Über das Buch
Wenn der eigene Sohn zur Geisel wird ... Irland, im 9. Jahrhundert. Ohne Segel und Ruder sind Thorgrim und seine Wikinger mit ihren Langbooten an der südirischen Küste gestrandet. Um ihre Schiffe wieder flottmachen und heimkehren zu können, sind sie auf die Hilfe der Iren angewiesen. Die aber wissen die missliche Lage der Wikinger auszunutzen: Während Thorgrim genötigt wird, die Abtei von Ferns bei der Verteidigung zu unterstützen, ist sein Sohn Harald Starkarm in die Geiselhaft des Gegners geraten und wird von ihm zum Angriff auf die Mönche gezwungen ... Siebter, unabhängig zu lesender Band der Wikinger-Reihe um Thorgrim Nachtwolf
Über den Autor
James L. Nelson stammt aus Lewiston, Maine. Nach seinem Universitätsabschluss in Film- und Fernsehproduktion folgte er Herman Melvilles Rat, segelnd die Meere zu entdecken. Sechs Jahre lang lebte und arbeitete er so an Bord traditioneller Segelschiffe. Dann entschied er, fortan über das Segeln zu schreiben, statt es selbst zu betreiben. Seither hat er zahlreiche Sachbücher und Romane über Seefahrer und Seefahrtsgeschichte verfasst, wofür er unter anderem mit dem William Young Boyd Award der American Libary Association und dem Naval Order’s Samuel Eliot Morison Award ausgezeichnet wurde. Nelson liest in ganz Amerika aus seinen Büchern und ist gefragter Gesprächspartner im Discovery Channel, im History Channel und im BookTV. Heute lebt er mit seiner Frau Lisa und vier gemeinsamen Kindern in Harpswell, Maine.
James L. Nelson
DIE WIKINGER
Der Schatz der Mönche
HISTORISCHER ROMAN
Aus dem amerikanischen Englisch von
Rainer Schumacher
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2017 by James L. Nelson
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Loch Garman«
Originalverlag: Fore Topsail Press
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Frank Weinreich, Bochum
Umschlagmotive: © Arndt Drechsler, Leipzig
Umschlaggestaltung: Thomas Krämer
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-8631-8
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Der vorliegende Roman ist frei erfunden. Namen, Figuren, Orte und Ereignisse sind entweder vom Autor ausgedacht oder werden ausschließlich fiktional verwendet. Jede Übereinstimmung mit tatsächlichen Geschehnissen, Schauplätzen, Organisationen oder Personen, lebend oder bereits verstorben, ist rein zufällig und weder vom Autor noch vom Verlag beabsichtigt.
Für Patrick Lockard, Ire und Ehrenwikinger.
Willkommen im Clan. Du bist selbst schuld.
Einst lebte ein Mann mit Namen Thorgrim Ulfsson, der auch als Thorgrim Nachtwolf bekannt war, denn manche hielten ihn für einen Gestaltwandler, der des Nachts bisweilen Wolfsgestalt annahm. Thorgrim lebte an einem Ort mit Namen Vik im Lande Norwegen, das später unter Harald Schönhaar vereint werden sollte.
Sein Vater war Ulf Ospaksson, und Thorgrim wuchs auf einem Bauernhof auf. Er war ein guter Bauer. Doch auch wenn er hart auf dem Land seines Vaters arbeitete, war seine Liebe zum Schiffsbau weit größer als die zum Ackerbau. So nutzte er jede Gelegenheit, den Schiffsbauern in seinem Dorf zu helfen, und derer gab es viele. Dabei lernte Thorgrim viel über den Umgang mit Axt, Deichsel und Bohrer. Er lernte, Eiche und Kiefer zu formen und Taue zu knüpfen und zu spleißen. All das eignete er sich schon in frühen Jahren zusammen mit dem Gebrauch von Waffen an. Letzteres erwartete man von allen Jünglingen.
Als Thorgrim zu einem jungen Mann herangereift war, wurde er Hirdman eines Jarls mit Namen Ornolf, der auch als Ornolf der Rastlose bekannt war. Thorgrim begleitete Ornolf auf vielen Plünderfahrten, und schon bald wurde er vom Hirdman zum zweiten Mann hinter dem Jarl erhoben, was große Verantwortung mit sich brachte. Dieses Arrangement gab Ornolf mehr Zeit zum Essen und Trinken sowie für Frauen, die er allem anderen vorzog. In dieser Zeit erwies sich Thorgrims Können als Schiffsbauer immer wieder als genauso wertvoll wie seine Fertigkeiten mit Schwert und Schild.
