ISBN: 978-3-95428-650-8
1. Auflage 2016
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Der Mann, der in den Vormittagsstunden des 21. Juni in die Freiburger Universitätsklinik eingeliefert wurde, war braungebrannt und von kräftiger Statur. Am Morgen dieses Tages hatte er in seinem Bett die Augen geöffnet und bemerkt, dass er die Welt anders sah als an jedem anderen Tag. Er sah sie doppelt. Doch nicht nur dies beunruhigte ihn. Er konnte nicht mehr schlucken und seine Sprache war unverständlich. Als der Rettungswagen kam, hatten sich seine Lippen bläulich verfärbt. Am nächsten Morgen war der Mann tot. Weder die Errungenschaften der modernen Medizin noch das Wehklagen seiner Ehefrau hatten sein junges Leben retten können.
Alexander Kilian hatte an eben diesem frühsommerlichen Morgen gerade sein Arbeitszimmer betreten und den Fahrradhelm im Schrank verstaut, als das Telefon klingelte. Bossel war am Apparat.
„Herr Kilian, kommen Sie bitte sofort ins Zelllabor“.
Als ehemaliger kommissarischer Leiter des Institutes für Molekulargenetik der Freiburger Universität achtete Bossel darauf, seinem neuen Chef keinen besonderen Respekt entgegenzubringen. Undenkbar für ihn, seinen Chef mit Herr Professor oder Herr Professor Kilian anzureden. Alexander Kilian, mit den Gewohnheiten seines Mitarbeiters mittlerweile vertraut, stellte keine weiteren Fragen. Die Angelegenheit schien dringlich zu sein. Nur ein kurzer Flur, dessen Wände Schautafeln mit Chromosomen und Computergraphiken von Viren zierten, trennte sein Zimmer von den Laborräumen. Wenige Augenblicke später öffnete er die Tür zum Zelllabor. Mitten im Raum stand Evi Antona, in Tränen aufgelöst. Die junge Doktorandin mit dem rundlichen Kindergesicht und dem Pferdeschwanz war umringt von zwei Laborantinnen, der technischen Assistentin Simone Becker, zwei jungen Ärzten und Dr. Michael Hartung, einem braun-gelockten Biologen ohne Laborkittel in kurzer Hose und gestreiftem Kapuzen-T-Shirt. Ihr direkt gegenüber stand Kurt Bossel. Den Kopf weit vorgereckt sah er mit seiner spitzen Nase aus wie ein Raubvogel, der nach seiner Beute hacken will. Der Professor blickte fragend in die merkwürdige Runde.
„Ich habe den Brutschrank bestimmt nicht abgestellt“, brachte die junge Frau mühsam unter Schluchzen hervor, und ihr Busen hob und senkte sich mit jedem krampfhaften Atemzug heftig unter dem engen Pulli. „Als ich gestern Abend nach Hause gegangen bin, war noch alles in Ordnung.“
„Scheiße!“Nicht zum ersten Mal vernachlässigte Alexander die Umgangsformen, die seine Mitarbeiter von ihrem Chef erwarteten. Er war glücklich gewesen, dass endlich nach vielen Fehlschlägen in die Kulturen von menschlichen Zellen ein besonderes Gen eingeschleust werden konnte. Jetzt waren die Zellen abgestorben, daran war nicht zu zweifeln. Der Versuch, der sich bereits über mehrere Monate erstreckte, war wieder gescheitert, und niemand konnte dies mehr ändern.
„Wer, zum Donnerwetter, war es dann, wenn nicht Frau Antona?“
Bossel war der einzige, der nicht den zornigen Blicken des Institutsdirektors auswich. Mit seinen kleinen, wasserblauen Augen hinter der dunklen Hornbrille sah er seinen Chef unverwandt an. „Ich werde herausbekommen, wer das getan hat, Frau Antona oder jemand anders.“
„Das will ich hoffen.“ Und nach einer Pause: „Herr Bossel, kümmern Sie sich um die Angelegenheit.“ Damit floh Professor Kilian recht hilflos in sein Zimmer. Zurück blieb das überraschte Team.
Alexander trat an das Rundbogenfenster seines Arbeitszimmers und blickte auf die alten Kastanien, deren dichtes Blätterdach das Zimmer verdunkelte. Selbst hier im südlichen Seitenflügel des Gebäudes war es trotz der hochsommerlichen Hitze draußen noch angenehm kühl. Er schätzte es, dass sein Institut hier außerhalb des Institutsviertels der Universität in einem alten Wohngebiet lag. Er liebte das dreigeschossige Bauwerk aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert, das an drei Seiten von einem kleinen Park umgeben war. Niemals hätte er mit den nüchternen Zweckbauten tauschen wollen, in denen ein Großteil der anderen Institute untergebracht war. Sein Institut erinnerte ihn mit den Stuckquadern eines nachgemachten Bossenmauerwerks, den Pilastern neben den Fenstern und dem auf geschwungenen und verzierten Konsolen ruhenden Balkon an Gebäude der italienischen Renaissance. Nach aufwendigen Umbauten war in dem alten Wohnhaus ein hochmodernes Institut entstanden, von dem die vorsichtig renovierte Fassade wenig ahnen ließ. Nur das mit schwarzem Schiefer verblendete, ausgebaute Dachgeschoss der beiden Seitenflügel zeugte vom Platzbedarf seiner Bewohner. Von den mehr als achtzig Mitarbeitern des Instituts gehörten neunzehn zu Kilians Arbeitsgruppe, darunter zwei Medizinstudenten, die für ihre Doktorarbeit forschten. Evi Antona war eine von ihnen.
