsschreibung nach dem Ende der Teilung Europas nachzudenken. Daraus erwuchs das Forschungsprojekt Rethinking Post-War Europe, das von 1993-1998 unter der Leitung des Historikers Tony Judt am IWM verfolgt wurde. Es markiert einen Paradigmenwechsel in der Historiographie des 20. Jahrhunderts.
Wie Judt damals schrieb, geht es seit 1989 darum, »nicht nur die Folgen der Teilung Europas und der Spaltung der Vergangenheit in eine Vor- und eine Nachkriegsgeschichte zu überwinden, sondern auch eine viel gefährlichere Kluft: die wechselseitige Ignoranz der nationalen Geschichtsschreibungen. Denn sie verhindert die Herausbildung eines für die Zukunft notwendigen neuen Geschichtsverständnisses und -bewusstseins, das sich unserer gemeinsamen europäischen Vergangenheit stellt. Wie diese neue Geschichte aussehen wird, wissen wir noch nicht.»1 Mit seinem 2005 erschienen Buch Postwar: A History of Europe since 1945, schon heute ein Klassiker, hat diese Geschichte Gestalt angenommen, und eine neue Generation von Historikern arbeitet weiter an ihr.2
Tony Judt starb am 6. August 2010. Dieses Heft ist seinem Gedächtnis gewidmet. Timothy Snyders Essay würdigt Leben und Werk des britischen Historikers und dient zugleich als Einleitung zu einem Text, den die beiden gemeinsam verfasst haben. Es handelt sich um das sechste, der Begegnung mit Osteuropa gewidmete Kapitel aus Judts Erinnerungen an die Stationen seines Lebens, denen sich jeweils ein Gespräch anschließt, das persönliche Erfahrungen mit der Tiefenstruktur des 20. Jahrhunderts verknüpft. Dieses Werk, halb Autobiographie, halb zeitgeschichtliche Reflexion, konnte im Sommer 2010 abgeschlossen wer Editorial den und wird im nächsten Jahr unter dem Titel Thinking the Twentieth Century erscheinen.
Tony Judt war nicht nur ein gelehrter Historiker, sondern auch ein eminent politischer Kopf. In seinen letzten Jahren plädierte er leidenschaftlich für die Erneuerung der Sozialdemokratie. In seinem viel beachteten New Yorker Vortrag vom Oktober 2009 sagte er, dass die Aufgabe »radikaler Dissidenten heute« darin bestehe, an die sozialen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts zu erinnern. In unserem »neuen Zeitalter der Ungewissheit « habe die politische Linke etwas zu bewahren. »Die Anstrengungen eines ganzen Jahrhunderts aufzugeben, ist Verrat nicht nur an denen, die vor uns da waren, sondern auch an künftigen Generationen.«3
Um unser »Zeitalter der Ungewissheit« und die Tragfähigkeit der sozialen Solidarität geht es auch im Schwerpunkt des vorliegenden Heftes.4 Wie können wir auf die gegenwärtige Krise des Kapitalismus antworten? Das Versagen der Märkte und die wachsende Ungleichheit stellen eine Herausforderung für Demokratie und Sozialstaat dar, die sich vielleicht am deutlichsten im gegenwärtigen Aufstieg des Populismus auf beiden Seiten des Atlantiks zeigt.
Der einleitende Essay von Cornelia Klinger legt die Voraussetzungen des modernen, in sich spannungsvollen Begriffs der Gerechtigkeit frei, der sich aus den drei Parolen der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ableiten lässt. Claus Offe untersucht das Konzept der »shared social responsibility« als Leitprinzip für eine europäische soziale Ordnung. Ulrich K. Preuß diagnostiziert die gegenwärtige Situation als Krise eher des durch die Globalisierung geschwächten Staates denn als eine des Kapitalismus, dessen Zähmung dem Staat nicht mehr gelingen will.5 Während Jacques Rupnik die Schwierigkeiten der postkommunistischen Länder untersucht, das mittlerweile selbst in Turbulenzen geratene westliche Modell zu adaptieren, versuchen Robert Kuttner und Katherine S. Newman zu erklären, warum die demokratische Linke in den USA (und anderswo) von der gegenwärtigen Krise in die Defensive getrieben wurde, statt von ihr zu profitieren. Frydman und Goldberg machen die herrschende Markttheorie für den Kollaps des Finanzmarkts verantwortlich: Ihre Anhänger haben, so die Autoren, in ihrem Glauben an die Rationalität des Marktes die Fehler der Planwirtschafts-Ideologen wiederholt, mit ähnlich fatalen Folgen. Eine derartige »Anmaßung von Editorial Wissen« hätte auch Friedrich von Hayek verdammt. Jan-Werner Müller zeigt in seiner abschließenden Würdigung, warum dieser Denker des Liberalismus keineswegs überholt ist.
Der diesjährige Nobelpreis ging an den peruanischen Romancier und öffentlichen Intellektuellen Mario Vargas Llosa. Wir nehmen dies zum Anlass, seine Jan Patočka-Gedächtnisvorlesung wiederabzudrucken, die er 1993 in Wien gehalten hat. Llosas radikale Kritik des Nationalismus hat vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Entwicklungen nichts an Aktualität eingebüßt.
