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Alfred Komarek

Doppelblick

Roman

1

Es war Frühling und Heinz war tot. Um Daniel Käfer war es dunkel. Jene helle Welt, die sein Bruder verlassen hatte, lag irgendwo draußen. Hier drinnen war es kalt und still, keine Spur von Frühling. Aber es gab auch keine Schläge ins Gesicht, keinen Tritt in den Bauch, kein Niederdrücken.

Heinz war da. Tut mir leid, Daniel, dieser Abschied, aber gegen Magenkrebs war sogar ich als Anwalt machtlos – das Urteil unanfechtbar, gültig in letzter Instanz, das ist zu akzeptieren. Auch in der Schuldfrage bin ich einsichtig: zu viel Disziplin, zu viel Anspannung, zu viel Ärger in all den Jahren. Ich habe mein Leben schlecht behandelt und es hat sich mir entzogen. Nachher ist man klüger. Aber jetzt komm mit nach draußen, wir sollten dem Pfarrer die Ehre geben. Ich wusste nie etwas mit dem katholischen Glauben anzufangen, doch diesmal, na ja …

Das Gold da draußen, Heinz, die Sonne, der Weihrauch und diese verdammte Heiligkeit …

Komm schon, Daniel.

Käfer öffnete die Augen und schaute auf seine Hände. Dann hob er den Kopf. Die Basilika von Mariatrost am Stadtrand von Graz kannte er seit seinen Kindertagen. Sie war die Pfarrkirche der Familie Käfer. Das Elternhaus, später das Haus seines Bruders, stand am Fuß des Kirchberges, nicht weit vom Fischteich entfernt, der im Winter als Eislaufplatz genutzt wurde. Daniel war ein geschickter Eisläufer gewesen, wild und fantasievoll. Sein Bruder hatte es schon als Kind vorgezogen, sorgfältig und verlässlich seine Runden zu drehen, fernab jeder spielerischen Ausschmückung.

Und da lag er nun im Sarg, auf halbem Weg zwischen den Trauergästen und dem Priester, der den Toten sachte und feierlich den Seinen entzog, ihn an sich zog, um ihn einem geglaubten oder auch nur behaupteten Wesen in die unbegreiflichen Hände zu legen.

Der Volksaltar war schlicht, doch hinter dem Rücken des Pfarrers war der Tisch des Herrn kunstvoll und kostbar gedeckt und überhöht, all das Schimmernde, Glänzende strebte nach oben, wo es die Erdenschwere schon nicht mehr gab und Engel den Strahlenkranz der Gnadenmutter trugen. „Solatium vitae nostrae“, Trost unseres Lebens, stand über ihrem Haupt zu lesen. Auch Trost unseres Todes? Heinz Käfer war nicht besonders fromm gewesen. Eines Tages hatte er der Kirchenbeitragsstelle mitgeteilt, dass er es für sinnvoller erachte, die vorgeschriebene Summe fortan der Caritas zu überweisen. Auf einen Rechtsstreit lasse er es gerne ankommen. Immerhin brauche er wenigstens keine Anwaltskosten zu befürchten. Das Ansinnen wurde dann offenbar stillschweigend geduldet. Daniel Käfer hatte diesen letztlich wohlmeinenden Eigensinn seines Bruders immer sehr gemocht. Er lächelte, legte den Kopf in den Nacken und verlor sich im Hellblau der Kuppel, einem gemalten Himmel, bevölkert von jubilierenden Engeln angesichts einer nun vollends in höhere Sphären entrückten Maria. Auch der wirkliche, der profane Himmel war zugegen und schickte das kühle Sonnenlicht des späten Morgens durch Dachöffnungen mit schönem Gitterwerk. Käfers Blick folgte zwei langen Seilen tief hinunter in den Altarraum. An den Enden waren große silbrig glänzende Engel befestigt. Beide boten mit dem ausgestreckten rechten Arm je ein brennendes Herz dar. Als Kind hatten ihn diese geflügelten und doch unbeweglich schwebenden Gestalten fasziniert. Engel konnten ja fliegen, mit einer einzigen Ausnahme, Luzifer, der bekanntermaßen höllisch tief gefallen war. Warum aber hingen die Silberengel an Seilen? Vermutlich wollte man diese Himmelsboten so am Weiterfliegen hindern. Sie waren wohl dereinst zum höheren Ruhm dieser Kirche vom Pfarrer eingefangen worden, bestimmt unter Mithilfe eines unerschrockenen Mesners. Wohin waren sie damals unterwegs gewesen, wer hatte die brennenden Herzen bekommen sollen, welcher himmlische Auftrag blieb unerfüllt?