Es war nicht das erste Mal, dass sich eine schwerwiegende Panne bei den Experimenten der jungen Doktorandin ereignete. Vor wenigen Tagen erst waren wichtige Daten, mit denen sie arbeitete, vom Computer gelöscht worden und weder ein Ausdruck noch eine Sicherheitsdatei konnten bis zum heutigen Tag aufgefunden werden. Die Daten zu ersetzen, würde die Wiederholung von kostspieligen und vor allem zeitaufwendigen Experimenten erfordern. Alexander Kilian wusste, dass die Chance äußerst gering war, die Verluste bis zum Kongress der American Society of Human Genetics wieder aufzuarbeiten. Nun waren auch die Versuche mit den Zellkulturen wieder misslungen. Bei diesem Gedanken machte sein Zorn mehr und mehr einem tiefen Schmerz Platz. Mit Wehmut nahm er Abschied von der Vorstellung, wieder einmal mit sensationellen Neuigkeiten auf dem Kongress zu glänzen. Nun würde er allenfalls über ein paar Belanglosigkeiten berichten können.
Sein Kummer wuchs bei dem Gedanken, dass wahrscheinlich die schüchterne junge Frau für den Datenverlust verantwortlich war. Für niemanden sonst bestand zu diesem Zeitpunkt ein Anlass, mit den Dateien zu arbeiten. Zwar fügte Evi Antonas Arbeit nur ein kleines Steinchen ins Mosaik der Forschungsprojekte, die im Institut durchgeführt wurden, aber ohne diese wichtigen Details konnte das Puzzle nicht vollständig zusammengefügt werden. Er war sich darüber im Klaren, dass er nicht die junge Frau bei allem, was sie tat, überwachen konnte. Niemand konnte das. Auch kam es häufig vor, dass einer der Doktoranden das Institut als letzter verließ. Eine Beaufsichtigung der Arbeit am Computer war ohnehin nicht möglich. Merkwürdig fand er allerdings, dass es keine Sicherheitskopie gab. Auch waren die Daten offenbar nicht ausgedruckt worden. Beides zusammen sprach für eine unglaubliche Nachlässigkeit, die er Frau Antona nicht zutraute, hatte sie sich doch früher immer als umsichtige und zuverlässige Mitarbeiterin gezeigt. Also doch Sabotage als Ursache für die Pannen? Kein Zweifel, hierfür kam die Doktorandin nicht in Frage.
Der Tag verging mit der üblichen Routine. Als es gegen neunzehn Uhr an der Tür klopfte, tippte der Professor geschickt mit zwei Fingern an einem Referat, das er in der kommenden Woche bei einer Tagung in Heidelberg halten wollte. Bossel trat ein, um Bericht zu erstatten.
„Nehmen Sie Platz, ich bin gleich fertig“. Bossel setzte sich auf den einzigen Sessel, der nicht mit Papieren oder Büchern belegt war. Alexanders Interesse an allem, was halbwegs wissenswert war, führte dazu, dass sich Aufsätze, Zeitungsartikel, Notizen und Bücher nicht nur auf dem Schreibtisch, sondern auch auf dem kleinen Couchtisch und den Sesseln türmten. Selbst der Boden war in den Zimmerecken und entlang der einen nicht mit Bücherregalen zugestellten Wand mit Zeitschriften bedeckt. Bossel hasste dieses Chaos, wenn er auch zugeben musste, dass sein Chef immer die Kontrolle über den Wust von Papieren behielt. Ausgestattet mit einem ausgezeichneten Gedächtnis gelang es ihm meist, mit einem Griff die Dinge hervorzuziehen, die er gerade suchte.
Nach ein paar Minuten brach er das Tippen ab, speicherte den Text und wandte sich Bossel zu.
„Was haben Sie herausgefunden?“
Bossel fasste in seinen blonden Schnauzbart, der das Raubvogelprofil mit der spitzen Nase und dem fliehenden Kinn eher unterstrich als kaschierte, und zog die Oberlippe vor.
„Es ist so, wie ich vermutet hatte. Frau Antona hat gegen halb zehn Uhr als letzte das Institut verlassen. Herr Hartung ist etwa eine halbe Stunde vorher gegangen. Er war aber gar nicht im Zelllabor, sondern hat am Rechner gearbeitet.“
Dann zog er die Oberlippe hoch, was seinem Gesicht den Ausdruck von Verachtung verlieh: „Die letzte, die außer dieser ...“ und die nächsten fünf Worte dehnte er mit besonderem Nachdruck, „... außer dieser Trantüte von Doktorandin in dem Labor gearbeitet hat, ist Frau Becker. Sie legt ihre Hand dafür ins Feuer, dass zu diesem Zeitpunkt noch alles in Ordnung war.“
Alexander ärgerte sich über die abfällige Bezeichnung. Schließlich hatte er die junge Frau selbst unter mehreren Bewerbern für die Doktorarbeit ausgesucht. Noch immer war er davon überzeugt, sich nicht in der Beurteilung ihrer Fähigkeiten geirrt zu haben.