Den photographischen Essay dieses Heftes hat der deutsche Künstler Tobias Zielony gestaltet. Er gehört zu einer neuen Generation von Photographen, die eine Erneuerung der klassisch dokumentarischen Photographie anstreben. Zielony porträtiert Jugendliche in den Vorstädten von Marseille, in Halle-Neustadt, Bristol oder Neapel. Mit seinen Bildern von Ausgegrenzten hat er eine Metapher für jene Orte gefunden, an denen der Sozialstaat nicht mehr greift. Dabei steht weniger die Dokumentation der realen Verhältnisse im Zentrum, als vielmehr die Selbstinszenierung der Protagonisten, die eine dichte Atmosphäre entstehen lässt. Den Hintergrund der Serie in diesem Heft bildet Trona, eine Kleinstadt am Rande des Death Valley, die einst ein urbanes Vorzeigeprojekt war. Seit der Schließung einer großen Chemiefabrik ist sie durch Arbeitslosigkeit gezeichnet und zu einem ein Ort der Tristesse geworden, der sich selbst überlassen ist.
Wien, im Oktober 2010
Anmerkungen
1 Tony Judt, »Europas Nachkriegsgeschichte neu denken«, in: Transit 15 (1998) Vom Neuschreiben der Geschichte. Erinnerungspolitik nach 1945 und 1989, S. 3- 11. www.iwm.at/transit_online.htm
2 Zu ihnen zählt Timothy Snyder, der am IWM den Forschungsschwerpunkt Vereintes Europa – Geteilte Geschichte leitet. Vgl. das 2009 unter demselben Titel erschienene Heft 38 von Transit sowie sein Buch Bloodlands: Europe Between Hitler and Stalin, New York 2010.
3 »Was ist lebendig und was tot an der sozialen Demokratie?«, in: Berliner Republik, Editorial 2 (2010), www.b-republik.de. Der ausgearbeitete Vortrag erschien 2010 unter dem Titel Ill Fares the Land. A Treatise on Our Present Discontents bei Penguin.
4 Ein Teil der Beiträge geht zurück auf die Konferenz On Solidarity V: Social Solidarity and the Crisis of Economic Capitalism, die das IWM am 16. und 17. Oktober 2009 im Rahmen seines Forschungsschwerpunkts Ursachen von Ungleichheit / Soziale Solidarität organisiert hat.
5 Zum ersten Mal publiziert Transit hier Beiträge in englischer Sprache. Sie werden auch in Zukunft die Ausnahme bleiben.
Timothy Snyder
TONY JUDT: EINE INTELLEKTUELLE REISE1
Als ich Tony Judt vor 20 Jahren zum ersten Mal begegnete, war er gerade auf dem Weg zum Zug. Anstatt wegzufahren, aß er jedoch mit zwei Studenten der Brown University in Providence zu Mittag. Behutsam gab er den beiden jungen Männern, die zwischen Journalismus und Geschichte schwankten, Karrieretipps. Ich möchte natürlich nicht behaupten, dass jeder, der jemals mit Tony gegessen hat, entweder Historiker wurde, so wie ich, oder den Pulitzer-Preis gewann, so wie Gareth Cook. Vielmehr geht es mir um den außergewöhnlich großzügigen Umgang, den Tony mit seiner Zeit pflegte – insbesondere wenn es um junge Menschen ging. Auf eine kurze Bitte um Rat erhielt man mitunter eine mehrseitige, sorgfältig ausgearbeitete Antwort. Tony schrieb Dutzende von Empfehlungsschreiben für Leute, die formal nicht einmal seine Studenten waren, und organisierte Konferenzen, auf denen jüngere mit etablierteren Wissenschaftlern zusammentrafen. In seinem Remarque Institute an der New York University war Leistung ein deutlich wichtigeres Aufnahmekriterium als Ruhm.
Man kann in Tony Judt im Verlaufe seines Lebens eigentlich zwei Historiker sehen: zunächst einen aus der Arbeiterklasse stammenden Marxisten mit englisch-jüdischem Hintergrund, der seine Ausbildung in Cambridge und an der École Normale in Paris absolvierte und vier hervorragende Bücher über die französische Linke verfasst hat; später dann einen großen New Yorker Gelehrten, der neben einer fulminanten Geschichte Nachkriegseuropas auch bemerkenswert klare Studien über einige führende europäische Intellektuelle geschrieben hat, darunter Albert Camus und Leszek Kołakowski. Das Bindeglied zwischen diesen beiden Stadien war Past Imperfect, Tonys eloquente Kritik der Pariser Intellektuellen nach dem Zweiten Weltkrieg, die 1992 erschien. Auf den ersten Blick war dieses Buch eine genaue Untersuchung des Kommunismus von Jean-Paul Sartre und des politischen Narzissmus der Rive Gauche-Intellektuellen, die den Stalinismus feierten, aber die Augen vor seinen Folgen in Osteuropa verschlossen. Auf einer tieferen Ebene war das Buch die Abkehr eines französischen Marxisten von seiner eigenen Tradition.