Nach einigen Jahren war Thorgrim in Ornolfs Diensten reich geworden. Er kaufte sich einen eigenen Hof, und mit Ornolfs Segen heiratete er eine von dessen Töchtern, eine liebreizende Frau mit Namen Hallbera. Sie führten eine gute Ehe und lebten in Wohlstand, und Hallbera schenkte Thorgrim drei Kinder: einen Sohn mit Namen Odd, einen weiteren mit Namen Harald und eine Tochter mit Namen Hild. Alle drei waren gesund und stark und bereiteten Thorgrim große Freude.
Dann, als Hallbera schon älter war, wurde sie wieder schwanger, doch sie starb im Kindbett, und Thorgrim wurde von großer Trauer übermannt. Zu dieser Zeit waren Odd und Hild bereits verheiratet, und Harald und das Neugeborene, das Thorgrim nach seiner Mutter Hallbera nannte, waren die einzigen Kinder, die noch daheim lebten. Getreu seinem Namen war Ornolf der Rastlose begierig darauf, wieder auf Wiking zu fahren, und obwohl Thorgrim seinen Hof nicht mehr hatte verlassen wollen, erklärte er sich nach dem Tod seiner Frau bereit, ihn zu begleiten. Sein Sohn Harald wollte ebenfalls gehen. Der Junge war erst fünfzehn Jahre alt, aber breit und stark und ausgesprochen geschickt im Umgang mit Waffen, denn er übte damit, wann immer er konnte, und Thorgrim erlaubte ihm, sie zu begleiten.
Ornolf versammelte eine Mannschaft für sein Schiff Roter Drache, und sie segelten zum Land der Pikten und von dort über das Meer nach Irland. Das war im Jahr 852 nach dem christlichen Kalender, als Olaf der Weiße die Dänen aus Dubh-Linn vertrieb. In Irland erwarteten sie viele Abenteuer, sowohl unter den Iren als auch mit den anderen Nordmännern, die zu jener Zeit in großer Zahl nach Irland segelten. Obwohl sie anfangs nur einen Sommer lang hatten plündern wollen, blieben sie mehrere Jahre auf der Insel. In dieser Zeit wurde Ornolf der Rastlose getötet, und Thorgrim Nachtwolf wurde zum Anführer der Männer und kurz darauf Herr eines Longphorts mit Namen Vík-ló.
Einer der Krieger Thorgrims war ein Mann mit Namen Starri, der als Starri der Unsterbliche bekannt war. Nun war Starri ein Berserker, ein Auserwählter der Götter, der Wildeste in der Schlacht, und er verstand Dinge, die andere nicht verstehen konnten. Starri war sicher, dass Thorgrim ebenfalls von den Göttern auserwählt worden war und dass die ihm erst gestatten würden, Irland zu verlassen, wenn sie die Lust dazu verspürten. Thorgrim glaubte diese Worte zunächst nicht, doch jedes Mal, wenn er versuchte, die Insel hinter sich zu lassen, wurde er wieder zurückgeworfen, und so dauerte es nicht lange, da betrachtete er Starris Worte als wahr.
Im Frühling ihres dritten Jahres in Irland beschloss Thorgrim, von Vík-ló fortzusegeln, um an der irischen Küste auf Plünderfahrt zu gehen. Dort stieß er auf einen friesischen Kaufmann mit Namen Brunhard, einen ebenfalls sehr guten Seemann. Eine Zeitlang verfolgte Thorgrim den Friesen in der Hoffnung, ihn zu stellen und seine Schiffe zu plündern, doch Brunhard entwischte ihm immer wieder, was Thorgrim äußerst wütend machte. Schließlich gelang es ihm dann doch, Brunhard in die Falle zu locken, aber just in diesem Augenblick kam ein großer Sturm auf, der Thorgrims und Brunhards Schiffe an die Küste trieb, wo sie schwer beschädigt wurden. Einige wurden sogar zerschmettert.
Wieder einmal hatten die Götter Thorgrim und seine Männer an die irische Küste zurückgeworfen und sie blutend am Strand zurückgelassen. Und wieder einmal schwor Thorgrim Nachtwolf sich, er würde immer weitermachen, so lange, bis die Götter ihm endlich gestatteten, nach Hause zurückzukehren.
Und davon erzählt diese Geschichte …
Warum trauert ihr um ihn, meine Freunde?