Bossel fuhr fort. „Tatsache ist aber, dass der Brutschrank ausgeschaltet war. Sowohl die Temperatur als auch der CO2-Gehalt waren weit unter den zulässigen Bereich abgesunken.“
Er beugte sich vor. „Aber das ist nicht alles.“ Dann machte er eine Pause, blickte seinen Chef scharf an, um sicher zu sein, dass die folgende Ungeheuerlichkeit ihm nicht entgehen würde. „Es ist offenbar destilliertes Wasser oder eine Waschlösung mit falscher Konzentration in die Kulturen gegossen worden. Dadurch sind restlos alle Zellen zugrunde gegangen.“
Der Institutsdirektor verzog keine Miene. Er saß da, als habe Bossel soeben von einer alltäglichen Begebenheit berichtet. Was ging es seinen Mitarbeiter an, was er dachte und fühlte?
„Was sagt denn Frau Antona dazu?“
„Das haben Sie ja selbst gehört. Sie heult und sagt, sie sei es nicht gewesen. Mehr fällt ihr zu diesem Thema nicht ein.“
„Wo waren Sie denn gestern Abend? Sie sitzen doch sonst immer noch um Mitternacht im Institut.“
Bossel blickte zum Monitor auf dem Schreibtisch. Ein Labyrinth von rot-weiß gestreiften Rohren breitete sich auf ihm aus, zerfiel wieder, wuchs aufs Neue, schlängelte sich umeinander und verschwand wieder.
„Gestern Abend?“
„Ja, gestern Abend.“
„Ich hatte eine Verabredung.“
Der Professor sah Bossel forschend an. „Eine Verabredung?“
„Ja, eine Verabredung. Aber das geht niemanden etwas an.“ Bossel blickte über seine Hornbrille nach oben und legte seine Stirn in bedeutungsvolle Querfalten.
Als sein Chef schwieg, fuhr er fort: „Ich würde mich so schnell wie möglich von Frau Antona trennen. Dass die Dame immer noch im Institut ist, lässt sich allenfalls mit einer Vorliebe für junge Mädchen mit Sommersprossen und Pferdeschwanz erklären.“
Die Erkenntnis, dass Bossel nicht ganz Unrecht hatte, ärgerte Kilian noch mehr als die abfällige Bemerkung zuvor. Evi Antona gefiel ihm, er schätzte auch ihr behutsames und einfühlsames Wesen, selbst wenn ihre Unsicherheit und ihre bedächtige Art tatsächlich manchmal etwas lästig waren. Er versuchte sich seinen Zorn nicht anmerken zu lassen.
„Mich interessiert nicht, was Sie tun würden. Ich danke Ihnen für Ihre Mühe.“
Damit entließ er Bossel, der ein süß-saures Gesicht machte, mit einer Handbewegung aus seinem Zimmer.
Der Professor, ein großer schlanker Mann mit hagerem Gesicht und dunklen, ergrauenden Haaren, trat wieder ans Fenster. Draußen leuchtete der blaue Himmel zwischen den Blättern und nahm ihm die Lust noch länger am Schreibtisch zu sitzen. Sein Plan, heute Abend Ina und die gemeinsame Tochter zu besuchen, schien ihm bei der missmutigen Stimmung, die sich seiner mittlerweile bemächtigt hatte, nicht mehr gut. Die Vorstellung, sich entweder in schlecht gelauntes Schweigen zu hüllen oder Ina von seiner dürftigen Rolle bei den heutigen Ereignissen im Institut zu berichten, war wenig verlockend. Dass er selbst mit der Doktorandin hätte sprechen müssen, war ihm längst klar geworden. Sie hätte Unterstützung gebraucht. Wenn Evi Antona auch eine kluge Frau war, fehlte ihr doch die Fähigkeit, sich gegenüber solch schwerwiegenden Vorwürfen allein zu behaupten. Es war nicht nötig, sich das von der Frau, die er liebte, sagen zu lassen. Auch Inas Besorgnis über den neuerlichen Zwischenfall, ihre Anteilnahme an seinem Missgeschick würde ihm die Sache nicht leichter machen. Er wollte kein Mitleid. Nichts war ihm so unangenehm wie Inas Mitgefühl in dieser Situation, ihr Bedauern, ihre Betrübnis. Lieber sprach er mit ihr darüber, wenn er selbst den nötigen Abstand zu den Ereignissen bekommen hatte. Oder, besser noch, wenn er alles aufgeklärt hatte. Er griff zum Telefon und wählte ihre Nummer. Ina meldete sich.
„Wie geht es dir?“, fragte er und: „Was macht Corinna?“
Auf diese Floskeln am Telefon hätte er gern verzichtet. Wozu sich nach Dingen erkundigen, die zumeist unwichtig waren? Hätte sich tatsächlich etwas Bedeutsames ereignet, würde er es sowieso erfahren.
