Perry Schmidt-Leukel
Wahrheit in Vielfalt
Vom religiösen Pluralismus
zur interreligiösen Theologie
Aus dem Englischen von Monika Ottermann
Bearbeitet und autorisiert von Perry Schmidt-Leukel
Meinen ehemaligen Studierenden und KollegInnen
der Universität Glasgow
und allen FreundInnen in dieser warmherzigen Stadt
Es gibt so viele Pfade zu Gott, wie es atmende Menschen gibt.
Traditioneller Hadith
»Wie viele Wege zu Gott gibt es?« –
»So viele, wie es Menschen gibt.«
Joseph Ratzinger
Salz der Erde
INHALT
VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE
1. EINE ERSTE ORIENTIERUNG
Religiöser Pluralismus
Interreligiöse Theologie
ERSTER TEIL
RELIGIÖSER PLURALISMUS
2. PLURALISTISCHE AUFBRÜCHE IM CHRISTENTUM
Das Entstehen der Pluralistischen Option
Dogmatische Voraussetzungen
Rettender Glaube
Gottesbegriff und Offenbarungsverständnis
Jesus Christus
Perspektiven und Entwicklungen
3. DAS JUDENTUM UND DIE VIELEN BUNDESSCHLÜSSE
Jüdischer Pluralismus: Ein Präludium
Der Traditionelle Hintergrund
Auf dem Weg zu einer Theologie der vielen Bundesschlüsse
»Keine Religion ist eine Insel«
4. ERGEBUNG IN EINE VON GOTT GEWOLLTE VIELFALT: ISLAMISCHER PLURALISMUS
Die Bedeutung von islām
Diversität und Universalität
Der Einfluss islamischer Mystik
5. IST DER HINDUISMUS EINE PLURALISTISCHE RELIGION?
Vivekanandas Darstellung des Hinduismus
Beobachtungen im historischen Rückblick
Propluralistische Tendenzen
Antipluralistische Tendenzen
Hinduistische Einstellungen gegenüber Islam und Christentum
Hinduismus und Pluralismus heute
Der Rechtsstreit zwischen der Ramakrishna-Mission und dem Staat von Westbengalen
Zur Position der Hindutva-Bewegung
Auf der Suche nach einem alternativen Pluralismus
6. DER SCHWIERIGE WEG ZUM PLURALISMUS IM BUDDHISMUS
Von Blindgeborenen, Elefanten und Flössen
Theravāda-Buddhismus und religiöser Pluralismus
Dogmatische Hindernisse
Zwei mögliche Ausgangspunkte
Pluralistische Ansätze im Mahāyāna-Buddhismus
Traditionelle Haltungen des Mahāyāna zur religiösen Vielfalt
Schritte in Richtung Pluralismus
7. PLURALISTISCHE TENDENZEN IN DEN CHINESISCHEN RELIGIONEN
Einheit und Verschiedenheit der Religionen in China
Daoistische und konfuzianische Einstellungen zur religiösen Vielfalt
Regulierter Pluralismus und Mehrfachzugehörigkeit
Pluralismus-Diskurse in der Gegenwart
ZWEITER TEIL
INTERRELIGIÖSE THEOLOGIE
8. VOM RELIGIÖSEN PLURALISMUS ZUR INTERRELIGIÖSEN THEOLOGIE
Pluralismen in den verschiedenen religiösen Traditionen
Religiöser Pluralismus und die Vision einer globalen Theologie
Religiöser Pluralismus versus religiöse Vielfalt?
Religiöser Pluralismus und die Notwendigkeit eines kontinuierlichen Dialogs
Ein erstes Zwischenergebnis
9. INTERRELIGIÖSE THEOLOGIE: PRINZIPIEN UND METHODIK
Vier Grundprinzipien einer interreligiösen Theologie
Theologischer Vertrauensvorschuss
Die Einheit der Wirklichkeit
Rückbindung an den interreligiösen Diskurs
Unabgeschlossener Prozess
Methodologische Fragen
Perspektivisch: die Bekenntnis-Dimension im Blick behalten
Imaginativ: mit den Augen des Anderen sehen
Komparativ: nach wechselseitiger Erhellung suchen
Konstruktiv: sich gegenseitig verändern
10. DER PROPHET UND DER SOHN
Der Sohn
»Der Sohn« in der Kritik
»Der Sohn«: Was ist gemeint?