Tony hatte sein erstes Buch, La reconstruction du parti socialiste, 1921-1926, auf Französisch verfasst. Ein französischer Kritiker stellte treffend fest, dass Past Imperfect sich lese wie die Auseinandersetzung eines lebenden französischen Intellektuellen mit seinen toten Kollegen. Im Grunde war dieses Buch Tonys erster Versuch einer Geschichtsphilosophie, die den Untergang des Marxismus und der anderen großen politischen und intellektuellen Systeme des 20. Jahrhunderts überleben sollte. Als er sich von den französischen Marxisten distanzierte, widerstand er der Versuchung, den Marxismus durch eine andere Quelle intellektueller Autorität zu ersetzen. Während andere Intellektuelle seiner Generation den Marxismus gegen etwas anderes austauschten, das wie sein Gegenteil erschien – etwa den Markt – verwarf Tony den Gedanken, dass dem historischen Wandel eine einzige Erklärung zugrunde liegen könnte. Past Imperfect war möglich, weil Tony in den 1980er Jahren eine Art mentale Reise durch Osteuropa unternommen hatte – ganz entgegen dem Trend seines Berufsstandes, der ungeachtet der Umwälzungen in Osteuropa westlich orientiert blieb, und im Gegensatz zur Geschichte seiner Familie, die das Russische Reich in Richtung Westen verlassen hatte. Diese intellektuelle Reise war fruchtbarer, wenn auch weniger dramatisch als Tonys Begegnungen mit dem jüdischen Staat. Sein jugendlicher Zionismus war eine halbherzige Rebellion gegen seine Eltern, die wollten, dass er in England studierte; seine spätere Kritik an Israel war, unter anderem, auch eine Art Selbstkritik. Interessanter hingegen ist, wie er um die Mitte seines Lebens am intellektuellen Geschehen Osteuropas teilnahm, was seinen Bruch mit dem Marxismus beschleunigte und ihm eine umfassendere Sichtweise auf den Kontinent ermöglichte. Tony war 1948 geboren und gehörte somit derselben Generation an wie die rebellischen polnischen Intellektuellen, viele von ihnen ebenfalls jüdischer Abstammung, die geschlagen, eingesperrt und 1968 als Opfer einer antisemitischen Kampagne aus dem kommunistischen Polen vertrieben wurden. Einige dieser Menschen – vor allem Jan Gross, Irena Grudzińska-Gross und Barbara Toruńczyk – freundeten sich in den 1980er Jahren mit ihm an, wodurch ihre Geschichte in einem entscheidenden Sinn auch zu seiner Geschichte wurde.
1968 war Tony noch Zionist und Marxist. Seine polnischen Freunde waren nie Zionisten gewesen (obwohl sie vom kommunistischen Regime als solche bezeichnet wurden), und sie hatten ihre intellektuelle Abkehr vom Marxismus deutlich vor ihm begonnen. 1968, im Alter von 20 Jahren, nahm Tony an Studentendemonstrationen in Paris, London und Cambridge teil. Nach einer Antikriegsdemonstration in Cambridge trabte er ins King’s College zurück, plauderte auf dem Weg mit einem Polizisten und hoffte, noch vor der Essensglocke den Speisesaal zu erreichen. Zwei Jahrzehnte später, mit nunmehr 40 Jahren, sah Tony, wie sehr sich diese Situation von der in Warschau unterschied, wo die Polizei Schlagstöcke einsetzte. Die Erfahrungen seiner osteuropäischen Freunde begannen, seine eigenen zu überlagern und halfen ihm, sein Verständnis von Nachkriegseuropa zu vertiefen. Angesichts der Tatsache, dass der Vater seines Vaters in Warschau zur Welt gekommen war und dass im Warschauer Ghetto auch Mitglieder der Familie Judt lebten, vermochte sich Tony vorzustellen, dass auch sein Leben so hätte verlaufen können wie das seiner Freunde. In den 1980er Jahren lehrte Tony in Oxford, ebenso wie der polnische Philosoph Leszek Kołakowski, der 1968 zur intellektuellen Inspirationsquelle für die Studenten seines Landes geworden war. Über Kołakowskis Meisterwerk, Die Hauptströmungen des Marxismus, das wie kein anderes Buch den Glauben an den Marxismus erschütterte, hat Tony 2006 im New York Review of Books einen brillanten Essay geschrieben.2
Nach dem Ende des Glaubens an umfassende Erklärungen zogen sich viele Historiker auf hochspezialisierte Gebiete zurück. Tony hingegen wählte, als er sich in den 1990er Jahren darauf vorbereitete, Postwar zu schreiben, einen schwierigeren Weg. Ähnlich wie Isaiah Berlin, ein weiterer in Oxford tätiger, einflussreicher Zeitgenosse, erkannte auch er die der Geschichte innewohnende, irreduzible Vielfalt an und versuchte, dieser Vielfalt in einer überzeugenden, in sich stimmigen und wahren Darstellung gerecht zu werden. Tony brachte nicht nur Ost- und Westeuropa zusammen, sondern auch Skandinavien und den Mittelmeerraum. Er schrieb gleichermaßen kompetent über Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur. Spezialgebieten zollte er Respekt, indem er ihre immense Literatur bewältigte und sie auf elegante Weise in seiner Darstellung zusammenführte.
Tony war ein Kosmopolit, und doch verbarg sich hinter den Sprachen, die er beherrschte, und seinem stupenden Wissen ein gewisses Unbehagen. Als der ehemalige Chef des DDR-Auslandsnachrichtendienstes, Markus Wolf, ihn einmal auf einer Konferenz in Berlin nicht ohne Arglist bat, eine Frage auf Deutsch zu wiederholen, kam Tony dieser Bitte mit einem für ihn untypischen Zögern nach. Nachdem ich einen Großteil der vergangenen zwei Jahre auf die Arbeit an seiner Biographie verwandt habe, glaube ich nun den ersten Satz zu kennen, den Tony je auf Deutsch gesprochen hat. Es war 1960, als er – gerade zwölf Jahre alt – und seine Eltern auf dem Weg in den Sommerurlaub eine Nacht in Deutschland verbringen mussten. Seine Familie bestand väterlicherseits aus osteuropäischen Juden, die sich in Belgien niedergelassen hatten. Viele von ihnen wurden im Holocaust ermordet. Tony selbst erhielt seinen Namen im Angedenken an Toni Avegael, eine in Auschwitz umgekommene Cousine seines Vaters. Tonys Vater brachte es nicht über sich, mit den Deutschen an der Hotelrezeption zu sprechen, weshalb er seinen Sohn anwies zu sagen: »Mein Vater will eine Dusche«. In seiner Erziehung war der Holocaust, so Tony in der Biographie, überall und nirgends, ungreifbar wie ein Dunstschleier.
