WESTEND
Ebook Edition
WIE DER REICHTUM
IN DIE WELT KAM:
DIE GESCHICHTE VON
WACHSTUM, GELD UND KRISEN
WESTEND
Noch einmal für Hui und Tui
Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.westendverlag.de
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
ISBN 978-3-86489-044-4
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2013
Satz: Publikations Atelier, Dreieich
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
Einleitung: Der Sieg des Kapitals
Teil I
Der Aufstieg des Kapitals
1 Wunder Wachstum: Als der Reichtum in die Welt kam
2 Schon die antiken Römer liebten das Geld – wurden aber keine Kapitalisten
3 Ein Zufall? Warum das chinesische Kaiserreich kein Wachstum erlebte
4 Ausgerechnet in England: Der Kapitalismus entstand fast ohne Kapital
5 Prinzip Plagiat: die Aufholjagd der Deutschen
Teil II
Drei Irrtümer über das Kapital
6 Kapitalismus ist nicht Marktwirtschaft
7 Kapitalismus ist nicht das Gegenteil von Staat
8 Globalisierung ist nicht neu
Teil III
Kapital versus Geld
9 Geld ist ein Rätsel – und nicht das Gleiche wie Kapital
10 Gold? Nein, danke
11 Schulden und Zinsen? Ja, bitte
12 Ein Lob auf die Inflation: Warum Geldentwertung sein muss
13 Geld gebiert Geld: Die Menschen wussten schon immer, wie man spekuliert
Teil IV
Die Krisen des Kapitals
14 Nach der Krise ist vor der Krise: Wie der moderne Kapitalismus ständig in Schwierigkeiten gerät
15 Das Ende des Kapitalismus schien nah: die Welt-wirtschaftskrise ab 1929
16 Der Scheinsieg der Neoliberalen: Was ist ab 1973 passiert?
17 Die Finanzkrise ab 2007: Die Pleite einer Bank war keine gute Idee
18 Eine Krise ohne Vorbild: die Eurokrise
19 Geld kann man nicht essen: Wie die Deutschen ihr Vermögen retten können
Ausblick: Der Untergang des Kapitals
Dank
Anmerkungen
Literatur
Die Szene war schon seltsam: 297 Tage campierten Occupy-Aktivisten vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt und ließen sich nicht entmutigen. Sie trotzten dem Regen, der Kälte, der Polizei und dem guten Zureden von Mitarbeitern der Bank. Entschlossen harrten sie auf dem nassen Rasen aus – nur wozu? Die Occupy-Aktivisten erhoben keine einzige konkrete Forderung. Zwar hatten sie Plakate gemalt, auf denen »Banken in die Schranken« oder »Wir sind 99 Prozent« zu lesen war. Aber jenseits dieser allgemeinen Anklagen hatten sie keine Reformideen. Sie hatten nur das ungute Gefühl, dass unkontrollierbare Finanzmächte die Welt regieren.1
Die Occupy-Aktivsten sind nicht allein mit ihrer Ratlosigkeit, was sich konkret ändern sollte. Auch die meisten Wähler fühlen sich überfordert. Wie es der Schriftsteller Botho Strauß ausgedrückt hat: »Auf dem Gebiet, von dem sein Wohlergehen am meisten abhängt, ist das Volk ein Stümper.«2
Gleichzeitig ahnt aber jeder, dass die Finanzwelt auf den nächsten Crash zusteuert. In nur zehn Jahren hat Deutschland drei schwere Krisen erlebt: 2001 platzte die Internetblase, 2007 rollte die Finanzkrise aus den USA heran, und seit 2010 ist die Eurokrise akut. Dies ist ein Novum. Noch nie ist es in der Geschichte Europas vorgekommen, dass sich drei Finanzkrisen in einem einzigen Jahrzehnt entluden. Diese Krisen waren extrem teuer. Allein zwischen 2006 und 2012 haben deutsche Anleger im Ausland rund 600 Milliarden Euro verloren.3
Zudem drohen weitere Crashs. Seit 30 Jahren pumpt sich eine »Superblase« auf, wie es Hedgefonds-Manager George Soros genannt hat, und noch immer ist diese »Superblase« zum Zerreißen gespannt. Die drei vergangenen Krisen haben zwar kleine Löcher in die Blase gestochen, aber die heiße Finanzluft ist noch lange nicht abgesaugt.
Die Bundesbürger sind ratlos, aber nicht realitätsblind. Viele kaufen hektisch ein Haus oder eine Wohnung, um in scheinbar sichere »Sachwerte« zu investieren. Seit 2010 sind die Immobilienpreise in Deutschland um 15 Prozent gestiegen.4 Dies ist der Durchschnittswert für die gesamte Bundesrepublik; in einzelnen Städten wie München, Frankfurt, Hamburg oder Berlin ist der Preisanstieg noch sehr viel steiler – und ein Ende nicht abzusehen.
Doch die Flucht in die Sachwerte wird nichts nutzen: Es gibt keine individuelle Lösung, die vor einer Finanzkrise schützt. Eine Rezession trifft jeden – Arbeitnehmer genauso wie Aktionäre, Hausbesitzer oder Riester-Sparer. Um beim Beispiel der Häuser zu bleiben: Immobilien haben keinen absoluten Wert, sondern in einer Krise brechen die Preise wieder ein, und die einstigen Wertzuwächse verschwinden. Ein Teil des Vermögens wäre vernichtet, das man so dringend retten wollte.
Deutsche sorgen generell gern vor. Auf 80 Millionen Bundesbürger kommen 93,2 Millionen Lebensversicherungen.5 Rein statistisch gesehen haben also selbst Babys schon einen Vertrag, der fürs Alter schützen soll. Gegen Vorsorge ist nichts einzuwenden, aber diese Vorsorge kann ihren Wert nur behalten, wenn es nicht zu weiteren Finanzkrisen kommt.
Bisher haben die Deutschen mehr oder minder den »Experten« vertraut, dass sie die Wirtschaft steuern. Doch drei Finanzkrisen in nur zehn Jahren zeigen, dass auf diese angeblichen Experten kein Verlass ist. Die Wähler können das Risiko nicht mehr eingehen, das ökonomische Denken anderen zu überlassen. Es ist sicherer, sich selber einzumischen.
Dieses Buch will daher unterhaltsam und anschaulich erklären, wie der Kapitalismus funktioniert. Es spannt sich von den Römern in der Antike bis zur Eurokrise, beginnt also nicht mit den aktuellen Finanzturbulenzen. Denn die Krisen lassen sich nur richtig deuten, wenn man den Normalbetrieb des Kapitalismus kennt – und nicht jeden Mythos glaubt, der über ihn verbreitet wird.
Es ist wie in der Medizin: Ein Arzt kann Krankheiten nur erkennen, wenn er weiß, wie ein gesunder Körper aussieht. Auch bei Finanzkrisen hilft es überhaupt nichts, sich allein auf die Spekulationsblasen zu konzentrieren und ihre pathologischen Details aufzuzählen – das verwirrt nur. Es ist viel einfacher, die Krisen zu verstehen, wenn vorher klar ist, wie ein krisenfreier Kapitalismus funktioniert.