„Nimm es mir nicht übel Ina, aber im Institut gab es so viel Ärger, dass ich heute Abend nicht komme.“
Ina war offenkundig enttäuscht. Er versuchte sie zu trösten. „Ich verspreche dir, ich halte mir das ganze Wochenende für Corinna und dich frei.“
Die üblichen Redensarten zum Ende eines Telefongesprächs, dann war es geschafft. Er konnte gehen. Auf dem Weg zum Treppenhaus betrat er noch einmal das Zelllabor. Weder Evi Antona noch andere Mitarbeiter waren zu sehen. Alles war aufgeräumt und gereinigt worden. Hatte er auch hier etwas falsch gemacht? Hatte er etwas versäumt? Hätte man vielleicht Fingerabdrücke sicherstellen sollen? Er verwarf den Gedanken wieder. Was hätten Fingerabdrücke an einem Gerät und an Kulturflaschen, die von verschiedenen Personen angefasst werden, schon bewiesen? Er sah keinen Sinn darin, sich mit dem ganzen unnützen Ärger jetzt noch weiter zu befassen.
Von den vielen Fahrrädern, die im Sommer vor dem Institut standen, waren um diese Zeit nur noch sechs übriggeblieben. Das von Michael Hartung war an der pinkfarbenen Lackierung unschwer zu erkennen. Es hatte seinem Besitzer den Spitznamen ‚Pink Panther‘ eingebracht. Den uralten Drahtesel von einem der Studenten erkannte er an dem riesigen Vorhängeschloss und einer gewaltigen Kette. Von den übrigen wusste er nicht, wem sie gehörten.
Wenige Minuten später hatte er den Radweg an der Dreisam erreicht und den Autoverkehr hinter sich gelassen. Er folgte dem Fluss stromaufwärts, an den Sportplätzen vorbei, wo ihm ein paar späte Badegäste mit Liegematten und Badetaschen vom Strandbad entgegen kamen. Hinter ihm glitzerte die Dreisam im Licht der tief stehenden Sonne. Etwas beklommen dachte er an Ina, die wieder einmal mehr einen schönen Sommerabend allein mit der Tochter verbrachte. Nach einer dreiviertel Stunde durchquerte er Buchenbach, folgte noch ein Stück der Straße, die zum Spirzen hinaufführte, und kehrte dann um. Die Jeans und das Hemd, die er im Institut getragen hatte, waren nicht die richtige Bekleidung für eine Bergstrecke.
Im letzten Tageslicht erreichte Alexander seine Wohnung. Das Haus aus den sechziger Jahren lag zwischen Stadtgarten und Schlossberg, ganz in der Nähe seines Institutes. Er besaß die untere Etage, zu der ein verwilderter Garten gehörte, und er schätzte sich glücklich sie allein zu bewohnen. Lieber aß er in der Kantine, ging auch selbst zum Einkaufen, als Tag für Tag die Gegenwart eines anderen Menschen zu ertragen; eines Menschen, der spricht und nach Antworten verlangt, wenn er schweigen möchte, oder der Zärtlichkeiten erwartet, wenn ihm nicht danach zumute ist. Lange Jahre hatte er es früher so ausgehalten, bis dieses Leben ihm geradezu körperliches Missempfinden bereitete und er immer öfter floh aus der erstickenden Enge der Zweisamkeit. Er war froh Ina gefunden zu haben. Sie akzeptierte, dass er nicht geeignet war, Tag und Nacht mit einer Frau zusammen zu leben, er, der er schon als Kind ein Außenseiter gewesen war, ein Eigenbrötler, den die anderen Kinder nicht verstanden, und der nicht gewusst hatte, wie man mit anderen Kindern umgeht. Jetzt hatte er es gut getroffen mit Ina, die selbst ihre Freiheit schätzte, gern der Pflicht ledig war, Hemden zu bügeln oder einem Mann, dessen Gedanken noch bei der Arbeit waren, das Mittagessen auf den Tisch zu stellen. Aber Ina war der ruhende Pol in seinem Leben, Ina, die für ihn da war, wenn er sie brauchte, ohne den Überdruss der ständigen Nähe, aber mit der Faszination des besonderen Augenblicks.
Mit einem Glas Wasser in der Hand trat er auf die Terrasse und setzte sich auf einen der Gartenstühle, die ohne erkennbare Ordnung auf den Sandsteinplatten verteilt waren. Durch die alten Fichten, die den Garten zur Straße abschirmten, fiel das fahle Licht der Straßenlaterne. Zu spät bemerkte er die schattenhafte Gestalt auf dem Stuhl im Dunkel vor der Hauswand, ihm schräg gegenüber. Zu spät war es, um einfach wieder zu verschwinden, zu spät, um gar nicht erst nach Hause gekommen zu sein. Er erkannte sie sofort.
„Was willst du hier?“
Die Gestalt auf dem Stuhl richtete sich etwas auf und das bläuliche Licht der Straßenlaterne traf das Gesicht. Sie saß da mit ihrer solariumgebräunten Haut, die in dem schwachen Licht dunkelgrau schien, und den blond gefärbten Locken, ein Gesicht des unübersehbaren Verfalls, gepflegt im hoffnungslosen Bemühen die Verbrauchtheit zu verbergen. Regungslos wie ihr eigenes in Bronze gegossenes Denkmal starrte sie an Alexander vorbei in die Ferne.
„Ich muss mit dir reden“, sagte die Gestalt, ohne ihren Blick aus der Ferne zurückzuholen.