Sein Tod war gut für einen Sterblichen,
wie eine Wolke, die zu den Heiligen im Himmel emporsteigt.
DIE ANNALEN VON ULSTER
Zwei Wälle umschlossen das Kloster von Ferns. Der innere bestand aus Stein. Er wurde Vallum genannt und diente nicht der Verteidigung, jedenfalls nicht vor irdischen Angriffen. Er war nicht höher als drei Fuß, und er umschloss die heiligsten Gebäude des Klosters – die Kirche und das Skriptorium –, wie auch einige, die zwar nicht ganz so heilig, aber trotzdem wichtig waren: die Zellen der Mönche, das Haus des Abts und das große Gebäude, in dem die Nonnen arbeiteten und wohnten.
Der zweite Wall befand sich über hundert Meter vom Vallum entfernt und war deutlich beeindruckender; ein zehn Fuß hoher Erdwall, gekrönt von einer Palisade. Zwischen dem Vallum und dem äußeren Wall lagen Felder, auf denen ein Großteil der Nahrung wuchs, mit der das Kloster versorgt wurde. Dazu kamen die Flechthütten der Laienbrüder, die die profanen Arbeiten für die Priester, Mönche und Nonnen übernahmen. Da gab es einen Brauer, einen Schmied und gleich mehrere Zimmerleute. Auch Ställe und eine Molkerei fanden sich hier.
Wie so viele andere Klöster in Irland auch war Ferns inzwischen weit mehr als nur ein heiliger Ort. Es war wie eine Eiche, die immer größer wird und schließlich allen möglichen Vögeln, Eichhörnchen und Insekten eine Heimat bietet. Und wie bei einer Eiche, so kam auch bei solch einem Kloster irgendwann einmal jemand mit einer Axt.
Tatsächlich waren die heidnischen Nordmänner schon mehrmals gekommen. Sie hatten geplündert, gebrandschatzt und versklavt. Doch das war nun schon länger nicht mehr passiert, und Abt Columb, der dem Kloster schon seit Jahren vorstand und noch viel länger dort lebte, gestattete sich die Hoffnung, dass Gott sie fürderhin vor diesem Übel bewahren würde.
Und vielleicht tat er das auch, doch die Nordmänner stellten nicht die einzige Gefahr für das Kloster dar. Jetzt waren wieder Männer mit Äxten eingetroffen, und sie hatten auch Schwerter, Speere und Schilde mitgebracht.
Abt Columb seufzte.
Da er auf einem Pferd saß – was zum Glück nur äußerst selten vorkam –, konnte er über das schwere Eichentor hinwegsehen, das den östlichen Ausgang des äußeren Walls versperrte. Durch die Tropfen, die von seiner Kapuze fielen, schaute er zu dem dichten Wald, der im starken Regen als dunkelbraune Masse dalag.
»Herr im Himmel«, murmelte er vor sich hin, »wenn du mir in deiner Gnade erlaubst, mir in diesem Regen den Tod zu holen, dann wäre das ein wahrlich großer Segen für mich.« Doch er glaubte nicht, dass Gott ihm seinen Wunsch einfach so gewähren würde. Er wandelte nun schon mehr als sechs Jahrzehnte auf dieser Welt, hatte Krankheiten und Verletzungen überstanden und gleich mehrere Plünderungen durch die Nordmänner. Da glaubte Columb nicht, dass ausgerechnet Regen ihm den Tod bringen würde, so kalt und stark er auch sein mochte.
Abt Columb nickte den verängstigt dreinblickenden Männern am Tor zu. Die erwiderten das Nicken, und einer von ihnen bekreuzigte sich sogar. Dann zogen sie mit aller Kraft, und das schwere Tor schwang auf.
Der Schlamm, auf dem das Pferd des Abtes stand, schien förmlich aus dem Tor zu fließen und in eine Straße überzugehen. Das war die Hauptstraße, die von Ferns zum Meer im Osten und über mehrere Abzweigungen nach Glendalough im Norden und Dumamase im Nordwesten führte. Was jenseits davon lag, kümmerte Abt Columb nicht.
An klaren Tagen konnte der Abt von dort, wo er jetzt saß, meilenweit über die grünen Hügel von Laigin sehen; doch an diesem speziellen Morgen hatte der Himmel sich verdunkelt. Die Hügel waren im Nebel verborgen, und hundert Bewaffnete hatten sich zu einer Schlachtreihe auf der Straße formiert. Abt Columb seufzte und trat seinem Pferd in die Flanken. Langsam trottete das Tier los. Hinter sich hörte der Abt, wie das Tor sich wieder schloss.