Die Wortwahl mag zunächst erstaunen, gilt es doch als »links« oder gar »marxistisch«, den Begriff Kapitalismus zu verwenden. Diese Phobie ist jedoch typisch deutsch. In den USA wird der Ausdruck Kapitalismus völlig selbstverständlich verwendet, der im übrigen auch gar nicht von Karl Marx stammt.6
Der Begriff Kapitalismus hat den Vorteil, dass er präzise beschreibt, was die heutige Wirtschaftsform auszeichnet: Es geht um den Einsatz von Kapital mit dem Ziel, hinterher noch mehr Kapital zu besitzen, also einen Gewinn zu erzielen. Es handelt sich um einen Prozess, der exponentielles Wachstum erzeugt.7
Genau dieser zentrale Zusammenhang geht bei dem Begriff Marktwirtschaft verloren, der in Deutschland so beliebt ist. Auf Märkten wird mit Äquivalenten gehandelt. Doch wie soll aus dem Tausch gleichwertiger Güter ein Prozess entstehen, der zu permanentem Wachstum führt? Dies bleibt unerklärlich.
Der Titel Der Sieg des Kapitals ist natürlich doppeldeutig. Er beschreibt sowohl die Wirtschaftsform als auch die vorherrschenden Machtverhältnisse. Occupy hatte ja nicht unrecht mit dem Verdacht, dass das oberste Prozent der Bevölkerung den großen Rest regiert. An diesem Zustand wird sich jedoch nichts ändern, solange die unteren 99 Prozent nicht wissen, wie der Kapitalismus funktioniert.
Aber was ist eigentlich dieses »Kapital«, von dem hier so selbstverständlich die Rede ist? Es ist nämlich nicht das Gleiche wie Geld, obwohl es im Alltag oft synonym verwendet wird. Geld gab es schon immer und ist mindestens 4 000 Jahre alt: Die ersten Texte der Menschheit stammen aus Mesopotamien und wurden nicht etwa verfasst, um Literatur zu überliefern – sondern um Schulden zu verzeichnen.
Während das Geld uralt ist, ist das Kapital noch jung. Der moderne Kapitalismus ist etwa 1760 im Nordwesten Englands entstanden, als Textilfabrikanten auf die Idee kamen, Webstühle und Spinnereien zu mechanisieren. Heute wirken diese ersten Maschinen sehr klein und zierlich, aber mit ihnen begann eine völlig neue Epoche. Erstmals in der Geschichte wurde die menschliche Arbeitskraft durch Technik ersetzt, und damit kam der Reichtum in die Welt. Seit Jahrtausenden hatte die Wirtschaft weitgehend stagniert, aber nun wuchs sie exponentiell. Das »Kapital« im Kapitalismus ist also nicht das Geld, sondern es sind die effizienten Produktionsprozesse und der technische Fortschritt.
Es war eine Revolution, nicht ein schlichtes Mehr vom Gleichen. Der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter hat für diesen fundamentalen Wandel ein sehr knappes Bild gefunden: »Man kann beliebig viele Postkutschen aneinanderreihen – und trotzdem wird daraus niemals eine Eisenbahn.«8
Jahrtausende lang, von der Jungsteinzeit bis zum 18. Jahrhundert, lebten die Menschen ähnlich: Die meisten arbeiteten auf dem Land, aßen vor allem Getreide oder Hülsenfrüchte – und viele verdienten gerade genug, um nicht zu sterben. Doch dann setzte plötzlich die Industrialisierung ein, die einen unerwarteten Wohlstand ermöglichte.
Der moderne Kapitalismus ist eindeutig ein historisches Phänomen, aber in der ökonomischen Theorie wird er oft wie ein Naturgesetz behandelt und mit zahllosen mathematischen Formeln beschrieben. Es wird der Eindruck erweckt, als hätte die Menschheit zwingend zum Kapitalismus finden müssen. Dies ist eine Fiktion.
Der moderne Kapitalismus ist keine Variante der Physik, sondern eher zufällig entstanden. Er ist eine Kulturleistung des Menschen und wahrscheinlich seine erstaunlichste Erfindung. Denn der Kapitalismus ist das erste dynamische System, das der Mensch je erschaffen hat. Seitdem das Wirtschaftswachstum in der Welt ist, ist es nicht mehr zu bremsen. Zwar kommt es regelmäßig zu Krisen, aber die technologische Entwicklung geht unaufhaltsam weiter – und ist mit dem Internet noch lange nicht abgeschlossen.
Da der Kapitalismus historisch entstanden ist, lässt er sich nur verstehen, wenn man seine Geschichte kennt. Es ist befremdlich, dass viele Ökonomen die Wirtschaftsgeschichte komplett ignorieren – ist sie doch die wichtigste Datenquelle, die den Volkswirten zur Verfügung steht. Es bringt wenig, mathematische Gleichungen zu konstruieren und mit Variablen zu füttern, wenn man sie nicht an der Realität überprüft. Der berühmte Wirtschaftshistoriker Charles P. Kindleberger merkte einmal bissig an: »Die heutigen Wirtschaftstheorien gehen meist deduktiv vor und konstruieren mathematische Modelle von Schönheit und Eleganz – aber das menschliche Verhalten bilden sie häufig noch nicht einmal ansatzweise ab.«9
Dabei kann die Geschichte wie eine Versuchsanordnung wirken, mit der sich richtige von falschen Theorien unterscheiden lassen. Nur ein Beispiel: Die Industrialisierung setzte, wie schon erwähnt, in England ein. Aber warum? Technologisch waren die Briten nämlich nicht besonders avanciert und wussten anfangs auch nicht mehr als die antiken Römer. Die Dampfmaschine beruhte auf Prinzipien, die seit Archimedes bekannt waren. Was also war in England neu und anders? Die Antwort passt nicht ins neoliberale Weltbild: Die britischen Löhne waren damals die höchsten der Welt, weswegen es sich erstmals rentierte, Menschen durch Maschinen zu ersetzen.
Die britische Erfahrung ist noch immer aktuell: Der Kapitalismus entwickelt sich nur stabil, solange die Reallöhne steigen. Viele Unternehmer wollen es nicht glauben, aber hohe – nicht niedrige – Gehälter fördern das Wachstum und machen die Firmen reich.
Anders formuliert: Es gehört zu den Wundern des Kapitalismus, dass er sich durchgesetzt hat, obwohl die meisten Kapitalisten nicht verstehen, wie er funktioniert.
Allerdings täuschen sich nicht nur Neoliberale. Auch linke Kritiker missverstehen den Kapitalismus häufig, den sie reformieren oder gar abschaffen wollen. So glauben viele Occupy-Aktivisten, dass der Zins das Wachstum treiben würde, weswegen sie alternative Geldsysteme erfinden.