„Es gibt nichts zu reden.“
Jetzt sah sie ihn an. „Doch, mein Lieber, es gibt sehr viel zu reden und du weißt sehr genau, worum es geht.“
„Ich habe dir gesagt, dass ich dich hier nicht sehen will.“
„Ich weiß. Aber du hast unsere Konten für mich sperren lassen.“
„Das ist richtig.“
„Dazu hast du kein Recht.“
„Meinst du, ich sehe mit an, wie du mein Geld zur Spielbank trägst?“
„Unser Geld.“„Mein Geld, das Geld, das ich verdient habe. Du hast das Geld, das du mit deiner Apotheke verdienst, immer auf deine eigenen Konten eingezahlt. Das ist dein Geld.“
„Ich habe kein Geld auf meinen Konten.“
„Weil du es verspielt hast.“
Er hatte sie nur einmal seit seiner Rückkehr aus Cambridge gesehen und diese Begegnung lag schon fast sechs Monate zurück. Seither war ihr Verfall weiter fortgeschritten. Die scharfen Falten um den Mund hatten sich noch mehr vertieft und unter den Augen quollen Tränensäcke, die ihm vorher nur manchmal morgens aufgefallen waren. Ihr Hals, Jahr für Jahr im Sommer wie im Winter gebräunt, erinnerte ihn an den eines Leguans. Die Angewohnheit, den Mund nach vermeintlich bedeutsamen Sätzen zu spitzen, hatte zugenommen und war zu einem fortwährenden tickartigen Zucken geworden, das rings um den Mund tiefe Runzeln wie bei einer alten Frau hinterlassen hatte.
Sie verlegte sich aufs Jammern. „Wenn du wüsstest, wie schlecht es mir geht ...“ Sie wartete, ob er etwas sagen würde, und als nichts geschah: „Du würdest mir helfen“. Als er immer noch nicht antwortete: „Ich bin immer für dich da gewesen, zwanzig Jahre lang. Nun lässt du mich fallen wie eine heiße Kartoffel.“
Sie rückte auf die Stuhlkante und schob den Kopf vor. „Wie oft habe ich dir deine Unarten verziehen, wie oft habe ich getan, was du wolltest, weil ich immer wieder auf dich reingefallen bin. Du konntest so charmant sein, wenn du nur wolltest.“
Sie machte eine theatralische Pause, ihre Miene war leidend.
„Jetzt kannst du nicht so tun, als ginge ich dich nichts an. Du musst mir helfen.“
Nach der dramatischen Betonung des „musst“ im letzten Satz brach sie in ein krampfhaftes Schluchzen aus. Die Tränen verwischten die Wimperntusche und flossen als dunkle Rinnsale über die faltigen Wangen.
Er hasste den wehklagenden Ton, wie er überhaupt klagende Frauen nur schwer ertragen konnte, vor allem, wenn er die Ursache des Klagens sein sollte.
„Hast du Schulden?“
Anstatt zu antworten, verfiel sie in ein langgezogenes, jammerndes Heulen.
Alexander wartete nicht auf die Antwort. Er stand auf, ohne ein weiteres Wort zu sagen, eilte die wenigen Schritte zur Terrassentür, floh ins Haus, schloss die Tür sorgfältig hinter sich und zog die Gardine zu.
Das einbruchsichere Glas hielt den Attacken der wütenden Frau mühelos stand. Es machte nicht einmal besonderen Lärm, als sie mit aller Macht gegen das Glas der Terrassentür mit den Fäusten trommelte und trat. Schließlich gab sie auf, ging zur Haustür, drückte mit der ganzen Hand auf den Klingelknopf und klingelte Sturm. Der kleine Hebel im Flur, der die Klingel abstellt, ließ den Lärm verstummen. Alexander blieb tief atmend im Wohnzimmer stehen, dann schaltete er den Fernsehapparat ein und stellte den Ton etwas lauter als gewöhnlich. Im ersten Programm lief ein Krimi. Ein gewitzter Kommissar bemühte sich, die Frau eines reichen Arztes des Giftmordes an ihrem Ehemann zu überführen. Er sah den Film nicht bis zum Ende. Als er sicher war, dass Ingrid gegangen war, setzte er sich mit einem Glas Wein in der Hand auf die Terrasse. Vor dem Mond, der zwischen den alten Bäumen im Nachbargarten hindurch schien, zog eine Schar lichter Schäfchenwolken vorbei. Ein Sommerabend wie gemacht für romantische Gefühle. Es wäre doch besser gewesen Ina zu besuchen. Nun saß er hier, ärgerte sich noch mehr über die Ereignisse des Tages als vor drei Stunden und zu der einen Frau, die sich in seiner Gegenwart in Tränen aufgelöst hatte, war noch eine zweite gekommen. Immerhin war er weder für den Kummer der Doktorandin noch für den seiner Ehefrau verantwortlich – oder vielleicht doch? Er schob den Gedanken wieder beiseite. Mit Evi Antona würde er ohnehin morgen selbst sprechen. Aber was Ingrid betraf, so war sie selbst schuld. Schließlich hatte sie sich durch ihre Spielleidenschaft ohne sein Zutun in die missliche Lage gebracht.
Darüber, was vorher war, wollte er nicht mehr nachsinnen.