Dasselbe Bild trifft auf die Präsenz und die Abwesenheit des Holocaust in Tonys Geschichtsschreibung zu. Alle seine frühen Bücher über die französische Linke stellten, und sei es nur implizit, die Frage: Musste das geschehen? Hätte anstelle des Nationalsozialismus nicht auch der Sozialismus obsiegen können? Hätte nicht auch Frankreich anstelle Deutschlands die Oberhand gewinnen können? War eine aufgeklärte Politik nicht dennoch möglich? Selbst in Past Imperfect hatte Tony nur wenig über die französische Erfahrung der deutschen Besetzung und über die Verbrechen von Vichy zu sagen. In Postwar sparte er den Holocaust mehr oder weniger aus der Geschichte aus; in seiner Schlussbetrachtung kommentierte er mehr das Gedenken an den Holocaust, als dass er sich auf das Ereignis selbst konzentriert hätte. Ähnlich wie viele andere Historiker seiner Generation, schrieb auch Tony eine Zeit lang so, als glaube er, man könne die großen Themen der intellektuellen und politischen Geschichte des letzten Jahrhunderts losgelöst vom Holocaust behandeln. Zuletzt wurde ihm aber klar, dass sich der Massenmord an den europäischen Juden jeder Darstellung dieser Geschichte unabweisbar aufdrängt. Als seine tödliche Krankheit ausbrach, bereitete er sich gerade darauf vor, eine intellektuelle Geschichte des 20. Jahrhunderts zu schreiben, die dessen zentraler Tragödie Rechnung tragen sollte. Erst ganz am Ende schloss Tony den Kreis mit dem Buch, das er in der kurzen verbleibenden Zeit verfasste.
Tony nutzte seine furchtbare Krankheit dazu, seine wenigen intellektuellen Grenzen zu überschreiten. Als 2008 ALS diagnostiziert wurde, hatte Tony einen Lehrstuhl inne, leitete ein Institut und war ein anerkannter
Historiker und öffentlicher Intellektueller. All dies hatte er auf seine eigene Weise erreicht. Er rebellierte, wann es ihm gefiel und gegen wen es ihm gefiel, und definierte sich stets als Außenseiter. Mein Eindruck ist, dass seine Krankheit die Unterscheidung zwischen Insider und Outsider, die Tonys gesamtes Leben geprägt hatte, weniger wichtig erschienen ließ. Seit er in seinem eigenen Körper gefangen war, kam er mehr aus sich heraus, als er es je zuvor getan hatte. Er hatte seine private Seite immer eher verborgen und achtete zudem seit einer früheren Krebserkrankung sehr auf seine äußere Erscheinung; nun aber legte er sowohl seinen körperlichen Verfall als auch seine komplizierte Biographie bloß.
Ende 2008 willigte Tony ein, mit meiner Hilfe ein umfangreiches Buch über sein Leben und das Geistesleben des 20. Jahrhunderts zu verfassen. Dieses Werk, das die zentralen Strömungen im Denken des vergangenen Jahrhunderts reflektiert, offenbart, wie ich finde, lebendiger als alles, was Tony zuvor schrieb, sein enormes Wissen. Beim Schreiben verbanden sich Tonys großer Stolz mit seiner ebenso großen Bescheidenheit. Als wir nach sechs Monaten unsere Gespräche abschließen konnten, begann er, auch wieder selbständig zu arbeiten; er diktierte kurze Essays, die er im New York Review veröffentlichte. Am 19. Oktober hielt er an der New York University eine Vorlesung über die Sozialdemokratie, die er dann schnell zu dem Buch Ill Fares the Land ausarbeitete. Wir schlossen Thinking the Twentieth Century im Juli 2010 ab, wenige Wochen vor seinem Tod.
Als ich Tony zuletzt schrieb, kurz vor seinem Tod, war ich gerade von einem Ausflug mit dem Zug von Wien nach Krems zurückgekehrt. Tony erzählte mir, dass er einmal die gleiche Reise mit einem seiner Söhne unternommen habe, und so schrieben wir uns E-Mails über Zugreisen mit kleinen Jungen entlang der Donau. Mit Thinking the Twentieth Century hat Tony eines der beiden Buchprojekte verwirklicht, die ihm besonders am Herzen lagen. Das zweite, Locomotion, drehte sich um das Reisen mit dem Zug. Gerade weil er sich seiner jüdischen Kindheit in London auf unsentimentale Weise erinnerte, empfand er große Nostalgie für britische Züge. Die Schule, die er als Junge besuchte, lag zwischen den Bahngleisen, die von der Victoria Station und der Waterloo Station kamen und zu einer imaginären Flucht einluden. Als er ein Teenager war, nahm er gern sein Fahrrad, setzte sich in einen Zug irgendwohin und verbrachte den Tag mit Erkundungen. Damals dachte er, er laufe weg; doch mit der Zeit verstand er, dass er gemeinsam mit anderen reiste. Die Eisenbahn schien ihm eine glückliche Metapher für den Wohlfahrtsstaat: Die individuelle Dienstleistung, die sie dem Reisenden bietet, macht diesem zugleich bewusst, dass er Teil einer Gesellschaft ist.
Tony erzählte mir, dass seine Krankheit ihn auch deswegen traurig mache, weil er nie wieder auf einem Bahnsteig würde stehen können – mit ungewissem Ziel, aber mit der Gewissheit vorwärts zu kommen. Doch selbst als er sich nicht mehr rühren konnte, war Tony doch ständig in Bewegung: durch eine beispiellose Bibliothek erinnerter Bücher eilend, um dann nach Aussichtspunkten auf ein bewundernswertes Leben zu suchen. Er machte dabei stets die Grenzen der anderen sichtbar, und ging doch immer mit gutem Beispiel voran, indem er seine eigenen überwand.