Wieder würde ein Blick in die Geschichte helfen: Der Zins hat noch nie Wachstum ausgelöst. Bereits die Mesopotamier wussten, wie man den Zinseszins ausrechnet und haben ihn auch eingetrieben – trotzdem stagnierte ihre Wirtschaft. Geld allein ist machtlos und erzeugt keinen Wohlstand.
Es ist ironisch, aber eigentlich bitter: Letztlich sind viele Kapitalismuskritiker ihren Lieblingsfeinden, den Investmentbankern, überraschend nah. Auch die Finanzbranche glaubt ja, dass ihre windigen Geldprodukte echten Reichtum schaffen würden, und verlangt daher hohe Boni. So unterschiedlich Banker und Occupy-Aktivisten sind: Gemeinsam mystifizieren sie das Geld und schreiben ihm wundersame Kräfte zu.
Die Irrtümer der Neoliberalen und ihrer linken Kritiker sind nicht harmlos, weil der Kapitalismus ein sehr volatiles System ist, das zu Krisen neigt und daher politisch gesteuert werden muss. Es ist extrem gefährlich, wenn völlig falsche Ideen zu ebenso falschen Maßnahmen führen.
Dieses Buch will daher unter anderem erklären, warum:
wir nicht in einer »Marktwirtschaft« leben,
die Großkonzerne herrschen,
die Globalisierung keine Gefahr darstellt,
Geld noch nie knapp war,
keine Inflation droht,
Derivate uralt sind,
die Große Depression ab 1929 immer noch lehrreich ist,
die Wall Street zu mächtig wurde
und die Eurokrise eigentlich leicht zu lösen wäre.
Außerdem macht die Geschichte des Kapitalismus einfach Spaß. Der Mensch hat sich schon immer für Gold, Geld, Reichtum und Macht interessiert. Wirtschaft ist nicht langweilig, wie viele glauben, sondern pralles Leben.
Jeder Europäer trägt den Kapitalismus in sich. Nicht nur die Wirtschaft wächst, sondern auch die Körpergröße der einzelnen Menschen nimmt zu. Heute werden deutsche Männer im Mittel 1,78 Meter groß; deutsche Frauen 1,65 Meter.1 Damit werden sie etwa zehn Zentimeter größer als ihre Vorfahren. Dieser Wachstumsschub setzte plötzlich ein – und begann ab etwa 1880.2 Vorher hatte sich über Jahrtausende bei der Körperlänge fast nichts getan, wenn man von leichten Schwankungen absieht. Die Germanen in der Antike waren ungefähr genauso groß wie die Holsteiner oder Hessen im 18. Jahrhundert.
Noch dramatischer hat die Lebenserwartung zugenommen. Jungen, die jetzt zur Welt kommen, werden wahrscheinlich 77,5 Jahre alt. Mädchen dürfen sogar ein Leben von 82,6 Jahren erwarten.3 Im 18. Jahrhundert hingegen starben die Menschen im Durchschnitt nach nur 28 Jahren, denn 40 Prozent aller Neugeborenen vollendeten noch nicht einmal ihr erstes Lebensjahr.4 Meist waren es Magenund Darmkrankheiten, die sie dahinrafften. Aber auch Infektionskrankheiten wie Diphterie, Scharlach, Masern, Tuberkulose oder Pocken stellten eine tödliche Bedrohung dar. Umgekehrt wurden nur wenige Menschen alt. Im Jahr 1755 erreichten von 1 000 Geborenen in Berlin ganze 74 Menschen den 70. Geburtstag. In Leipzig waren es 105 und in Wien 71.5
Dass wir so genau wissen, in welchem Alter die Deutschen im Jahr 1755 starben, verdanken wir übrigens einem einzigen Mann: Johann Peter Süßmilch. Eigentlich war er Pfarrer in Berlin, doch er führte nebenher eine neue Disziplin in Deutschland ein: die Demographie. Akribisch sammelte er Sterbedaten aus Kirchenbüchern seiner Zeit und stellte daraus Tabellen zusammen. Politische Absichten verfolgte Süßmilch nicht. Ihm wäre der Gedanke völlig fremd gewesen, dass die Lebenserwartung von den sozialen und wirtschaftlichen Umständen abhängt. Stattdessen hielt er die Lebensdauer für gottgegeben, wie schon der Titel seines bahnbrechenden Werkes zeigt. Es hieß etwas umständlich: Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen.6
Doch spätestens ab Ende des 19. Jahrhunderts war unverkennbar, dass die Lebensdauer nicht allein biologisch vorgegeben ist, sondern vom Menschen beeinflusst werden kann. Seit der deutschen Reichsgründung 1871 stehen kontinuierlich demographische Daten zur Verfügung, und seither hat sich die Lebenserwartung mehr als verdoppelt. Oder wie man es auch rechnen kann: Pro Jahr nahm die Lebenserwartung um drei Monate zu. Es gibt allerdings auch Konstanten, die nachdenklich machen. Damals wie heute sterben die Armen deutlich früher, während die Reichen am längsten leben.7
Die Bevölkerungszahl explodierte, was ebenfalls neu war. Zwischen 1800 und 1914 stieg die Zahl der Deutschen von 24,5 auf 65 Millionen.8 Weitere 5,1 Millionen wanderten aus, vor allem in die USA.9 Zwar waren viele Menschen weiterhin arm, aber erstmals konnten sie verlässlich ernährt werden. Bis dahin hatte die deutsche Bevölkerungsentwicklung an eine Ziehharmonika erinnert: In guten Jahren expandierte sie, nach Missernten und Hungersnöten kontrahierte sie wieder. Doch seit der Industrialisierung vermehrten sich die Deutschen rapide, weil die Wirtschaft noch rapider wuchs.