Am nächsten Morgen hatte Beate Brändle gerade noch Zeit, Lippenstift und Spiegel im Schubfach ihres Schreibtisches verschwinden zu lassen, als Professor Kilian ins Zimmer trat und sich die Mappe mit der Post reichen ließ. Er war bereits der dritte Chef, seit sie die Stelle als Sekretärin im Institut für Molekulargenetik angetreten hatte. Ihr erster Chef war vor fast zwei Jahren in den Semesterferien plötzlich spurlos verschwunden und hatte nicht nur seinen verwaisten Arbeitsplatz, sondern auch eine fassungslose Frau und zwei kleine Kinder zurückgelassen. Man munkelte, er habe sich nach Südamerika abgesetzt, um sein Wissen und Können ohne moralische Bedenken und ohne die vom Gentechnikgesetz und vom Embryonenschutzgesetz auferlegten Beschränkungen zu Geld machen zu können. Andere vermuteten, er sei einem Verbrechen zum Opfer gefallen.
Wochen nach seinem Verschwinden hatten Taucher durch Zufall sein Auto bei Breisach nicht weit von Freiburg entfernt in den trüben Fluten des Rheins entdeckt. Der Mann saß noch immer, gehalten vom Sicherheitsgurt, auf dem Fahrersitz. Obwohl unverletzt, hatte er offenbar nicht versucht, sich aus dem Wagen zu befreien.
An die Stelle des Toten rückte Kurt Bossel auf, doch seine Tage als Institutsdirektor waren gezählt. Nicht er, sondern Alexander Kilian wurde auf den Lehrstuhl für Molekulargenetik berufen und zum Institutsleiter gewählt.
Kilian blätterte kurz die Mappe durch und wandte sich wieder seiner Sekretärin zu, die welke Blätter von einer der Blumen auf der Fensterbank abzupfte.
„Frau Brändle, haben Sie Frau Antona heute schon gesehen?“
Sie verneinte. „Frau Becker hat vorhin auch nach ihr gefragt. Sie scheint heute nicht gekommen zu sein.“
„Merkwürdig. Schicken Sie Frau Antona bitte zu mir, sobald sie auftaucht.“
Erst am Nachmittag klopfte es zaghaft an der Tür. Evi Antona öffnete und blieb auf der Schwelle stehen. Ihr Chef drehte sich mit seinem Schreibtischstuhl um und machte eine einladende Bewegung. Sie tat erst einen, dann einen zweiten Schritt vorwärts und schloss umständlich die Tür hinter sich.
„Nehmen Sie doch bitte Platz.“
Zögernd hockte sich die junge Doktorandin auf die vorderste Kante des Sessels, auf dem Bossel gestern sein vernichtendes Urteil über sie gefällt hatte.
„Ich weiß, warum Sie mit mir reden wollen, aber ich habe Herrn Bossel doch gestern schon alles gesagt, was ich weiß.”
Alexander bemühte sich, seiner Stimme einen freundlichen Unterton zu geben. „Ich möchte ein paar Einzelheiten gern noch einmal von Ihnen selbst hören.“
„Ja?“ kam es gedehnt von der jungen Frau.
„Können Sie mir bitte sagen, wie lange Sie vorgestern Abend im Institut waren?“
„Ungefähr bis halb zehn. Das habe ich Herrn Dr. Bossel aber auch schon gesagt.“
„Ich weiß, aber ich möchte alles noch einmal von Ihnen selbst hören. Wissen Sie, wann die anderen Mitarbeiter gegangen sind?“
Sie überlegte: „Die letzte, die ich gesehen habe, war Simone Becker.“
„Ich hätte gern gewusst, wann das war.“
„Sie hat sich verabschiedet und ist ein paar Minuten später auch gegangen.“
„Ich fragte, wann?“
Evi Antona war mittlerweile ganz in sich zusammengesunken, als wolle sie am liebsten vom Erdboden verschwinden. „Ich glaube, es war gegen halb acht. Es kann aber auch früher oder später gewesen sein.“
So kam er offenbar nicht weiter. Wahrscheinlich war es auch nicht so wichtig, wann die technische Assistentin tatsächlich das Institut verlassen hatte.
„Wo waren Sie, als sich Frau Becker verabschiedet hat?”
Sie richtete sich ein ganz klein bisschen wieder auf. Offenbar war diese Frage leichter zu beantworten.
„Ich war im Zelllabor, den ganzen Abend. Ich bin zwischendurch nur einmal zur Toilette gegangen.”
„War vorgestern Abend außer Ihnen und Frau Becker noch jemand im Institut?“
„Ja.“„Ja, wer denn?“
„Michael Hartung.“
„Können Sie mir nicht etwas mehr erzählen? Wo war er, was hat er gemacht, wann ist er gegangen?“
„Er kam zu mir und hat einen Witz erzählt. Der Witz handelte von geklonten Menschen, die ...“
„Ich glaube, der Witz ist jetzt nicht so wichtig. Was machte er dann?“
„Er ging wieder.“
„Ging er nach Hause?“
„Nein, ich glaube nicht. Ich denke, er war noch lange irgendwo im Institut.“
„Wie wollen Sie das wissen?“
Wieder überlegte Evi Antona lange. Ihr Blick war auf die großen Fotos an der Wand gerichtet. Ihr Chef braungebrannt mit Seil und Eispickel beim Gletscheraufstieg, auf einem anderen Bild beim Klettern in den Dolomiten, auf dem dritten lächelnd unter einem mächtigen Gipfelkreuz.
„Woher wollen Sie das wissen, dass Herr Hartung noch im Institut war?“, wiederholte Alexander noch einmal seine Frage.