Aus dem Englischen von Dirk Hofmann
1 Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel »Tony Judt: An Intellectual Journey« am 31. August 2010 im Blog des New York Review of Books, www.nybooks.com/blogs/nyrblog/. Abgedruckt mit freundlicher Erlaubnis des New York Review of Books. © 2010 NYREV, Inc. (Anm. der Red.)
2 »Goodbye to All That?«, in: The New York Review of Books, vol. 53, nr. 14, September 21, 2006; dt. erschienen unter dem Titel »Dem allen Lebewohl? Kolakowskis Hauptströmungen des Marxismus heute gelesen«, in: Transit. Europäische Revue, Nr. 34 (2008). (Anm. der Red.)
Tony Judt mit Timothy Snyder
MEIN OSTEUROPA1
1979 kehrte ich aus Kalifornien heim in das Land Margaret Thatchers, die im selben Jahr Premierministerin geworden war und bis Ende 1990 im Amt bleiben sollte. In Berkeley noch befasst mit den – wie mir schien – realitätsfremden kulturzentrierten Fragestellungen der postmarxistischen akademischen Linken, fand ich mich plötzlich mit einer politisch-ökonomischen Revolution konfrontiert, die von rechts ausging.
Gewisse Errungenschaften der Linken bzw. der Sozialdemokratie erschienen mir damals selbstverständlich. In dem von Thatcher geprägten Großbritannien der achtziger Jahre musste ich erleben, wie leicht sich dieses Erbe der Vergangenheit abwickeln und zu Grunde richten ließ. Die großen Errungenschaften des sozialdemokratischen Konsenses aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts – auf Leistung statt auf Herkunft setzende Bildung, freier Zugang zu den Hochschulen, ein staatlich subventioniertes öffentliches Verkehrssystem, eine funktionierende nationale Gesundheitsversorgung, staatliche Förderung der Künste und vieles mehr – das alles ließ sich demontieren. Das Programm Thatchers folgte einer bestechenden Logik: In Zeiten des postimperialen Niedergangs könne Großbritannien das Niveau der Sozialausgaben früherer Tage nicht länger aufrechterhalten. Mein Widerstand dagegen erklärte sich nicht nur aus den offensichtlich hohen sozialen Kosten, die eine solche Politik nach sich zieht, sondern entsprang auch neuen politischen Einsichten, die ich in jener Zeit gewann. Danach musste jede Logik dieser Art letzten Endes scheitern.
Auf meiner neuen Stelle in Oxford sollte ich Politik lehren, und das verlangte mir sowohl analytisches als auch normatives Denken ab und bot mir Gelegenheit, mich in beiderlei Hinsicht weiterzubilden; die distanziertere Sicht des Historikers konnte ich, zumindest teilweise, beiseite lassen. Ich befasste mich (oft zum ersten Mal) mit Autoren wie John Rawls, Robert Nozick und Ronald Dworkin – wie auch mit den Klassikern liberalen und konservativen Denkens. Zum ersten Mal war ich genötigt, mich systematisch in der Begrifflichkeit konkurrierender politischer Erklärungsansätze zu bewegen. Ich musste mich nicht mehr vornehmlich mit den Unzulänglichkeiten des Marxismus auseinandersetzen; alle politischen Theorien waren, wie mir jetzt schien, ihrer eigensten Natur nach voreingenommene und unvollständige Darstellungen der Komplexität menschlicher Verhältnisse… und das war auch gut so.
Ich wurde zum Pluralisten, in dem Sinn, wie Isaiah Berlin den Begriff gebraucht. Tatsächlich waren es jene Jahre, in denen ich mich mit Berlins Schriften vertraut machte, auch wenn ich einige der bekannteren Essays
bereits früher rezipiert hatte. (Mit Berlin selbst hatte ich in Oxford so gut wie keinen Verkehr: Ich traf nur ein paar Mal kurz mit ihm zusammen; meine Verbundenheit mit ihm war rein intellektueller Natur.)
Praktisch gesehen, ist die wichtigste Lektion, die Berlin für die zeitgenössische politische Analyse und Diskussion anbietet, die Einsicht, dass alle politischen Entscheidungen ihren realen und unvermeidlichen Preis haben. Die Frage ist nicht, ob es bei den Entscheidungen, die man trifft, ein Richtig oder Falsch gibt, und auch nicht, ob die »richtige« Entscheidung darin bestehen soll, die schlimmsten Fehler zu vermeiden. […] Wie in den meisten anderen Lebensbereichen schließen auch in der Welt der Politik Entscheidungen, die diesen Namen verdienen, Gewinne und Verluste ein.
Wenn es kein eindeutig Gutes gibt, dann gibt es wahrscheinlich auch keine Analysemethode, die allein all die verschiedenen Formen des Guten erfassen, und keine politische Logik, die allein die gesamte Ethik beherrschen könnte. Diese Einsicht erschloss sich nicht ohne weiteres durch die Kategorien oder Methoden des zeitgenössischen politischen Denkens auf dem europäischen Kontinent. In der Tradition jenes Denkens herrschte die Vorstellung von absoluten Vorteilen und vernachlässigbaren Nachteilen vor: Politische Argumente hatten hier die Qualität von Nullsummenspielen. Es gab gute und schlechte Systeme und Zielsetzungen, richtige und falsche Entscheidungen, die aus nicht minder richtigen oder falschen Prämissen folgten. Im Lichte dieser Denkweise, verstärkt durch die noch nicht weit zurückliegende Erfahrung des totalen Kriegs, erschien Politik als eine Sache des Alles-oder-Nichts, eine Entscheidung zwischen Sieg oder Niederlage, ein Spiel um Leben oder Tod, und Pluralismus konnte nur ein Kategorienfehler sein, eine bewusste Täuschung oder eine tragische Illusion.