Innerhalb weniger Jahrzehnte vervielfachte sich die Wirtschaftsleistung. 1850 lag das deutsche Nationaleinkommen bei 9,4 Milliarden Mark, 1913 schon bei 49 Milliarden Mark. Dies entsprach einer Wachstumsrate von 1,4 Prozent pro Kopf und Jahr, was heute wenig erscheinen mag und schon fast als Stagnation gilt. Doch damals war dauerhaftes Wachstum völlig neu – und eine absolute Sensation.10
Die Zeitgenossen selbst nahmen sofort wahr, dass sich ihr Leben dramatisch änderte. Kein Dokument schildert diesen Wandel so sprachgewaltig wie das Kommunistische Manifest, das Karl Marx und Friedrich Engels 1848 veröffentlichten. Hymnisch beschreiben die beiden den Kapitalismus und die Leistungen der neuen Bourgeoisie: »Erst sie hat bewiesen, was die Tätigkeit der Menschen zustande bringen kann. Sie hat ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen.«
Marx und Engels waren lebenslang fasziniert von den technischen Erfindungen ihrer Zeit, und penibel wurden die »Wunderwerke« aufzählt: »Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschifffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen – welches frühere Jahrhundert ahnte, dass solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten.«
Es wäre also ein Missverständnis zu glauben, dass Marx und Engels den Kapitalismus abgelehnt hätten. Sie begrüßten das entfesselte Wachstum. Der Wohlstand sollte kräftig zunehmen, damit es anschließend bei der kommunistischen Revolution möglichst viel zu verteilen gab.11
Bis ins Detail hat der Kapitalismus das Leben der Menschen verändert, wofür der konservative Ökonom Joseph Schumpeter ein anschauliches Bild gefunden hat: »Königin Elisabeth I. besaß bereits Seidenstrümpfe. Die kapitalistische Leistung besteht nicht darin, Königinnen mit noch mehr Seidenstrümpfen zu versorgen, sondern dass sie auch für Fabrikarbeiterinnen erschwinglich sind.«12
Selbst dieses Bild ist noch schief. Wir leben nicht wie frühere Könige – wir leben weitaus besser als sie. Die Schlösser waren damals zwar prächtig, aber es fehlte ihnen an Toiletten, und sie waren schlecht beheizt. Reisen war ebenso ungemütlich: Als die österreichische Prinzessin Marie-Antoinette 1770 nach Frankreich verheiratet wurde, war ihre Brautkutsche 24 Tage unterwegs, um von Wien nach Paris zu gelangen. Heute benötigt der Nachtzug für die gleiche Strecke nur zwölf Stunden und ist besser gefedert als jedes königliche Gefährt. Die sozialen Unterschiede sind allerdings geblieben. Zwar kann heute jede Frau Seidenstrümpfe tragen, aber der Abstand zwischen Königin und Putzfrau ist nicht kleiner geworden.
Es ist ein Wunder, dass es exponentielles Wachstum gibt, denn über Jahrtausende stagnierte die Wirtschaftsleistung pro Kopf. In diesem Buch wird es nur eine einzige Graphik geben, aber diese eine Graphik zeigt schon alles:
Das frühe Mittelalter war eine chaotische Zeit, in der das durchschnittliche Einkommen pro Kopf bis zum Jahr 1000 sank. Danach wurde es zwar langsam besser, aber immer noch auf niedrigstem Niveau. Bis dann plötzlich, ab dem frühen 19. Jahrhundert, die Kurve senkrecht nach oben steigt. Heute ist jeder Westeuropäer ungefähr 20-mal reicher als seine Ur-Ur-Ur-Großeltern. Dieser neue Wohlstand hat eindeutig mit der Industrialisierung zu tun, und trotzdem ist dies allein noch keine Erklärung, denn daraus folgt ja nur die nächste Frage: Warum begann die Industrialisierung erst so spät – und nicht etwa zur Zeit der antiken Römer, die bereits ebenfalls in einer Massengesellschaft lebten?
Die Römer waren das große Vorbild für ihre Nachfahren. Noch im 17. Jahrhundert glaubten viele Europäer, dass es nicht möglich sein würde, wieder an die Leistungen der Antike heranzureichen – oder sie gar zu überflügeln. In fast allen Bereichen waren die Römer und Griechen stilbildend: Ihre Architektur wurde immer wieder kopiert und ihre Philosophie genauestens rezipiert. Größte Bewunderung erregte das römische Imperium, das sich zu seinen Glanzzeiten von Persien im Osten bis nach Spanien im Westen, von der Sahara im Süden und bis nach Yorkshire im Norden erstreckt hatte. Nie wieder erreichte ein europäisches Reich eine solche Ausdehnung, und entsprechend emsig wurde die Militär- und Verwaltungsgeschichte Roms studiert. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war Latein Pflichtfach an den Gymnasien und wurden alle Schüler mit Cäsars De bello Gallico traktiert.
Selbst Asterix und Obelix zeugen von dieser Bewunderung für die Römer. Zwar siegen die beiden Gallier stets über die tumben Legionäre, aber die Geschichte von dem »kleinen gallischen Dorf« funktioniert ja nur, weil jeder weiß, wie mächtig die Römer in Wirklichkeit waren.
Warum gelang den Römern nicht der Sprung in den Kapitalismus, obwohl sie doch auf fast allen Gebieten so erfolgreich waren? Diese Frage hat schon die Historiker des 19. Jahrhunderts beschäftigt, kaum dass sie sahen, welche Wucht die Industrialisierung entfaltete. Im Rückblick musste es überraschen, dass nicht bereits die antiken Römer exponentielles Wachstum erzeugt hatten.
An potentiellen Kunden für einen römischen Kapitalismus hätte es jedenfalls nicht gefehlt. In Rom ballten sich mehr als eine Million Menschen; Alexandria und Antiochia hatten jeweils rund 300 000 Einwohner. Wie ihre Kollegen im 19. Jahrhundert kamen schon die römischen Architekten auf die Idee, dass diese Menschenmassen nur unterzubringen waren, wenn man sie aufeinanderstapelte. Also wurden in Rom siebenstöckige Mietskasernen gebaut, die »insulae«.
Das Römische Reich war bereits eine »Marktwirtschaft«, wenn man darunter versteht, dass überall Märkte existierten und schwunghafter Handel betrieben wurde. Jede römische Stadt verfügte über die nötige Infrastruktur, überall wurden Speicher und Markthallen errichtet. Viele Kaufleute und Händler waren so reich, dass sie sich große Grabmäler errichten konnten, die noch heute von ihrem Vermögen künden.13 Kapitalmangel erklärt also nicht, warum die Römer nicht zu Kapitalisten wurden.
Auch das nötige Wissen besaßen sie. So galt reichsweit ein kodifiziertes Privatrecht, das uns bis heute prägt, weil es in das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) von 1900 eingegangen ist. Zudem existierte eine differenzierte Arbeitsteilung: Das Lateinische verzeichnet über 500 Ausdrücke für verschiedene Gewerbe,14 und in den diversen Manufakturen für Keramik, Baustoffe, Textilien oder Glas wurde in mehreren Arbeitsschritten serielle Massenware hergestellt. Berühmt ist etwa die »terra sigillata«, eine rote Keramik, die aus Arez zo kam. Sie wurde in solchen Mengen produziert, dass sie in jedes römische Kaff vordrang und heute selbst kleinste Provinzmuseen in Süddeutschland ziert.