Für Kämpfer sahen die Männer nicht sonderlich Furcht einflößend aus, fand Columb. Jene auf den Flanken waren voll ausgerüstete Krieger, ohne Zweifel die Fürstenwache. Sie waren gut ausgebildet und ihrem Herrn treu ergeben. Doch die Männer im Zentrum wirkten nicht so kampflustig. Sie lehnten auf ihren Speeren und ließen die Schilde an den Seiten baumeln. Einige wenige hielten sie sich aber auch zum Schutz vor dem Regen über den Kopf, und Männer, deren größte Sorge es war, nicht nass zu werden, bereiteten sich nicht auf eine Schlacht vor.
Ein Dutzend Fuß vor der Schlachtreihe saß ein Mann auf einem Pferd und wartete. Das Pferd, ein Hengst, schwarz und mit langer Mähne, war wesentlich beeindruckender als der alte Gaul, auf dem der Abt ritt. Der Mann auf dem Hengst trug ein Kettenhemd und einen Helm, und er wurde von vier Leibwächtern flankiert. Auch er war beeindruckender als der Abt. Das war Airtre mac Domhnall, der Rí Túaithe des Landes östlich von Ferns; in den Augen des Abts ein Arschloch.
Abt Columb zügelte sein Pferd gut fünfzehn Fuß von Airtre mac Domhnall und seinen Männern entfernt. »So, Airtre, was führt dich zu meiner Tür?«, rief er. Seine Stimme war nicht mehr so kräftig wie früher, und das ärgerte ihn.
»Du weißt, warum ich hier bin, Abt«, erwiderte Airtre.
Columb schüttelte den Kopf. Natürlich wusste er, warum Airtre mit seinen Kriegern hier war, aber er wollte es trotzdem hören.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, was dich an so einem Tag hierherführt«, sagte der Abt deshalb.
»Du bist der Hüter des Schatzes von Sankt Aiden«, erklärte Airtre und hob die Hand, um einem Widerspruch des Abts zuvorzukommen. »Leugne nicht. Das wäre nur Luftverschwendung. Ich weiß, dass es den Schatz gibt. Das haben mir Männer erzählt, denen ich vertraue. Ein Teil des Schatzes gehört mir als Rí Túaithe, und jetzt bin ich hier, um diesen Teil einzufordern.«
Abt Columb seufzte.
»Du bist nicht der Rí Túaithe dieses Landes, und selbst wenn du das wärest, hättest du über die heilige Mutter Kirche keinerlei Autorität«, erwiderte der Abt. Airtre mac Domhnall wusste das natürlich ganz genau. Er wollte auch keine Steuern eintreiben. Er wollte das Kloster plündern und suchte nur nach einer Rechtfertigung dafür.
»Darüber lässt sich streiten«, entgegnete Airtre, wischte sich den Regen aus dem Gesicht und strich mit den behandschuhten Fingern über seinen Bart.
»Tuathal mac Máele-Brigte ist der Rí Ruirech, der Hochkönig«, sagte der Abt. »Wenn du das Gefühl hast, Anspruch auf einen Teil eines nicht existierenden Schatzes zu haben, dann solltest du das mit ihm besprechen.«
Airtre lächelte. »Tuathal ist weit weg von hier, und er hat alle Hände voll damit zu tun, seine Familie davon abzuhalten, ihm den Hals durchzuschneiden … und ich glaube nicht, dass ihm das gelingen wird.«
Das stimmte, und Columb wusste das. Am Hof des Hochkönigs tobte ein Machtkampf. Es ging um die Herrschaft über Laigin. Solche Machtkämpfe waren nichts Ungewöhnliches, und Airtre profitierte nur allzu gerne von dem Chaos.
»Schau mal«, fuhr Airtre fort, und Columb hörte deutlich, dass der Mann allmählich die Geduld verlor. »Ich bin das Gequatsche leid. Bitte, öffne jetzt das Tor, und lass meine Männer rein. Ich will dem Kloster nichts tun. Ich will nur, was mir zusteht.«
»Du bist wahrlich ein Mann Gottes«, erwiderte Columb in leidenschaftslosem Tonfall und ohne auch nur einen Hauch von Spott. »Ich kann nichts tun. Selbst wenn ich das Tor nicht öffne, würden unsere armseligen Erdwälle dich nicht lange aufhalten. Gestatte mir nur, die Nonnen vorzuwarnen, damit sie sich in ihr Haus zurückziehen können. Dann werde ich dir das Tor öffnen.«
»Meinetwegen, Abt«, knurrte Airtre. In seiner Stimme lagen sowohl Triumph als auch Misstrauen. »Einer meiner Krieger, Ailill, wird dich begleiten, wenn du nichts dagegen hast.«
Abt Columb zuckte mit den Schultern. Das war ihm egal. Der Mann links von Airtre ritt nach vorn. Der Abt wendete sein Pferd, und Seite an Seite ritten der Geistliche und der Krieger zum Klostertor, das für sie aufschwang.