Es war auch in jenen Jahren, dass ich die beste jemals erschienene Kritik des Marxismus las. Im Jahre 1979, als Main Currents of Marxism erschien,2 wusste ich wenig über die politische und intellektuelle Geschichte Polens, auch wenn ich bereits in den sechziger Jahren von Leszek Kolakowski gehört hatte, damals noch der führende revisionistische Marxist in Polen. 1968 verlor er seinen Lehrstuhl für Philosophiegeschichte an der Universität Warschau, nachdem ihm von der kommunistischen Führung nicht zu Unrecht vorgeworfen worden war, der Mentor einer Generation rebellischer Studenten zu sein. Seine Ausreise aus Polen markiert präzise den Zeitpunkt, an dem der Marxismus aufhörte, eine ernstzunehmende geistige Macht in Kontinentaleuropa darzustellen. Kolakowski landete schließlich im Oxforder All Souls College, wo ich ihn kennen lernte, kurz nachdem die englische Übersetzung von Main Currents erschienen war. Diese drei Bände sind ein Denkmal ideengeschichtlicher Gelehrsamkeit. Ich staunte über die schiere Dimension des Unternehmens und war tief beeindruckt, wie ernsthaft Kolakowski sich mit einer Lehre auseinandersetzte, deren politische Unglaubwürdigkeit er doch aufzuzeigen beabsichtigte.
Kolakowski war davon überzeugt, dass der Marxismus, zumal in seiner Blütezeit, es verdiene, dass man sich geistig mit ihm auseinandersetzt, zugleich aber entbehrte er in seinen Augen der politischen Perspektive und des moralischen Werts. Diese Sicht machte ich mir schließlich zu eigen. Nachdem ich Kolakowski gelesen hatte, der im Leninismus eine plausible, wenn nicht gar zwingende Interpretation der Marxschen Lehre sah (und jedenfalls die einzig politisch erfolgreiche, die wir kennen), fiel es mir zunehmend schwerer, jene Unterscheidung zwischen marxistischem Denken und sowjetischer Wirklichkeit aufrechtzuerhalten, die mir seit meiner Kindheit eingeprägt worden war. Ich habe Kolakowski nie näher kennen gelernt. Tatsächlich war ich, zumal nach der Lektüre seines Meisterwerks, ziemlich eingeschüchtert und hätte wahrscheinlich niemals von mir aus um ein Treffen gebeten. Meine damalige Frau allerdings, die alles andere als schüchtern war, bestand auf einer Begegnung, und so trafen wir drei uns irgendwann Anfang der achtziger Jahre in Oxford zum Mittagessen. Danach begegnete ich Leszek noch bei einer Reihe von Anlässen, das letzte Mal nicht lange vor seinem Tod. Ich habe ihn immer vorbehaltlos bewundert und geachtet. […]
Kurz nach meiner Übersiedlung nach Oxford erklärte meine Frau Patricia mit der für sie typischen Entschiedenheit, in die Vereinigten Staaten zurückkehren zu wollen. Sie bewarb sich um eine freie Stelle an der Emory University, bekam sie auch und trat sie im Januar 1981 an. Um bei ihr sein zu können, übernahm ich dort im folgenden Jahr eine Gastprofessur. Atlanta war mir zutiefst zuwider – ein graues, feuchtes, langweiliges, provinzielles, abgeschiedenes Nest. Die Emory Universität selbst, die ihrem Lehrkörper als eine Oase der Kultur und Bildung inmitten der Wüstenei des amerikanischen Südens galt, erschien mir als ein trister, mediokrer Ort – ein Urteil, von dem ich, so ungerecht es gewesen sein mag, keinen Anlass fand abzurücken. Einen Lichtblick meines Aufenthalts dort bildete ein Besuch Eric Hobsbawms, der an einer Konferenz in Atlanta teilnahm. Wir waren vermutlich beide gleichermaßen froh, in dem abweisenden Milieu der gesichtslosen innerstädtischen Malls Atlantas einander ein paar Stunden lang Gesellschaft leisten zu können.
Die wichtigste und nachhaltigste Erfahrung aus meinem Aufenthalt in Atlanta war der Besuch des polnischen Soziologen Jan Gross (der mittlerweile als Historiker arbeitet). Da ich in Oxford dem Fachbereich Politik
angehörte, wurde ich in Emory der Soziologie zugeteilt, als Gastprofessor für Politische Soziologie. Der Dekan der Fakultät, der sich darum bemühte, das ziemlich bescheidene Niveau der Abteilung zu heben, nutzte die Gelegenheit, mich in die Berufungskommission für die Neubesetzung eines durch Emeritierung freigewordenen Lehrstuhls für Politische Soziologie zu setzen. Die meisten der in die engere Wahl gezogenen Bewerber waren geklonte Vertreter des in der amerikanischen Soziologie als quantitatives Modell bekannten Ansatzes aus dem Mittelwesten.