Daniel Käfer spürte eine Berührung auf dem Unterarm, wandte den Kopf und schaute in das Gesicht von Therese, der Witwe seines Bruders. „Der Trauergottesdienst, Daniel!“

„Was ist damit?“

„Du sollst ihm folgen und nicht träumen. Die Leute beobachten dich!“

„Ja, gut.“ Daniel Käfer hatte seine Schwägerin nach dem Tod ihres Mannes in ratloser Verzweiflung erlebt, wie sie weinte, so heftig und ausdauernd, wie er noch nie einen Menschen hatte weinen gesehen, wie sie dann aufschaute mit weit geöffneten Kinderaugen im nassen Gesicht und immer wieder fragte: „Was jetzt, Daniel, was jetzt?“

Ohne Heinz blieb für Therese nur noch wenig Sinnvolles übrig. Sie hatte ihn ausgefüllt mit bedingungsloser Liebe und ihn eingesponnen in umfassende Fürsorglichkeit, so eng, dass nicht einmal für Kinder Platz gewesen war. Was jetzt? Daniel Käfer hatte in den letzten Tagen mit Argwohn bemerkt, wie Therese ihn nachdenklich betrachtete.

Heute bot sie das eindrucksvolle Bild gefasster Trauer, wie es der Witwe eines angesehenen Anwalts zukam. Ein letztes Mal trat sie mit Heinz gemeinsam an die Öffentlichkeit und sie wollte keinen Zweifel daran lassen, dass diesem Ereignis in ihrem ganzen künftigen Leben nichts Vergleichbares folgen konnte.

Daniel Käfer hatte ihr beim Versenden der Traueranzeigen geholfen. Den meisten waren persönliche Einladungen zum Totenmahl beigelegt. Es gab nur noch wenige Verwandte, doch offenbar war Heinz mit zahlreichen Menschen vertraut gewesen und viele Namen kannte Käfer aus den Medien. Ob es nicht ein wenig familiärer zugehen könne, hatte er Therese gefragt. Das sei ohnedies nur der engste Kreis, war die würdevolle Antwort gewesen.

Heinz?

Ja, Daniel?

Wie soll ich von dir Abschied nehmen, vor all den Leuten?

Gar nicht. Komm morgen wieder, wenn das Theater vorbei ist. Dann regeln wir das unter uns.

Zum Teufel mit all dem Brimborium. Wenn früher ein Kartäusermönch gestorben ist, haben die trauernden Brüder die Kapuze über sein Gesicht gezogen und ihn ohne Sarg im Garten begraben. Dein Garten ist doch wunderschön, Heinz.

Und du wüsstest mich lieber dort, nicht wahr?

Ja. Ohne kalten Grabstein. Könntest du dich mit einem Kirschbaum anfreunden, weiße Blüten im Frühjahr und im Sommer Früchte, dunkelrot und zum Platzen reif?

Hör auf damit, Daniel.

Warum?

Meine Frau … Und jetzt schnell, bevor die Sargträger kommen. Dann ist es nämlich mit der Nähe erst einmal vorbei. Mit meinem Leben habe ich nichts mehr zu schaffen. Aber vielleicht könntest statt mir du dich seiner annehmen, so nebenbei, meine ich? Dann ging’s ja doch irgendwie weiter …

Ich will es gerne versuchen, großer Bruder. Und irgendwie ist mir leichter.

Als die Träger den Sarg auf ihre Schultern hoben, kämpfte Daniel Käfer dann doch mit den Tränen. Er legte seinen Arm um Therese, zog sie an sich, spürte ihren Widerstand, ließ los, erhob sich und folgte mit ihr dem Priester und dem Toten zum Kirchentor. Von oben schwebte Orgelklang in den Raum, füllte ihn aus, und als Käfer den Kopf hob, sah er zwischen silbrigen Pfeifen und goldenem Zierrat Engel tanzen. Sie freuten sich wohl über einen, der das irdische Jammertal verlassen durfte. So betrachtet sollte eigentlich die ganze Trauergesellschaft tanzend und jubilierend dem Verblichenen auf seinem Weg himmelwärts folgen. Na ja, unterwegs zum Fegefeuer wäre dann allenfalls verhaltenes Frohlocken angebracht, und ginge es darum, einen zur ewigen Strafe verdammten Sünder höllenwärts zu tragen, bliebe nur noch betretenes Schaudern. Für einen Augenblick gelang es Käfer, diesen Gedanken originell zu finden. Er nahm auch den Frühlingstag wahr, flüchtiges Pastell, eingehüllt in dünnes Sonnenlicht, sah die hellen Blüten im Laub der Hainbuche neben jener altmodischen Jausenstation, in der es nebenbei auch alles zu kaufen gab, was ein frommer Mensch so brauchte für Leib und Seele.