Der Schatz von Sankt Aiden …, sinnierte Columb, während er durch den dichten Regen ritt. Die uralte Geschichte plagte ihn schon seit Jahren. Tatsächlich hatten bereits alle Äbte vor ihm unter der Legende gelitten. Natürlich glaubte niemand, dass der heilige Aiden, der das Kloster vor fast dreihundert Jahren gegründet hatte, persönlich den Schatz angehäuft hatte. Das war schlicht ein Name, dem man diesem angeblichen Gold- und Silberschatz gegeben hatte, der sich irgendwo innerhalb der Mauern verbergen sollte und der so gut versteckt sein sollte, dass ihn die Nordmänner stets übersehen hatten, wann immer sie über das Kloster hergefallen waren.
Weder Columb noch sonst irgendjemand wusste, wo diese Legende ihren Ursprung hatte. Ferns war zwar wirklich ein reiches Kloster, doch nur der Abt und ein paar wenige wussten, warum das so war; und mit einem Schatz hatte das nichts zu tun.
Wenigstens ist er nicht in die Hügel raufmarschiert, dachte Columb. Dass Männer wie Airtre oder die Heiden stets direkt im Kloster nach Reichtümern suchten und gar nicht erst auf die Idee kamen, in die Hügel im Norden zu ziehen, war einer der wenigen Vorteile der Legende vom Schatz. Fast war diese Tatsache sogar den Ärger wert, den Leute wie Airtre verursachten.
Der Abt schaute zu dem Mann mit Namen Ailill, der neben ihm ritt. Sie lenkten ihre Pferde durchs Tor. Columb zog an den Zügeln, und das Tier bog nach rechts ab. Ailill folgte ihm.
Der Mann blickte überheblich drein. Das war ja so typisch für diese jungen Krieger, dachte Columb. Hinter dem Tor standen Dutzende Bewaffnete und Berittene, die Männer des Abts, die er bis jetzt vor den Augen des Feindes verborgen hatte. Columb versuchte noch nicht einmal, seine Befriedigung zu verbergen, als er sah, wie der Hochmut von Ailills Gesicht verschwand und erst Überraschung, dann Panik wich.
Ailill schnappte hörbar nach Luft, doch bevor er sich auch nur räuspern konnte, hatten vier Männer ihn gepackt und zogen ihn aus dem Sattel und in den Schlamm. Drei Männer fixierten ihn mit Füßen und Beinen, und der vierte drückte Ailills Gesicht in den nassen Schlamm, damit er nicht schreien konnte.
Über dem jungen Krieger stand Bruder Bécc mac Carthach mit gezogenem Schwert. Bruder Bécc trug einen gepolsterten Waffenrock und darüber ein Kettenhemd. So gut wie nichts an ihm deutete darauf hin, dass es sich bei ihm um einen Mönch handelte, außer dem großen, schlichten Holzkreuz, das an einem Lederband um seinen Hals baumelte.
Bécc schaute zu Columb hinauf. Das lange dunkle Haar klebte ihm am Kopf. Nur ein Auge, das linke, war in einem halb zerstörten Gesicht zu sehen. Das andere Auge hatte Bécc zusammen mit dem Fleisch auf seiner rechten Gesichtshälfte durch das Schwert eines Nordmanns verloren, in einem Kampf, lange bevor Bécc Zuflucht im Schoß von Mutter Kirche gesucht hatte.
Allein dass der Mann durch den Hieb nicht gestorben war, war schon unglaublich. Narbengewebe bedeckte seine gesamte rechte Seite, und Bécc hatte Gott für sein Leben gedankt und geschworen, sich fortan dem Dienst am Herrn zu widmen. Doch er diente Gott nicht nur im Gebet, sondern auch mit seinen ganz speziellen Fähigkeiten.
Nun blickte er wie immer zu Columb und wartete auf Befehle. Columb schüttelte den Kopf. Sagen musste er nichts, und so wusste Ailill noch nicht einmal, dass der Abt ihm gerade das Leben geschenkt hatte. Bécc winkte einem seiner Männer, der sofort zu ihm trat und Airtres sich windenden Krieger fesselte und knebelte.