Auf dem Weg zu einer Synthese
Der Prophet
»Der Prophet«: Was ist gemeint?
»Der Prophet« in der Kritik
Auf dem Weg zu einer Synthese
11. DER SOHN UND DER BUDDHA
Zwischen Dämonisierung und Heiligsprechung
Christliche Perspektiven
Buddhistische Perspektiven
Den Buddha anerkennen
Ein atheistischer Philosoph?
»Ein Bewusstsein von über der Welt her«
Den Sohn anerkennen
Ein Fazit
12. DER BUDDHA UND DER PROPHET
Geschichtliche Perspektiven
Der Buddha aus früher islamischer Sicht
Der Prophet aus früher buddhistischer Sicht
Dialogische Perspektiven
Das Problem identifizieren
Den Buddha anerkennen
Den Propheten anerkennen
13. AUF DEM WEG ZU EINER INTERRELIGIÖSEN SCHÖPFUNGSTHEOLOGIE
Die buddhistische Kritik an einem göttlichen Schöpfer
Bedeutsame Modifikationen
Synthetisierende Überlegungen
14. EINE FRAKTALE INTERPRETATION RELIGIÖSER VIELFALT
Die Theorie der Fraktale
Beobachtungen aus der interkulturellen Philosophie
Beobachtungen aus der vergleichenden Religionswissenschaft
Interreligiöse Theologie und die fraktale Interpretation religiöser Vielfalt
Die Grundidee
Anzeichen eines fraktalen Ansatzes in der interreligiösen Theologie der Gegenwart
Die Fruchtbarkeit der Theorie
LITERATUR
NAMENREGISTER
VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE
Religionen rufen Menschen zum Umdenken auf. Doch auch sie selber können dazu aufgefordert sein. Die religiöse Vielfalt und das vertiefte Verstehen des religiös Anderen fordern sie heraus, ihr eigenes Selbstverständnis neu zu überdenken, ihre Ansprüche auf Alleingültigkeit und Überlegenheit aufzugeben und mit dem Gedanken Ernst zu machen, dass Wahrheit in Vielfalt besteht. Mit anderen Worten, Religionen fordern sich gegenseitig dazu heraus. Dieses Buch zeigt, dass alle großen religiösen Traditionen zu einem solchen Umdenken in der Lage sind, dass dieser Prozess bereits begonnen hat und dass er ein neues Verständnis von Theologie mit sich bringt: als einer gemeinsamen, interreligiös durchzuführenden Aufgabe.
Wahrheit in Vielfalt führt meine Überlegungen, Argumente und Beobachtungen aus Gott ohne Grenzen (Gütersloher Verlagshaus 2005) weiter. Dort habe ich mich mit den Grundlagen einer christlichen Theologie der Religionen auseinandergesetzt, dabei für einen pluralistischen Ansatz plädiert und gezeigt, wie dieser sich konstruktiv auf den Dialog des Christentums mit Judentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus auswirkt. Gott ohne Grenzen endet mit einem Ausblick auf das, was ich dort als Konsequenz einer pluralistischen Religionstheologie bezeichnet habe, nämlich die Überführung der Theologie von ihren religions- und konfessionsspezifischen Ansätzen in eine interreligiöse Welttheologie.1 Wahrheit in Vielfalt beginnt, wo Gott ohne Grenzen endet. Das Buch zeigt, wie pluralistische Religionstheologie zu einer interreligiösen Theologie führt. Es diskutiert die Grundprinzipien und methodologischen Leitlinien einer interreligiösen Theologie und veranschaulicht ihr kreatives Potenzial an zentralen Fragestellungen aus dem Umfeld der drei universalen Religionen: Buddhismus, Christentum und Islam.