Vor allem ein Detail hat die Technikhistoriker immer wieder erstaunt: Die Römer kannten bereits die Dampfkraft, ohne die im 19. Jahrhundert die Industrialisierung nicht denkbar gewesen wäre. Aber anders als ihre Nachfahren wussten die Römer mit dieser Energiequelle nichts anzufangen – und nutzten sie höchstens als Spielzeug.15
Auch eine recht leistungsfähige Geldwirtschaft existierte in der Antike. Es gab Banken, die Geldeinlagen annahmen, Hypothekarkredite gewährten und Zinsen berechneten. Selbst der bargeldlose Zahlungsverkehr war bekannt. Bereits im dritten Jahrhundert v. Chr. wurde im ptolemäischen Ägypten mit Überweisungen gezahlt. Auch die Römer kamen später darauf, dass es sich anbot, staatliche Ausgaben und Einnahmen in den Provinzen zu saldieren und bargeldlos abzuwickeln, um die Menge der Münzen zu reduzieren, die man über Land transportieren musste.16
Bessere Menschen waren die Römer auch nicht. Sie waren durchaus darauf aus, ihr Geld zu mehren. In den Ruinen von Pompeji fanden sich Graffiti, die so sinnige Sprüche wie »salve lucrum« (es lebe der Gewinn) oder »lucrum gaudium« (Gewinn macht Freude) verewigt haben.17 Aber Gewinnstreben allein erzeugt offenbar noch keinen Kapitalismus – was also war anders in Rom?
Die bisher beste Antwort stammt von Moses I. Finley, einem der wichtigsten Althistoriker des 20. Jahrhunderts. Er verstand es virtuos, das Schweigen der antiken Quellen zu deuten. So fiel ihm als erstem auf, dass in den alten Texten niemals von einem Investitionskredit die Rede ist. Griechen und Römern war das Konzept völlig fremd, dass man ein Darlehen aufnimmt, um mit diesem Geld die Effizienz der Produktion zu erhöhen. Den reichen Senatoren kam es nicht in den Sinn, ihre Einkommen zu steigern, indem sie gezielt die Kosten auf ihren Landgütern senkten.18
Erhellend ist ein Brief, der von Plinius dem Jüngeren erhalten ist. Plinius lebte von 61/62 bis 113/115 n. Chr. und stammte aus einem der wichtigsten Geschlechter Roms.19 In diesem Schreiben berichtet er über ein Landgut in Umbrien, das zu einem Schnäppchenpreis zu haben wäre, weil es durch schlechtes Management heruntergewirtschaftet sei. Plinius fragt sich nun, ob er das Gut kaufen soll, das direkt neben seinen eigenen Ländereien liegt. Auch moderne Landwirte neigen dazu, ihre Flächen zu arrondieren. Wer zusammenhängende Äcker besitzt, kann Maschinen und Arbeitskräfte besser einsetzen. Doch genau dieser Gedanke fehlt bei Plinius völlig. Stattdessen geht er eher ästhetisch vor und preist vor allem die »Schönheit« (pulchritudo), die sich daraus ergeben würde, beide Güter zu vereinen. Auch praktische Vorzüge sieht er: So könnte er beide Ländereien an einem Tag besuchen und müsste nur einen Aufseher beschäftigen. Zudem bräuchte er nur ein Herrenhaus für beide Güter, das den Ansprüchen eines Senators genügt. Ausdrücklich ist erwähnt, dass eine Jagdausrüstung ebenfalls reichen würde und er keine zweite bräuchte. Effizienz ist Plinius also nicht fremd, doch will er beim Konsum und seinen Freizeitvergnügen sparen. Über die Produktion auf seinen Latifundien denkt er nicht nach.
Das Gut sollte stolze drei Millionen Sesterzen kosten, aber Plinius sah kein Problem, diese Summe aufzubringen, wie er in seinem Brief versichert. »Es wird nicht schwierig sein zu leihen. Außerdem kann ich immer Geld von meiner Schwiegermutter haben, deren Schatulle ich genauso freigiebig nutzen kann wie meine eigene.«20 Es fehlte also weder an Kapital noch an Krediten.
Aus der Antike sind viele Darlehensverträge überliefert, doch entweder finanzierten sie den Fernhandel oder es wurden Konsumentenkredite vergeben. Man erwarb Villen wie Plinius, kaufte sich politische Ämter oder stattete die Töchter mit einer Mitgift aus. Auch Notkredite gab es, vor allem für die Kleinbauern, wenn etwa die Ernte ausgefallen war und die Zeit bis zum nächsten Sommer überbrückt werden musste. Aber es fehlte der Unternehmenskredit – eil niemand wie ein moderner Unternehmer dachte.21 Griechen und Römer wollten zwar Gewinn machen, doch diese Profite erwirtschafteten sie sehr traditionell: Sie beuteten ihre Sklaven aus oder beteiligten sich am lukrativen Fernhandel.
Über diesen Drang zum schnellen Geld machten sich schon römische Autoren lustig. In seinem Gastmahl des Trimalchio schildert der Satiriker Petronius, wie dieser Trimalchio zu seinem immensen Vermögen gekommen war, obwohl er einst als freigelassener Sklave begonnen hatte. Prahlend erläutert Trimalchio seinen Gästen, »mit einer einzigen Fahrt habe ich zehn Millionen zusammengehamstert«. Dabei waren die Handelsgüter aus antiker Sicht noch nicht einmal spektakulär. Trimalchio hatte nur »Wein, Speck, Bohnen, Parfüm, Sklavenware« eingekauft und später weiterverhökert.22
Fast alle Kulturen kannten den gewinnträchtigen Fernhandel, bei dem die Preisdifferenz zwischen verschiedenen Orten ausgenutzt wird. Doch damit entsteht noch kein dauerhaftes Wachstum. Die Wirtschaftsleistung kann nur stetig zunehmen, wenn die Produktivität der Arbeitskraft steigt. Daher muss man in technische Verbesserungen investieren, wenn man Wachstum will. Doch einen derartigen Aufwand hatte Roms kleine Oberschicht nicht nötig. Sie war so reich, dass sie ihren Reichtum nicht noch weiter steigern musste. Ihre immensen Latifundien warfen immer ein fürstliches Einkommen ab, selbst wenn die Güter schlecht bewirtschaftet wurden.
Zudem sahen die reichen Römer ihre Güter nur selten. Sie verstanden sich nicht als Landwirte, sondern führten ein Luxusleben in der Stadt und reisten nur gelegentlich aufs Land, um ihre Aufseher zu kontrollieren. Ihre Hauptsorge war, dass die Angestellten nicht ehrlich sein und einen Teil der Einkünfte in die eigene Tasche abzweigen könnten. »Dies ist die Sicht eines Polizisten, nicht eines Unternehmers«, kommentiert Finley.23
Während also die Reichen zu reich waren, um in eine bessere Technik zu investieren – war der große Rest zu arm. Die meisten Bauern hatten so wenig Land, dass es noch nicht einmal reichte, um die Familie zu ernähren. Sie mussten sich als Saisonarbeiter bei den benachbarten Großgrundbesitzern verdingen, die ihnen nur Niedrigstlöhne zahlten. Und damit schloss sich der Kreis. Die antiken Römer und Griechen wurden nicht zu Kapitalisten, weil die Arbeitskraft zu billig war.