Und dann gab es da Gross. Jan war ein politischer Emigrant aus Polen, der während der antisemitischen Kampagne von 1968 zum Verlassen des Landes gezwungen war. Seine Promotion hatte er in Yale abgeschlossen, wo er seine erste akademische Stelle bekleidete. Ich erinnerte mich, sein Buch über das deutsche Regime in Polen während des Zweiten Weltkriegs gelesen zu haben, und dachte sofort: Der ist der Richtige. Es gelang mir, ihn auf die Berufungsliste zu bringen, neben drei angesehene, aber austauschbare Politische Soziologen. Also wurde er nach Atlanta eingeladen und hielt einen Vortrag, der seinen Zuhörern völlig unverständlich vorgekommen sein muss. Er sprach über Galizien, Wolhynien, Weißrussland, wobei er aus dem Material schöpfte, das dann die Basis für seine klassische Untersuchung über die sowjetische Annexion Ostpolens während des Krieges liefern sollte – eine Thematik, die im soziologischen Fachbereich der Emory Universität niemanden interessierte.
Wir aßen zusammen zu Abend und unterhielten uns über Solidarność, die Gewerkschaftsbewegung im kommunistischen Polen, die damals, im Dezember 1981, durch die Verhängung des Kriegsrechts gerade verboten worden war. Solidarność, eine echte Massenbewegung, der es gelungen war, sich Unterstützung von rechts und von links zu sichern, hatte einen Beitrag zur Wiedereingliederung Polens in den Westen geleistet. Wie viele andere aus der polnischen Generation von 1968 hatte Jan Kontakt zu Intellektuellenkreisen in Polen und war aktiv damit beschäftigt, der westlichen Öffentlichkeit die Vorgänge in Polen zu vermitteln. Ich fand den Mann und das Thema schlechthin faszinierend. An diesem Abend hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass mein Aufenthalt in Atlanta keine vergeudete Zeit war: Statt mich auf einem fernen Planeten gelandet zu sehen, fand ich mich wieder unter meinesgleichen.
Nachdem die Berufungskommission ordnungsgemäß (und gegen mein Minderheitenvotum) die Berufung eines der Klone vorgeschlagen hatte, ging ich, ohne den Lehrkörper zu informieren, zum Dekan: Sie können, erklärte ich ihm, mit diesem mittelmäßigen Soziologieinstitut so weitermachen; oder Sie berufen Jan Gross, einen echten europäischen Intellektuellen und herausragenden Gelehrten, einen Mann, der sich in der Soziologie auskennt, aber auch auf vielen anderen Gebieten, und er wird Ihr Institut zu Ansehen bringen. Der Dekan war kein Narr und berief Jan. Die Kollegen dort haben mir das nie verziehen.
Jans Frau, Irena Grudzińska Gross, war ihrerseits eine gestandene Wissenschaftlerin und lehrte Vergleichende Literaturwissenschaft. Irena und Jan hatten zwei kleine Kinder. Wie Jan hatte sich auch seine Frau 1968 in Warschau in der Studentenbewegung engagiert, und wie Jan hatte sie danach das Land verlassen. Während seiner Zeit in Emory etablierte sich Jan als eine führende Figur auf dem Gebiet der Osteuropastudien und als einer der bekanntesten Historiker für den osteuropäischen Raum. Später wechselte er an die New York University und wurde von dort nach Princeton berufen. Das Buch über die sowjetische Annexion Ostpolens, Revolution from Abroad3, das er in der Folge veröffentlichte, ragte aus der Wüste der Soviet Studies – einer Disziplin, deren Gegenstand sich ein paar Jahre später selbst zerstören sollte – als einsames Monument empor. In späteren Jahren brachte Jan unter den Titeln Neighbors4 und Fear5 zwei viel diskutierte Untersuchungen über das Schicksal der Juden im Polen der Kriegsjahre und der Nachkriegszeit heraus. Neighbors wurde auf Anhieb zu einem Klassiker und veränderte die polnische Diskussion über
Holocaust und Kollaboration radikal.
Vor allem dank Jan und Irena begannen mir Osteuropa und die Osteuropäer ein alternatives gesellschaftliches Leben zu bieten, das wiederum – und ganz im Einklang mit den dortigen Gepflogenheiten – eine Neuorientierung und Neugestaltung meiner geistigen Existenz mit sich brachte. […]
Jan, mit dem ich nach meiner Rückkehr nach Oxford in engem Kontakt blieb, meinte, ich solle mich auf andere Gedanken bringen und mir neue Freunde suchen. Er schlug mir vor, mit einigen seiner polnischen Freunde und Bekannten in Paris Verbindung aufzunehmen – zahlreiche polnische Exilanten von 1968 hatten sich, wie so viele vorher, dorthin gezogen gefühlt. Ich notierte mir brav ihre Namen: Wójciech Karpiński, Aleksander Smolar und Barbara Toruńczyk, Herausgeberin von Zeszyty Literackie, einer führenden polnischen Zeitschrift für Literaturkritik.
Ende des Oxforder Frühlingstrimesters 1985 machte ich Urlaub auf dem Kontinent, zuerst […] in Rom und dann auf der Rückfahrt in Paris. Da ich schon einmal dort war, beschloss ich kurzerhand, einen Besuch bei Barbara Toruńczyk – in der polnischen Koseform Basia genannt – zu machen. Sie lud mich in ihre chaotische Wohnung ein, wo ich ihr sechs Stunden lang zusah, wie sie die Zeszyty redigierte. Dann wandte sie sich mir zu und sagte: »Ich fahre jetzt mit ein paar Freunden zum Skilaufen in die Savoyer Alpen; wollen Sie mitkommen?« Ich war an dem Morgen gerade erst mit dem Zug aus Rom eingetroffen, aber nahm die Einladung an und reiste noch am Abend mit einem Trupp energiegeladener, skibegeisterter Polen, die ebenso abenteuerlustig wie mittellos waren, gen Süden.