Columb wandte sich von Ailill ab, der noch immer im Schlamm lag, und schaute zu einem weiteren Berittenen. Auch dieser Mann trug ein Kettenhemd sowie einen Helm auf dem Kopf und hatte das Schwert gezogen. Er beobachtete das Ganze aus einer Entfernung von gut einem Dutzend Fuß. Der Mann erwiderte Columbs Blick. Der Abt nickte abermals, und genau wie Bécc, so wusste auch dieser Mann sofort, was der Abt von ihm verlangte.
Der Berittene, ein Mann mit Namen Faílbe mac Dúnlaing, hob sein Schwert und rief: »Vorwärts! Vorwärts!« Dann trat er seinem Pferd in die Flanken, und das Tier sprang voran. Seine Männer folgten ihm und galoppierten an Abt Columb und seinem müden Gaul vorbei, gefolgt von vierzig Mann zu Fuß, alle mit Speeren und Äxten bewaffnet, und viele trugen auch Lederpanzer und Schilde. Faílbe war der Rí Túaithe des Landes westlich von Ferns, ein Freund des Klosters, wohlhabender als Airtre und bald auch noch reicher, sobald Columb ihn für die Vertreibung von Airtre bezahlen würde.
Als die Männer, die sich zur Verteidigung von Ferns versammelt hatten, aus dem Tor stürmten, schwang sich auch Bruder Bécc aufs Pferd und führte die zwanzig Krieger des Klosters hinterher, um sich an der Seite Faílbes in den Kampf zu stürzen. Columb gebot vielleicht nicht über den Schatz von Sankt Aiden, aber er war auch nicht arm.
Als die letzten Krieger an ihm vorbeiliefen, wendete Columb sein Pferd und ritt ein paar Schritte bis zu einer Stelle, von wo aus er durch das noch immer offene Tor aufs Schlachtfeld sehen konnte … das heißt, falls man das, was dort geschah, denn als »Schlacht« bezeichnen wollte.
Dass berittene Krieger aus dem Klostertor strömten, schien Airtre und seine Männer vollkommen zu überraschen. Für gewöhnlich stritten Iren nicht zu Pferd. Sie nutzten die Tiere eigentlich nur, um auf das Schlachtfeld zu gelangen. Dann stiegen sie ab und kämpften zu Fuß. Doch Columb und Faílbe waren gemeinsam zu der Überzeugung gelangt, dass der Anblick heranstürmender Pferde vermutlich schon ausreichen würde, um Airtres Männer in die Flucht zu schlagen.
Und sie sollten recht behalten. Dank des Regens, der Entfernung und des Gedränges konnte Columb zwar nicht viel erkennen, aber er sah, dass Airtres Männer panisch nach den Schilden griffen, die Waffen hoben und sich auf den Aufprall der Reiter vorbereiteten.
Airtre und seine Leibwache ließen sich von dieser Überraschung allerdings nicht so leicht einschüchtern. Sie setzten sich sofort in Bewegung und ritten der Bedrohung mit erhobenen Schwertern und eingelegten Speeren entgegen. Doch Faílbes Männer ignorierten sie einfach und griffen stattdessen die Leichtbewaffneten in der Schlachtreihe an.
Und es funktionierte genau so, wie Abt Columb gehofft hatte. Die Reiter waren noch gut fünfzig Fuß von den Kriegern entfernt, als die ersten von Airtres unglücklichen Bauernkriegern die Waffen wegwarfen und rannten. Beinahe sofort folgten ihnen die anderen. Als die Reiter schließlich die Stelle erreichten, wo die Schlachtreihe gewesen war, hatte sie sich bereits in Luft aufgelöst.
Doch trotz des schändlichen Rückzugs der meisten waren einige noch immer zum Kampf bereit. Airtre und seine Krieger waren schlicht viel zu stolz, um einfach so wegzulaufen, ohne vorher Widerstand geleistet zu haben, und so trieben sie ihre Pferde gegen die Angreifer. Sie stürmten mitten in Faílbes Reiter hinein, tauschten Schwerthiebe aus, stießen mit den Speeren zu und drehten sich mit ihren Tieren wie in einem seltsamen Tanz. Das Klirren von Stahl auf Stahl, untermalt vom Kriegsgeschrei der Männer, hallte durch den Regen.