„Ich habe Türen klappen hören, aber genau weiß ich natürlich nicht, ob das Herr Hartung war oder jemand anderes.“
Auch dieses Thema war offenbar wenig ergiebig. Er versuchte, seine zunehmende Ungeduld zu zügeln. Was war los mit der jungen Frau? Sie war doch sonst nicht auf den Kopf gefallen.
„Wissen Sie denn, wann Sie zuletzt am Brutschrank waren?“
„Ich weiß die Uhrzeit nicht genau, aber es war, als Herr Hartung wieder aus dem Labor gegangen war.“
„Was haben Sie an dem Gerät gemacht?“
„Ich habe zwei oder drei Kulturflaschen genommen und die Kulturen unter dem Mikroskop betrachtet. Dann habe ich sie wieder zurückgestellt.“
„Haben Sie vielleicht auch irgendeine Flüssigkeit in die Behälter getan?“
„Nein, ganz bestimmt nicht.“ Ihre Stimme zitterte. „Das ist ja doch gar nicht meine Aufgabe.“
„Kann es denn sein, dass Sie den Brutschrank abgeschaltet und versehentlich nicht wieder eingeschaltet haben, nachdem Sie ihn geöffnet hatten?“
Sie blickte ihn mit großen Augen an. „Nein, sicher nicht.“
„Können Sie tatsächlich so sicher sein?“
„Ja, ich bin ganz sicher.“
Alexander Kilian rückte mit seinem Stuhl näher und musterte sie aufmerksam. Wollte sie ihn für dumm verkaufen, dass sie so ungenau und nichtssagend antwortete? Oder war ihre Angst schuld daran, ihre Verlegenheit und ihre grenzenlose Unsicherheit hier in seinem Zimmer, im Zimmer des Institutsdirektors, noch dazu unter dem Verdacht, die Kulturen zerstört zu haben?
„Erzählen Sie mir doch bitte, wieso Sie so sicher sein können“, sagte er mit übertriebener Geduld, als spräche er zu einem Kind.
Die Pause zwischen Frage und Antwort war noch länger.
„Als ich ging, war das Gerät noch an. Das weiß ich genau. Als ich ging, war nämlich das Licht im Flur schon aus und ich fand im Dunkeln den Lichtschalter nicht. Da habe ich noch einmal die Tür vom Labor aufgemacht, um Licht zu machen. Bis ich den Lichtschalter fand, waren das grüne Lämpchen am Gerät und die roten Zahlen darüber die einzigen Lichter im Raum. Es war alles ganz unheimlich. Ich habe dann im Labor Licht gemacht, dann die Lichtschalter im Flur und im Treppenhaus gesucht. Dann habe ich das Licht im Labor wieder ausgemacht und bin ganz schnell nach unten gelaufen.“
„Stimmt das?“„Das stimmt wirklich.“
„Warum haben Sie das nicht Herrn Bossel erzählt?“
„Ich habe es ihm erzählt.“
Nun war es Alexander, der lange schwieg. Schließlich stellte er die nächste Frage.
„War denn die Haustür richtig ins Schloss gefallen, als Sie gehen wollten, oder hätte man sie von außen aufdrücken können?“
„Ja, äh, ich meine nein.“
„Was denn nun, ja oder nein?“
„Ja, ich meine, sie war sogar schon zugeschlossen. Ich musste erst meinen Schlüssel suchen, um sie von innen öffnen zu können. Anschließend habe ich wieder zugeschlossen.“
„Wissen Sie, ob zu diesem Zeitpunkt noch jemand im Haus war?“
„Ich habe von außen kein Licht mehr gesehen, aber ich habe nur zu den Fenstern an der Vorderseite geschaut.“
„Ob bei Herrn Hartung noch Licht brannte, wissen Sie also nicht?“
„Nein, das weiß ich nicht.“
„Eine letzte Frage habe ich noch. Warum waren Sie heute Vormittag nicht im Institut? Wir haben Sie vermisst.“
„Ich sollte doch überhaupt nicht mehr wiederkommen.“
„Wer sagt das?“
„Herr Dr. Bossel hat gesagt, ich sei nicht geeignet, hier meine Doktorarbeit zu schreiben. Ich solle mir etwas anderes suchen.“
Der Professor holte tief Luft, aber verzog keine Miene. „Und warum sind Sie dann doch wiedergekommen?“
„Frau Brändle hat mich angerufen und gesagt, dass Sie mich sprechen wollten. Sie meinte, es wäre besser, nicht einfach wegzubleiben.“
Ihre Augen wurden feucht, eine Träne rann über ihre linke Wange. „Sie würden mir schon nicht den Kopf abreißen.“
Der Professor stand auf. Den Blick auf ihr unglückliches Gesicht gerichtet, ging er langsam auf sie zu.
„Da hat sie wohl recht gehabt“, sagte er leise, fast zärtlich.
Mit drei weiteren Schritten war er an der Tür und drückte die Klinke herunter. Seine Stimme war wieder sachlich.