Ich war Jahre lang nicht Ski gelaufen und hatte mich sowieso nie gut darauf verstanden. Die Saison neigte sich dem Ende zu, und die Pisten waren gefährlich: Der Schnee war stellenweise weggetaut und zwang uns, um Grasplacken und Felsbrocken herumzukurven. Den Skilift konnten wir nicht benutzen, wir mussten die Hänge rund um Briançon zu Fuß
hinaufsteigen. Ich schuftete schwer, teils aus schierer Verzweiflung, teils um Eindruck bei Basia zu schinden, mit der ich allein blieb, nachdem die anderen wieder nach Hause gefahren waren.
Barbara Toruńczyk ist eine ungewöhnliche und faszinierende Frau. Mit ihrem Mut und ihrer Begabung – die Polizei hatte sie als eine Anstifterin der polnischen Studentenrevolte der sechziger Jahre an den Pranger gestellt, und jetzt gab sie ganz allein die interessanteste Literaturzeitschrift Osteuropas heraus – brachte sie mich Polen noch näher. Wie auch Jan fühlte ich mich Basia zeitgenossenschaftlich eng verbunden: Ich wurde mir des geistigen Bandes bewusst, das über die politische Kluft hinweg unsere Generation verknüpfte.
Wie die meisten Westeuropäer meiner Generation hatte ich von dem, was damals hinter dem Eisernen Vorgang passierte, kaum etwas mitbekommen. Ich fuhr zwar nach Paris, aber nicht nach Polen, wo Studenten mit Tränengas traktiert, geschlagen, verhaftet und ausgewiesen wurden – und dies in solchen Scharen, dass dergleichen im Westen Entsetzen ausgelöst hätte. Ich war mir nur vage der Tatsache bewusst, dass im kommunistischen Polen die Regierenden der Bevölkerung versichert hatten, die Studentenbewegung werde von »Zionisten« angeführt, und dass polnische Bürger jüdischer Abkunft Reisedokumente bekamen, die ihnen erlaubten auszureisen, sie aber jeder Möglichkeit zur Rückkehr beraubten.
Ich war auch, wie ich gestehen muss, beschämt über meine mangelnde Kenntnis des Ostens Europas und wurde mir nur allzu klar darüber, wie sehr meine sechziger Jahre sich von denen unterschieden, die Jan, Basia und ihre Altersgenossen erlebt hatten. Tatsächlich hatte ich mir den unterhaltsamen und recht wohlfeilen Luxus geleistet, Zionist zu sein – just zu dem Zeitpunkt, als ihre Regierung sie (und Tausende andere) des »Zionismus« beschuldigte, um einen Keil zwischen sie und das Gros ihrer Landsleute zu treiben. Enttäuscht waren wir allesamt worden: Mir waren meine zionistischen Träume abhanden gekommen und ihnen die letzten Reste ihres Reformmarxismus. Aber während mich meine Illusionen nichts weiter als Lebenszeit gekostet hatten, zahlten meine polnischen Altersgenossen für die ihren einen hohen Preis – auf den Straßen, im Gefängnis und schließlich in der erzwungenen Emigration.
Im Laufe jener Jahre wechselte ich ganz allmählich in eine andere Welt über und richtete mich in einer anderen Zeitachse ein. Sie hatte vermutlich schon immer in mir verborgen gelegen, geprägt von einer Vergangenheit, deren ich mir bis dahin nur halb bewusst war – einer Vergangenheit, in der Osteuropa nicht bloß einen Ort unter anderen darstellte, einer Vergangenheit vielmehr, durch welche die osteuropäische Geschichte für mich zu einem unmittelbaren und höchst persönlichen Bezugsrahmen wurde.
Tatsächlich waren Jan, Irena, Basia und die anderen nicht einfach nur meine Zeitgenossen; hätte das Schicksal es gewollt, hätten wir den gleichen Geburtsort haben können. Schließlich stammte mein Großvater väterlicherseits aus Warschau. Die meisten Menschen aus seinem Bekanntenkreis – die alten Männer und Frauen meiner Kindheit – kamen ebenfalls von dort. Meine Erziehung unterschied sich einerseits markant von der meiner polnischen Altersgenossen und war doch gleichzeitig geprägt von wiederkehrenden gemeinsamen Bezügen und vergleichbaren Szenarien. Hier wie dort hatte es zum Reifeprozess meiner Generation gehört, dass sie etwa zur gleichen Zeit die Fesseln des marxistischen Dogmas abstreifte – so verschieden die Gründe und die Umstände auch sein mochten. Keine Frage, die Geschichte hatte denen im Osten zu einer privilegierten Erkenntnis verholfen: Der für meine polnischen Freunde und für mich so wichtige Leszek Kolakowski war es, der um diese Zeit die berühmt gewordene Bemerkung machte, die Reform des Sozialismus gleiche dem Braten von Schneebällen. In Westeuropa brauchten wir etwas länger, bis uns ein Licht aufging – sagen wir, eine Generation.
Basia Toruńczyk gab sich große Mühe, mir die Bedeutung der verloren gegangenen polnischen Kultur, Literatur und Gedankenwelt zu vermitteln – verloren für den Westen, verloren aber dank der zerstörerischen Auswirkungen der sowjetischen Vorherrschaft auch für die Polen selbst. Dieser Punkt war für sie von großer Wichtigkeit, und die Widrigkeiten, die sich aus der Tatsache ergaben, dass wir uns einer dritten Sprache bedienen mussten (wir kommunizierten auf Französisch), erschwerten ihr die Aufgabe zusätzlich. Aber eigentlich ließ sich von uns Westlern ja auch gar nicht erwarten, dass wir imstande waren, ins Allerheiligste vorzudringen. […]
On rozumie – il comprend:Solidarność6