Columb schaute interessiert zu. Die einzige Frage war, wie lange Airtre und seine Leibgarde das durchhalten würden, bevor auch sie die Flucht ergriffen, denn schließlich hatten ihn die meisten seiner Männer bereits im Stich gelassen. Dann, plötzlich, löste sich der erste von Airtres Kriegern aus dem Kampf, dann noch einer und noch einer. Sie rissen ihre Pferde herum und galoppierten über die verschlammte Straße davon. Die Fußkämpfer wiederum waren da schon fast nicht mehr zu sehen. Airtre brach den Kampf als Letzter ab, und das gerade noch rechtzeitig, bevor die Männer des Klosters ihm die Flucht abschneiden konnten.
Auch das war so geplant. Sosehr Columb Airtre, dessen Gier und Ehrgeiz auch verachtete, er wollte nicht für ein Gemetzel verantwortlich sein. Was Faílbe betraf, so hatte es ihm schon nichts ausgemacht, quer durchs Land zu reiten und sein eigenes Tuath ungeschützt zurückzulassen. Auch das Töten war ihm egal. Schließlich hatten die beiden sich jedoch darauf geeinigt, dass Faílbe die unverschämten Angreifer zwar vertreiben sollte, aber er sollte ihnen nicht hinterherjagen und sie erschlagen.
Und Faílbe hielt Wort. Seine Reiter jagten Airtre und dessen Männer nur ein kurzes Stück die Straße hinunter; dann zügelten sie ihre Pferde und schauten ihnen über die Felder hinweg hinterher. Als sie schließlich sicher sein konnten, dass die Möchtegernplünderer verschwunden waren und nicht so bald wieder zurückkehren würden, machten sie kehrt und ritten im Schritt zum Kloster zurück.
Ein paar Männer lagen allerdings doch auf dem Schlachtfeld. Sie waren verwundet oder vielleicht auch tot, und Abt Columb machte den Weg für einen Karren frei, der aus dem Tor fuhr, um sie einzusammeln. Faílbe und Bruder Bécc würdigten die Gefallenen keines Blickes, als sie an ihnen vorbeikamen. Gefolgt von ihren Männern ritten sie durchs Tor und hielten vor dem Abt an.
»Ich gratuliere dir zu diesem Sieg, den Gott dir in seiner Gnade gewährt hat«, sagte Columb. Faílbe nickte und lächelte schwach, als amüsiere ihn die Vorstellung, dass er diesen Sieg nur göttlicher Gnade zu verdanken habe. Bruder Bécc bekreuzigte sich jedoch und senkte den Kopf. Dann schaute er wieder auf.
»In der Halle warten Essen und Bier auf dich und deine Männer«, fuhr Columb fort. Das schien Faílbe zu gefallen.
Und tatsächlich gab es reichlich Bier und Essen. Das Herdfeuer in der Mitte des Raums flackerte so hoch, dass es fast drohte das Reetdach zu entzünden, und so dauerte es nicht lange, bis Faílbe und seine Männer wieder trocken und ihre körperlichen Bedürfnisse befriedigt waren. Mehr konnte Columb nicht tun. Um ihre geistigen Bedürfnisse musste er sich wohl kaum kümmern.
»Lasst uns das Glas erheben, mein Herr Abt«, sagte Faílbe.
Er und der Abt saßen am Kopf des Tisches, vor sich die Reste der Mahlzeit, und das Licht des Feuers tanzte über ihre dampfenden Kleider. Auch Bruder Bécc hatte Essen und Trinken vor sich, doch Columb vermochte ihm seine Gedanken nicht anzusehen. Das war nicht ungewöhnlich. Columb fragte sich allerdings, ob das an der stoischen Ruhe des Mönches lag oder an den schweren Verletzungen in Béccs Gesicht. Vermutlich hatte es mit beidem zu tun, schloss er.
Columb hob den Becher. Faílbe hatte bereits mehrere geleert, doch nach allem, was der Kleinkönig heute für ihn getan hatte, nahm der Abt ihm auch das nicht übel.
»Auf den Schatz von Sankt Aiden«, sagte Faílbe. Ein leichtes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, und Columb hob den Becher noch ein wenig mehr.
»Auf den Schatz von Sankt Aiden«, erwiderte Columb. »Möge er auch weiterhin nicht existieren. Als Kindergeschichte ist er schon Ärger genug. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was passieren würde, wenn es ihn wirklich gäbe.«
Die beiden Männer lächelten einander an. Und sie tranken. Bruder Bécc trank ebenfalls … und schwieg.