„Ich denke, das Beste wird sein, wenn Sie jetzt erst einmal die Ergebnisse auswerten, die bereits vorliegen. Wir werden dann sehen, wie es weitergeht.“
Als Evi Antona gegangen war, trat Alexander ans Fenster seines Arbeitszimmers und blickte in den Park hinunter. Hier hatte er schon oft gestanden, wenn sich aus einer vagen Idee allmählich konkrete Gedanken entwickelten, die wieder neue Ideen gebaren, und das Ganze schließlich eine Form annahm, die es erlaubte, mit den Mitteln der Wissenschaft das Gedankengebäude nach und nach zu bestätigen oder zu verwerfen. Er liebte es, in seiner Vorstellung immer kompliziertere Konstruktionen zu entwickeln und er beherrschte diese Gedankenspiele mit derselben Virtuosität, wie ein Meister am Klavier die Bewegungen seiner Hände. Wer ihn dort am Fenster stehen sah musste meinen, ihn beim Müßiggang zu beobachten, und doch war dies neben der Lektüre von aktuellen Forschungsergebnissen und dem Erfahrungsaustausch mit anderen Wissenschaftlern eine seiner erfolgreichsten Tätigkeiten.
Jetzt war ihm nicht danach, auf die offenen Fragen der Wissenschaft eine Antwort zu suchen, jetzt dachte er an Kurt Bossel. Bossel arbeitete seit vielen Jahren im Institut und im vergangenen Jahr hatte er sich endlich habilitieren können. Auf dieses Ziel hatte er trotz immer neuer Fehlschläge unbeirrt hingearbeitet. Aber was nützte ihm jetzt der Titel ‚Privatdozent‘, was nütze ihm die verbriefte ‚Lehrbefähigung‘? Jetzt war er mit seinen 52 Jahren zu alt, um auf eine Professorenstelle hoffen zu können. Allenfalls hier in Freiburg, wo er sich bewährt hatte und man seine Sorgfalt und seine absolute Zuverlässigkeit kannte und schätzte, hätte er eine Chance gehabt. Aber diese Stelle war an ihn, Alexander Kilian, gegangen. Zwar war er selbst ein Jahr älter als Bossel, aber er hatte in Cambridge im renommierten Cavendish-Laboratorium geforscht und an der Universität von Cambridge gelehrt. Er hatte einen Namen, er war sogar einer der bekanntesten europäischen Molekulargenetiker, und diese Vorteile konnten ihm Jüngere nicht so leicht streitig machen.
Sein Verhältnis zu Bossel war zwiespältig. Er schätzte dessen Eifer und Genauigkeit. Auch dass die übrigen Mitarbeiter längst Bossels Vorbild gefolgt waren und ihn nicht mehr mit „Herr Professor Kilian“ anredeten, störte ihn weniger. Es war der Trend der Zeit, mehr und mehr auf Titel zu verzichten. Er mochte kaum einmal vor sich selbst zugeben, wie gern er mit Herr Professor Kilian angeredet wurde. Eher nahm er Anstoß daran, dass es auch jetzt noch, mehr als fünf Monate nachdem er selbst die Leitung des Institutes übernommen hatte, immer wieder Situationen gab, wo Bossel der heimliche Chef war. Es war ein Fehler gewesen, ihm die Aufklärung des Zwischenfalls von vorgestern zu übertragen. Er hätte die Angelegenheit von Anfang an selbst in die Hand nehmen sollen. Warum war es ihm wieder nicht gelungen, die Erwartungen zu erfüllen, die sein Team an seinen Chef hatte? Er brauchte es sehr, dass seine Mitarbeiter ihn mochten, warum nur war er wieder davongelaufen, als sie seinen Rat erwarteten?
Dabei bestand kein Zweifel daran, dass er Bossel in vieler Hinsicht überlegen war. Er, der Herr Professor Dr. Kilian, war erfolgreich, er war international bekannt, er sah gut aus und überragte den anderen fast um Haupteslänge. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, dass Bossel der Chef sei und Kilian der untergeordnete Mitarbeiter. Und doch war Bossel oft der Retter in der Not, Bossel, der ewige Nörgler, der immer Unzufriedene. Aber das Team wendete sich an ihn, wenn unerwartete Probleme zu bewältigen waren. Alexander ärgerte sich, dass er diese Situation jetzt selbst herbeigeführt hatte. Dazu kam, dass er in seiner Einschätzung der neuesten Panne zu einem ganz anderen Ergebnis gekommen war als Bossel. Sein Mitarbeiter hatte Evi Antona als die mit Sicherheit Schuldige hingestellt. Wenn er sie jetzt in Schutz nahm, musste der Verdacht geweckt werden, dass er die Studentin aus persönlichen Gründen decke, eine ihm denkbar unangenehme Situation. Er beschloss, so bald wie möglich mit Hartung zu reden.
Nach der Mittagspause ging er zu Bossel und trat in dessen Zimmer ein, ohne anzuklopfen, wie es sonst eine Selbstverständlichkeit war. Der Mitarbeiter fuhr hoch wie ein Schuljunge, der beim Mogeln ertappt wird. Als er den Bericht seines Chefs über das Gespräch mit der Doktorandin gehört hatte, schlug er mit der Faust auf den Tisch.
„Das hat sie sich doch über Nacht in der passenden Weise zurechtgelegt. Warum hat sie es mir denn nicht gleich erzählt, wenn es sich tatsächlich so zugetragen hat?“
„Sie habe Ihnen alles genauso wie mir erzählt.“
„Das ist eine Lüge.“
Alexander zuckte mit gespieltem Gleichmut die Schultern.
„Wie dem auch sei. Auf jeden Fall verbiete ich Ihnen, dazu Stellung zu nehmen, wer bei mir seine Doktorarbeit schreibt und wer nicht.“
Damit verließ er den Raum.