Seit der Antike war den Europäern schmerzlich bewusst, dass ihre Wirtschaft rückständig war und dass sie nicht mit den Asiaten konkurrieren konnten. Inder und Chinesen produzierten Luxusgüter wie Seide, Juwelen und Gewürze, nach denen sich die europäische Oberschicht sehnte. Umgekehrt hatten die Europäer jedoch nur wenig zu bieten. Römisches Glas wurde zwar auch im chinesischen Reich geschätzt, aber letztlich waren Chinesen und Inder so überlegen, dass sie im Austausch meist nur ein einziges Produkt akzeptierten: Silber. Statt europäischer Waren wollten sie – Geld.
Bereits die antiken Römer sahen mit Sorge, dass große Teile ihrer Silbermünzen gen Osten verschwanden und von dort nie wieder zurückkehrten. So klagte Kaiser Tiberius darüber, dass durch die ständigen Importe von Luxusgütern das römische Geld »zu fremden und gar feindlichen Völkern« abwandere.24 Es gab auch schon erste Versuche, den Verlust an Edelmetallen zu quantifizieren. Der römische Gelehrte Plinius der Ältere berichtet: »Niedrig geschätzt, nehmen Indien, die Serer und die arabische Halbinsel jährlich 100 Millionen Sesterzen durch unser Reich ein: So viel kosten uns unser Luxus und unsere Frauen.«25 Wobei Plinius mit den »Serern« die Chinesen meinte.
Nicht nur in der Antike waren die Chinesen überlegen, ihr Kaiserreich galt 2 000 Jahre lang als das mächtigste Reich der Welt. Erst ab 1700 wurde es von den Europäern ökonomisch überholt – und bald darauf politisch zerstört. Wie bei den Römern stellt sich also auch bei den Chinesen die Frage, warum sie nicht mit der Industrialisierung begannen. Um kurz vorzugreifen: Es könnte sein, dass China nicht zum Wachstum fand, gerade weil es so dominant war.
Diese Dominanz war den Europäern auch im Mittelalter sehr bewusst. Sie wollten China unbedingt kennenlernen, aber leider war der direkte Landweg meist verschlossen, weil die islamischen Staaten die Durchreise blockierten. Nur im 13. Jahrhundert öffneten sich plötzlich die Wege gen Osten, als die Mongolen erst China eroberten und dann bis Ungarn vordrangen. Diese einzigartige Machtkonstellation wurde von italienischen Kaufleuten sofort genutzt, um das mythische Kaiserreich zu erkunden. Der berühmteste Reisebericht stammt von dem Venezianer Marco Polo, aber er war keineswegs der einzige, der sich in Richtung China aufmachte.26
Doch schon bald verfiel das Mongolenreich, und die Handelsrouten waren erneut verschlossen. Anstatt auf den Landweg zu hoffen, versuchten die Europäer nun, China und Indien über das Meer zu erreichen. Kolumbus hatte 1492 bekanntlich nicht vor, Amerika zu entdecken, sondern wollte den direkten Weg nach China finden. Bis zu seinem Tod weigerte er sich anzuerkennen, dass er auf einen neuen Kontinent gestoßen war, und beharrte darauf, dass die Karibik zu Asien gehören müsste, weswegen er die dortigen Einwohner auch umstandslos »Indianer« – also Inder – taufte.
Das chinesische Kaiserreich bestand bereits seit 221 v. Chr. und war damit der älteste und größte Staat der Welt. 1820 lebten dort 381 Millionen Menschen, während es Europa auf 170 Millionen brachte. Zudem wurde China schon früh von einer leistungsfähigen Bürokratie verwaltet. Feudale Privilegien waren unwesentlich, stattdessen ging man bereits im siebten Jahrhundert dazu über, die Beamten durch zentrale Examina zu rekrutieren. Nur die Besten wurden genommen. Damit Klientelismus ausgeschlossen war, wurden komplizierte Mechanismen entwickelt, um die Anonymität der Prüflinge zu garantieren. So wurden ihre Namen geheimgehalten – und die Kandidaten schrieben auch nicht selbst, sondern Kopisten notierten ihre Antworten, damit die Kalligraphie nichts verriet.27
Diese Verwaltungselite hatte die alleinige Macht. Anders als in Europa musste sie sich nicht permanent mit Konkurrenzorganisationen herumschlagen. Es gab keine starke Kirche, und auch das Militär führte kein Eigenleben, sondern diente brav der Bürokratie. Natürlich gab es Machtkämpfe – aber sie wurden am Hof selbst ausgetragen und verwickelten nicht das ganze Reich.28
Die chinesische Verwaltung war erstaunlich klein. Sie zählte nur maximal 15 000 Beamte, die aber jeden Winkel des riesigen Reichs erreichen konnten – durch die Schrift. In Europa konnte lange Zeit fast niemand lesen, schon weil es kaum Bücher gab und jedes einzelne Werk von Mönchen handschriftlich auf Pergament kopiert werden musste. Die Chinesen hingegen benutzten schon früh das billigere Papier, und das erste gedruckte Buch kam 868 heraus. Es erschienen Zusammenstellungen der konfuzianischen Klassiker, Enzyklopädien, Wörterbücher, Geschichtsdarstellungen, medizinische Werke sowie Bücher über Landwirtschaft und Mathematik.
Neues Wissen verbreitete sich rasant, wodurch vor allem die Landwirtschaft deutlich produktiver wurde. Im Süden setzte sich der intensive Reisanbau durch, und es wurde so lange systematisch experimentiert, bis sich die Reifezeit von 150 auf 30 Tage verkürzt hatte und mehrere Ernten im Jahr möglich wurden. Die Chinesen hatten bessere Pflüge als die Europäer, sie setzten schon früh biologische Düngemittel ein. Sie besaßen riesige Bewässerungsanlagen und nutzten auch eine mehrstufige Fruchtfolge, so dass keine Felder brachliegen mussten. Bereits im Mittelalter betrug das Verhältnis zwischen Saat und Ernte eins zu zehn, während die Europäer nur eine Quote von eins zu vier erreichten. Der Abstand war enorm: Erst im 20. Jahrhundert wurde die europäische Landwirtschaft insgesamt so produktiv, wie es die chinesische schon im zwölften Jahrhundert gewesen war.
Wie die Römer hatten auch die Chinesen eine entwickelte Marktwirtschaft, die in der Lage war, sehr große Städte zu versorgen. Peking kam auf 1,1 Millionen Einwohner. In Kanton lebten 800 000 Menschen, Hangzhou hatte 500 000, Suzhou fast 400 000 Einwohner. Diese Massen ließen sich nur durch einen weitreichenden Handel ernähren. Hofbeamte und konfuzianische Gelehrte genossen zwar das höchste Ansehen und stellten die traditionelle Oberschicht, aber Kaufleute wurden keineswegs verachtet. Spätestens ab dem 16. Jahrhundert kam es zu einer »Kommerzialisierung« der Elite. Es wurde denkbar und üblich, dass die Kinder von Kaufleuten in die Familien der Beamten einheirateten. Diese dynastischen Verbindungen zeigen, wie angesehen die reichen Kaufleute waren.29
Die Liste der chinesischen Erfindungen war lang: Papier, Schwarzpulver, Kompass, Seismograph, Druckerpresse. Auch in der Seefahrt waren die Chinesen überlegen. Legendär sind die maritimen Expeditionen des Admirals Zheng He, der für die Ming-Kaiser zwischen 1405 und 1433 siebenmal in See stach. Seine Flotte war extrem seetüchtig, bestand aus 317 Schiffen und umfasste eine Besatzung von 20 000 bis 32 000 Mann. Wie bescheiden nahm sich dagegen die Ausrüstung von Kolumbus aus, der 1492 nur über drei Schiffe und 87 Mann verfügte. Selbst die spanische Armada kam 1588 nur auf 137 Schiffe, als sie gegen England aufbrach.