Für eine interreligiöse Theologie reicht es nicht aus, wenn sich nur christliche Theologen ein pluralistisches Verständnis religiöser Vielfalt zu Eigen machen. Der erste Teil des vorliegenden Buchs stellt daher die Ansätze zu einer pluralistischen Position in den großen religiösen Traditionen unseres Planeten vor und diskutiert die theologischen Probleme, denen sich die pluralistischen Ansätze innerhalb der verschiedenen Religionen stellen müssen. Auch in dieser Hinsicht führt Wahrheit in Vielfalt das Anliegen von Gott ohne Grenzen weiter, wo der pluralistische Ansatz nur für das Christentum entfaltet wird und pluralistische Ansätze in anderen Religionen eine eher kursorische Erwähnung finden.
Wahrheit in Vielfalt hält jedoch auch eine Entdeckung bereit. Hier nimmt ein Gedanke Gestalt an, der – wie ich jetzt sehe – schon lange in mir präsent war, ohne dass ich ihn hinreichend präzisieren konnte: der Gedanke, dass religiöse Vielfalt nicht völlig willkürlich und beliebig ist, sondern dass sich in ihr fraktale Muster zeigen. Das heißt, es bestehen signifikante Ähnlichkeiten zwischen den Strukturen interreligiöser und intrareligiöser Vielfalt. Oder anders gesagt, die Unterschiede zwischen den Religionen finden sich vielfach – modifiziert und in anderer Gestalt – auch als Unterschiede innerhalb der Religionen wieder. Denn wie wir heute weitaus deutlicher sehen, ist keine Religion homogen. Den Islam, das Christentum, den Buddhismus, usw. gibt es nicht als uniforme Gebilde. Vielmehr findet sich auch innerhalb einer jeden Religion eine enorme Vielfalt, deren Strukturen nicht selten jenen der globalen Religionsvielfalt entsprechen.
Diese Einsicht hat gewichtige Konsequenzen. Eine hiervon ist, dass es zwischen ökumenischer und interreligiöser Theologie mehr Kontinuität gibt, als man gewöhnlich denkt. Im religiös Anderen begegnet mir in veränderter Gestalt auch der Andere aus der eigenen Tradition. Wer bereit ist, der Vielfalt innerhalb der eigenen Religion einen positiven Sinn abzugewinnen, wird besser gerüstet sein, diesen auch in der inter-religiösen Vielfalt zu erkennen. Der Grund für diese fraktale Korrespondenz liegt vermutlich in den Strukturen von Geist und Psyche des Menschen. Die vielfältigen Erscheinungsformen von Religion scheinen hier bereits angelegt zu sein. Und so gibt es religiöse Vielfalt auch auf der Ebene des einzelnen Menschen: in Gestalt der unterschiedlichen Formen von Religiosität, die wir im Laufe eines Lebens durchschreiten, oder auch in Gestalt der sich zunehmend herausbildenden Formen hybrider und multireligiöser Identitäten.
Der Inhalt dieses Buchs beruht auf zwei Vorlesungsreihen. Das meiste Material des ersten Teils entstammt einer Vorlesungsreihe, die ich im Oktober 2014 auf Einladung von Professor Zhicheng Wang an der Zhejiang University in Hangzhou (China) gehalten habe. Wie schon in der Vergangenheit ist Hangzhou auch in der Gegenwart ein spannender Ort intensiver multireligiöser Begegnung. Zudem ist Hangzhou heute ein international anerkanntes Zentrum des wissenschaftlichen Studiums dieser Begegnung. Der zweite Teil enthält die überarbeitete Version der Gifford Lectures, die ich im Oktober 2015 an der Universität Glasgow halten durfte. Die Rückkehr an die Universität Glasgow mit ihrer mehr als fünfhundertjährigen Geschichte beeindruckender intellektueller Leistungen war eine wunderbare Erfahrung. Mein großer Dank gilt den namhaften Mitgliedern des Gifford-Komitees, die mir diese hervorragende Gelegenheit gegeben haben, meine Gedanken zur interreligiösen Theologie in einer so prestigeträchtigen Vorlesungsreihe vorzustellen und zu diskutieren.