Dieser verdammte Schatz von Sankt Aiden, dachte Abt Columb.
»Ich danke dir, Faílbe mac Dúnlaing«, sagte Columb als Nächstes. »Ich danke dir, dass du dem Kloster zu Hilfe geeilt bist. Der Herr wird dich dafür belohnen.«
»Das will ich doch hoffen«, erwiderte Faílbe. »Ich kann alle Hilfe brauchen, die ich bekommen kann. Aber natürlich helfe ich dir auch gerne, mein Herr Abt. Wann immer ich kann. Allerdings bin ich vielleicht schon bald nicht mehr dazu in der Lage.«
»Herrscht Unruhe im Norden?«, fragte Abt Columb.
»Es herrscht Unruhe am Hof des Rí Ruirech, Tuathal mac Máele-Brigte«, antwortete Faílbe. »Einige aus seiner Familie würden ihm nur allzu gern den Hals durchschneiden, um die Herrschaft über Laigin zu erringen, und ich denke, das werden sie auch bald tun. Im Augenblick sind sie jedoch viel zu sehr mit ihren Intrigen beschäftigt, als dass wir uns hier Sorgen machen müssten. Doch wenn Tuathal getötet wird, dann könnte sein Nachfolger seinen Blick hierhin richten. Und sollte das geschehen, dann kann ich schon von Glück sagen, wenn er mich in Ruhe lässt, vom Kloster ganz zu schweigen.«
»Dann lass uns beten, dass es nicht so weit kommen wird«, sagte der Abt.
Ein plötzlicher Luftzug ließ die Kerzenflammen tanzen. Der Regen wurde lauter, und die beiden Männer hoben den Blick, als die Tür der Halle aufflog. Ein sehr nasser und sehr müder Bote stand in der Tür und schaute zwischen Columb und Faílbe hin und her, unsicher, mit wem er reden sollte. Schließlich blieb sein Blick auf dem Abt haften, und er lief auf ihn zu.
»Das verheißt nichts Gutes«, bemerkte Faílbe, während der Neuankömmling sich ihm und dem Abt näherte.
»Abt Columb?«, fragte der Mann, als er das Kopfende des Tisches erreichte und sich knapp verneigte.
»Ja, der bin ich«, antwortete Columb. »Und das hier ist Faílbe mac Dúnlaing, dem du ebenfalls die Ehre erweisen solltest.«
Der Mann schaute zu Faílbe, verneigte sich noch einmal ungeduldig und wandte sich dann wieder an den Abt. »Ich komme von Abt Donngal, aus dem Kloster von Beggerin«, sagte er.
Columb nickte. Das Kloster von Beggerin lag gut fünfzehn Meilen im Süden, direkt an der Mündung des Flusses Slaney. »Ja?«, hakte er nach.
»Der … der Abt hat mich gebeten, dir zu sagen, dass die Nordmänner gelandet sind!«, keuchte der Bote. Er war offensichtlich froh, seine Nachricht endlich überbracht zu haben. »Die Heiden! Es sind Hunderte und eine ganze Flotte von Schiffen. Und der Abt ist sicher, dass sie auf Blut aus sind!«
Columb nickte erneut. Er blieb auffällig ruhig. »Ich verstehe«, sagte er. »Und was möchte Donngal nun von mir?«
Der Bote straffte die Schultern und runzelte die Stirn. »Nun ja … Jeder, der Beggerin zu Hilfe eilt, sei Gott ein Wohlgefallen, hat der Herr Abt gesagt.«
Gott, jaja …, sinnierte Columb. »Ferns kann da leider nichts tun. Wir haben nur ein kleines Häuflein Krieger, nicht mehr als Beggerin.« Er drehte sich zu Faílbe um. »Und was sagst du? Kannst du deine Männer nach Beggerin bringen?«
»Nein«, antwortete Faílbe. »Sobald die Heiden mit Beggerin fertig sind, werden sie den Fluss hinaufkommen, und das heißt, sie werden in mein Land eindringen. Es ist meine Pflicht, mich zuerst um mein eigenes Volk zu kümmern.«
Columb drehte sich wieder zu dem jungen Mann um, der mit großen Augen vor ihm stand. »Bitte, sag deinem Abt, was du hier gehört hast, und danke ihm für die Warnung. Ich bin sicher, dass Gott Beggerin vor der Wildheit der Heiden schützen wird. Aber trockne dich zuerst, und iss und trink etwas. In solch einer Nacht werden die Heiden wohl kaum vor eure Tür ziehen.«