Mit seinem immensen Geschwader gelangte Zheng He bis an die Küste des heutigen Kenia, wo ihm der Sultan von Malindi unter anderem eine Giraffe schenkte, die dann in Peking gebührend bestaunt wurde. Die Chinesen starteten ihre Erkundungsfahrten deutlich früher als die Europäer: Der portugiesische Entdecker Vasco da Gama traf erst 84 Jahre später in Malindi ein.
Die Seereisen des Zheng He zeigen, dass China die technischen und finanziellen Möglichkeiten besessen hätte, zu einer imperialen Seemacht aufzusteigen. Aber anders als später die Portugiesen und Spanier verfolgten die Chinesen keine kommerziellen Ziele. Sie wollten keine neuen Handelsrouten oder exotische Waren entdecken – es ging um die symbolische Macht ihres Kaisers. Auch die fernen Völker sollten ihm Tribut zollen, wie es die nahen Herrscher in Vietnam oder Korea schon taten.
Ab 1433 wurden die Seereisen nicht mehr fortgesetzt. Die leistungsstarke Flotte wurde abgemustert, der technische Vorsprung nicht genutzt. Ein Grund könnte sein, dass die Grenze im Norden gefährdet war und ein weiterer Angriff der Mongolen drohte. Im Rückblick jedoch ist deutlich, dass es eine politische Fehlentscheidung war, auf die Flotte zu verzichten. Ohne diesen freiwilligen Rückzug wäre es den Europäern wahrscheinlich nicht gelungen, zu weltweiten Kolonialmächten aufzusteigen, die selbst den fernen Indischen Ozean und den Pazifik beherrschten.
Von diesem kolonialen Drang der Europäer blieb China zunächst noch verschont und erreichte Ende des 18. Jahrhunderts seine maximale Macht: Es hatte Taiwan, die Mongolei und Tibet erobert. Hinzu kamen große Teile Sibiriens und ebenso große Flächen in Ostturkestan. Burma, Nepal, Siam, Annam und Korea waren abhängige Tributstaaten.
Doch nur wenige Jahrzehnte später war von dieser Macht nichts mehr übrig. China wurde ab 1840 von den Europäern und Japanern in mehreren Kriegen vernichtend geschlagen und fortan weitgehend fremdbestimmt. Das reichste Land der Welt wurde zu einem Armenhaus: 1952 lag die Wirtschaftsleistung pro Kopf niedriger als 1820. Selbst Indien ging es besser, wo das Pro-Kopf-Einkommen in dieser Zeit immerhin um 20 Prozent zunahm.30
Der Abstieg Chinas ist in der Weltgeschichte beispiellos und hat die Historiker bleibend beschäftigt. Warum hat China – anders als Westeuropa – nicht zum Kapitalismus gefunden? Warum wurde das Land plötzlich abgehängt? Dieses Thema hat so viele Forscher umgetrieben, dass es inzwischen einen eigenen Namen trägt. Es wurde »The Great Divergence« getauft – zu deutsch »Die große Gabelung«.31
Der chinesische Rückstand setzte offenbar schleichend ein, wie die neuere Forschung ermittelt hat. Um 1800 war China zwar politisch auf dem Höhepunkt seiner Macht, aber ökonomisch hatte es gegenüber Teilen von Westeuropa bereits verloren. Dies zeigt sich etwa bei den Reallöhnen der gelernten und ungelernten Arbeiter. Wenn man die Kilomengen an Weizen oder Reis vergleicht, die sich die unteren Schichten leisten konnten, dann kam ein Chinese 1820 nur noch auf 38 Prozent des Reallohns, den ein englischer Tagelöhner verdiente. Selbst einfache Briten hatten also einen deutlich höheren Lebensstandard.32 Allerdings wurde dieser höhere Wohlstand zunächst nur in England und den Niederlanden erreicht. Mit den kümmerlichen Löhnen in Süditalien oder Osteuropa konnten die Chinesen noch lange mühelos mithalten.
Ein Entwicklungshemmnis in China war, dass Kaufleute zwar geachtet wurden, aber kein politisches Eigenleben führen konnten. Sie waren der dominanten Verwaltung untergeordnet, die sich jedoch nicht besonders für Handel und Produktion interessierte. Stattdessen setzte die chinesische Bürokratie vor allem auf die Landwirtschaft, um die Erträge zu steigern und die Steuereinnahmen zu erhöhen.33
Auch war es hinderlich, dass sich die chinesische Bürokratie nur äußerst eingeschränkt für andere Kulturen öffnete. Die konfuzianische Staatsideologie verortete China als das »Reich der Mitte«, das von barbarischen Völkern umgeben war, die dankbar zu sein hatten, wenn sie dem »himmlischen Reich« Tribut zollen durften.
Dies führte zu einem »Clash of Cultures«, kaum dass die Europäer nach Asien vordrangen. Die zweifellos berühmteste Episode ereignete sich 1792/93, als der britische Diplomat George Macartney an den chinesischen Hof reiste, um Geschenke des englischen Königs Georg III. zu überbringen. Die Engländer scheuten keine Kosten: 600 Pakete hatte die Delegation dabei, so dass für den Landweg vom Küstenhafen nach Peking 3 000 Kulis, 90 Wagen, 40 Lastsänften und 200 Pferde benötigt wurden. In den Kisten befanden sich unter anderem zwei Planetarien, Globen, ein Teleskop, Messinstrumente, chemische Apparate sowie eine Taucherglocke. Aus der Sicht der Briten war es die modernste Technik, die Europa zu bieten hatte. Man wollte die Chinesen überzeugen, dass sich der überseeische Handel mit dem Westen lohnte.
Denn zum Ärger der Briten hatte sich seit der Römerzeit nichts geändert. Die Europäer gierten nach chinesischen Luxuswaren wie Tee, Seide und Porzellan, während umgekehrt die Chinesen nur bare Silbermünzen akzeptierten. Um es in modernen Worten auszudrücken: Die Europäer hatten immer noch ein permanentes Leistungsbilanzdefizit gegenüber China. Diesen Zustand wollten die Briten dringend korrigieren – indem sie die Chinesen für die europäische Technik begeisterten.