Einige der im ersten Teil vorgestellten Ergebnisse meiner Forschungen wurden bereits in gekürzter Form in meinem Beitrag zu Twenty-First Century Theologies of Religions: Retrospection and New Frontiers (Religionstheologien des 21. Jahrhunderts: Rückblick und neue Ufer; Leiden: E. J. Brill, 2016), einer von E. Harris, P. Hedges und S. Hettiarachchi herausgegebenen Festschrift für Alan Race, veröffentlicht. Eine deutsche Variante von Kapitel 5 findet sich in Ordnungen religiöser Pluralität: Wirklichkeit –Wahrnehmung – Gestaltung, hrsg. von U. Willems, A. Reuter und D. Gerster (Frankfurt a.M.: Campus-Verlag, 2016). Kapitel 13 ist in Teilen die revidierte Version eines früheren Artikels in Ching Feng: A Journal on Christianity and Chinese Religion and Culture (Ching Feng: Zeitschrift für Christentum und chinesische Religion und Kultur) 10, Nr. 1–2 (2010–2011). Ich danke den Herausgebern für die Genehmigung, Teile dieser Veröffentlichungen im vorliegenden Buch zu verwenden.
Die hinter diesem Buch stehende Forschungsarbeit wurde weitgehend durch die Unterstützung des Exzellenz-Clusters »Religion und Politik« der Universität Münster (WWU) ermöglicht, der mir insgesamt drei Forschungsfreisemester gewährte. Heutzutage, wo das moderne Konzept vieler Universitäten darin besteht, ihre Professoren mehr als Forschungsmanager denn als Forscher zu verstehen, sind solche »Freistellungen« unschätzbar für jene unter uns, die noch an einem herkömmlicheren Bild unserer professoralen Berufung festhalten, dieser Berufung aber nur während solcher Freiräume nachgehen können.
Vielen habe ich zu danken, die ihren Teil beim Zustandekommen des vorliegenden Buchs beigetragen haben. Hinsichtlich der US-amerikanischen Erstausgabe danke ich Robert Ellsberg von Orbis Books für sein von Anfang an lebendiges Interesse an der Veröffentlichung meiner Gifford Lectures und seinem ganzen Team, das an der Produktion der amerikanischen Ausgabe beteiligt war. Meiner Frau Doris danke ich dafür, dass sie wiederum viel von ihrer Zeit dem Korrekturlesen des englischen Manuskripts gewidmet hat. Ich danke Paul Knitter, der am Zustandekommen der amerikanischen Ausgabe einen nicht unwesentlichen Anteil hatte und der nun gemeinsam mit Alan Race einen Band herausgebracht hat, der die hier entfaltete These von fraktalen Mustern in der religiösen Vielfalt aus multidisziplinärer, multireligiöser und multikultureller Sicht diskutiert.2 Herrn Diedrich Steen vom Gütersloher Verlagshaus danke ich für die langjährige gute Zusammenarbeit. Er war die treibende Kraft, die die deutsche Ausgabe ermöglicht hat. Frau Monika Ottermann danke ich für die sorgfältige Arbeit an der Übersetzung. Ich habe ihren Text geprüft und bearbeitet, sodass nun eine von mir autorisierte Fassung vorliegt. Die Übersetzung folgt eng dem Original; nur an wenigen Stellen habe ich einige kleinere Verdeutlichungen oder geringfügige Ergänzungen des Textes vorgenommen. Den MitarbeiterInnen des Gütersloher Verlagshauses, insbesondere Frau Gudrun Krieger, danke ich für die gewohnt professionelle, sorgfältige und engagierte Betreuung des Produktionsprozesses. Last but not least gilt mein Dank den Graphikern des Verlags für die Gestaltung der Titelseite: Das herrlich fraktale Flussdelta ist eine eindrucksvolle Metapher für die in diesem Buch ausgeführte Theorie.
1 Vgl. Schmidt-Leukel 2005a, 486-489.
2 Knitter, Race 2019.