Doch die Pekinger Hofbeamten empfanden die englischen Gaben als Beleidigung; sie seien nicht außergewöhnlich und kostbar genug für ihren Kaiser. Man erkannte nicht, dass diese Pakete einen technischen Vorsprung markierten, der für China ungeheuer gefährlich werden konnte. Von seinen Beamten falsch beraten, unterschrieb Kaiser Qianlong einen fatalen Brief an Georg III., in dem die Briten samt König als »Barbaren« bezeichnet wurden. In kalkulierter Arroganz dekretierte der Kaiser, dass »unser himmlisches Reich alle Dinge im Überfluss besitzt« und einen Handel mit den Engländern gar nicht nötig habe.34
Der chinesische Hof verstand den Handel mit fremden Völkern nicht primär als wirtschaftliche Unternehmungen – sondern als politische Prestigefrage. Für den Kaiser bedeuteten Importe, dass man unterlegen war. Wer Waren einführte, musste ja anerkennen, dass die andere Nation bessere Produkte herstellte.35 Damit wurde jedoch die letzte große Chance vertan, die Bedrohung zu erkennen, die Europas kapitalistischer Aufschwung für China bedeutete.
Es wäre allerdings unfair, dem chinesischen Kaiser und seinen Beratern nur naive Arroganz vorzuwerfen. Die Chinesen kannten den Expansionsdrang der Briten, die Indien seit 1756 als eine Art kommerzielle Kolonie behandelten. Auch wusste Qianlong ganz genau, dass die anderen europäischen Mächte ebenfalls Zugang zum Kaiserreich verlangen würden, sobald es den Briten gestattet wäre, in China unbeschränkt Handel zu treiben.
Zudem wäre es übertrieben, China als völlig selbstgenügsamen Staat darzustellen. Ab 1582/83 gelangten Jesuiten ins Land, die sich schließlich in Peking niederlassen durften. Sie machten den Hof mit der europäischen Mathematik, Technik und Naturwissenschaft bekannt: Der italienische Jesuit Matteo Ricci fertigte eine Weltkarte an (mit China im Zentrum) und übersetzte den euklidischen Kommentar zur Geometrie. Der deutsche Jesuit Johann Adam Schall von Bell wurde gar zum Direktor des Kaiserlichen Astronomischen Amtes ernannt.36 Spätere Jesuiten informierten über die Uhrenmechanik, die Glasproduktion und den Bau hydraulischer Maschinen. Zudem verrieten sie den Chinesen, wie man Kanonen konstruiert. Selbst für die italienische Barockmalerei konnte sich der chinesische Hof begeistern.37
Dennoch blieben diese Außenkontakte rudimentär. Es gab kein Außenministerium und keinen diplomatischen Dienst. Über den Westen wusste man sehr wenig, und fast niemand beherrschte eine europäische Sprache. Das eigene Land schien groß genug.
Vielleicht hat China nicht zum Kapitalismus gefunden, gerade weil es ein Riesenreich war, das seine Nachbarn dominierte. Es fehlte die Konkurrenz zwischen Staaten, die das kleinteilige Europa prägte. Die europäischen Fürstenhäuser führten permanent Kriege gegeneinander. Oft gab es nur kurze Pausen, bevor die nächste Schlacht begann. Um nur ein Beispiel aus der Neuzeit herauszugreifen: England und Frankreich bekriegten sich von 1689 bis 1697, von 1701 bis 1713, von 1740 bis 1748, von 1756 bis 1763, von 1776 bis 1783 und von 1792 bis 1815.
Da Kriege jedoch horrend teuer waren, wurden sie letztlich durch die schiere Wirtschaftsmacht gewonnen, wie die Europäer schon seit der Antike wussten. Gern wurde Cicero zitiert: »Nervi belli pecunia infinita« (Die Lebenskräfte des Krieges sind unerschöpfliche Geldmittel). Also wurde fast jede ökonomische Innovation kopiert, die in einem Nachbarstaat erfolgversprechend aussah. In Europa wäre es undenkbar gewesen, dass ein Land seine maritime Überlegenheit freiwillig wieder aufgab, wie es China nach 1433 tat, als es die Flotte des Admirals Zheng He einfach einmottete.
Durch die vielen Staaten gab es in Europa zudem genug potentielle Ansprechpartner, um eine neue Idee durchzusetzen. So kassierte Kolumbus zunächst nur Absagen, als er den direkten Weg nach China suchen wollte. Also versuchte er es einfach bei anderen Höfen, um einen Geldgeber für seine Erkundungsfahrten zu finden. Erst bei der vierten Adresse hatte er schließlich Erfolg – bei den spanischen Königen.38
Die Staatenkonkurrenz in Europa erklärt auch, warum sich in England sofort Technikspione aus Deutschland oder Frankreich tummelten, kaum dass sich herumgesprochen hatte, dass sich auf der Insel eine sensationelle Entwicklung abspielte. Beharrlich und gnadenlos wurden alle Ideen geklaut, die die Engländer zu bieten hatten. Ob Webstühle, Dampfmaschinen oder Lokomotiven – jede britische Erfindung verbreitete sich bald auch auf dem Kontinent.
Trotzdem erklärt die Konkurrenz zwischen den europäischen Staaten nicht, wie der moderne Kapitalismus entstanden ist. Der permanente Wettbewerb macht zwar verständlich, warum neue Ideen in Europa auch in anderen Ländern sofort aufgegriffen wurden. Aber es bleibt rätselhaft, warum die Engländer überhaupt auf die Idee kamen, ihre Textilherstellung zu mechanisieren – und mit der Industrialisierung zu beginnen.
Letztlich führt es in die Irre, sich zu fragen, was China »falsch« gemacht haben könnte. Das Land war enorm avanciert, wenn man es mit vielen anderen Weltregionen des 18. Jahrhunderts vergleicht. Es gab keinen historischen Determinismus, der zwingend zum Kapitalismus führen musste. Man kann es ein Wunder nennen – oder einen Zufall-, dass ausgerechnet in England ab etwa 1760 ein ungebrochenes Wirtschaftswachstum einsetzte. Zudem ist nicht ausgemacht, ob China längerfristig nicht zu einer eigenen Industrialisierung gefunden hätte. Aber dazu konnte es nicht mehr kommen, nachdem die weltweite Dominanz der Westeuropäer eingesetzt hatte.
Zeitgenossen hätten niemals damit gerechnet, dass England die weltweite Wirtschaft revolutionieren würde. Das Vereinigte Königreich ist bekanntlich ein eher kleines Land, das 1760 geschätzte sieben Millionen Einwohner zählte. Die europäische Großmacht war Frankreich, dessen Bevölkerung damals bei rund 25 Millionen lag.
Dennoch begann ausgerechnet in England eine Entwicklung, die die Welt für immer verändern sollte: Maschinen ersetzten die menschliche Arbeitskraft. Später hat man diesen Prozess »industrielle Revolution« genannt, doch die Anfänge wirkten wenig revolutionär.39