Dann aber legte die Blasmusik dunkel tönende Schatten über das Bild und der Trauerzug setzte sich in Bewegung.

Daniel Käfer fühlte sich schwer und müde. Ohne viel darüber nachzudenken, war er davon überzeugt gewesen, dass ein alter, zäher Anwalt wie sein Bruder nur noch älter und noch zäher werden konnte, nicht aber sterben. Und jetzt war es aus, einfach so.

Flucht … weggehen, ein paar Schritte nur, sich auf die Wiese legen, Gras und Erde riechen und den Himmel zur Hölle wünschen. Unmöglich, schon gut. Also dieses Begräbnis hinter sich bringen, später mit Heinz ins Reine kommen und ihn mitnehmen in die eigene Lebenszeit. Ja, und Therese …, natürlich ein paar Tage bei ihr bleiben, ihr auch später helfen, so gut es ging.

Der Friedhof. Begehen der Wege auf eigene Gefahr. Mitbringen von Hunden und Rauchen nicht gestattet. Fahrradfahren verboten. Gegen Münzeinwurf zu entnehmende Gießkannen, adrette Abfallkörbe: ein kleiner, beschaulicher Totengarten am Abhang des Kirchberges. Steinstufen, schmale Kieswege, ein etwas breiteres Asphaltband, dem der Trauerzug folgte. Im unteren Teil des Friedhofs, von hochgewachsenen Fichten umstanden, das Familiengrab. Jetzt erst sah Käfer, wie viele Menschen gekommen waren, wie sich die Ordnung nun zwischen den Gräbern auflöste, den Friedhof anfüllte, ja überflutete: unzählige schwarze und graue Gestalten zwischen Gras und Blumen. Grabreden, verhalten pathetisch oder anmaßend schlicht, letzte Zeremonien, ein kraftloses Flattern zwischen himmlischer Verheißung und der Gewissheit des offenen Grabes. Als der Sarg ins Dunkel sank, wäre Daniel Käfer seinem Bruder gerne gefolgt, aber er musste wohl hier oben bleiben, im Licht und zwischen den Leuten. Er warf Erde und Blumen hinab, stand da an Thereses Seite, schüttelte Hände und murmelte Dankesworte. Etwas war in ihm zerrissen, bis auf einen sehr dünnen Faden.

Als er bemerkte, dass seine Schwägerin anhub, sich mit düsterer Sorgfalt ihren gesellschaftlichen Pflichten zu widmen, suchte er das Weite und fand zwischen erstaunt blickenden Trauergästen den Weg nach draußen. Er verließ den Friedhof, ging die paar Schritte zum Kirchenwirt hinüber, wo im großen Saal die Tafel für das Totenmahl gedeckt war. Käfer setzte sich aber in den Kastaniengarten, bestellte Rotwein, wartete, bis sich der Ober mit diskretem Kopfschütteln abgewandt hatte, hob das Glas, dachte an Heinz und trank.

2

Als Therese nach ein paar Tagen damit anfing, „Männer sind ja so hilflos“ zu murmeln, während sie ihm vor dem Frühstück prüfend übers Haar strich, den Hemdkragen zurechtrückte oder unsichtbare Fädchen und Flusen vom Sakko zupfte, bereitete Daniel Käfer mit sanftem Nachdruck seine Abreise vor. Das Einverständnis war ohnehin nicht mehr ungetrübt gewesen, seit er beim Totenmahl – gedrängt, doch endlich auch etwas zu sagen – nicht mehr ganz nüchtern Matthias Claudius zitiert hatte, erst gefährlich grollend, dann zunehmend lauter, schreiend am Ende. „Ach, es ist so dunkel in des Todes Kammer / tönt so traurig, wenn er sich bewegt / und nun aufhebt seinen schweren Hammer / und die Stunde schlägt.“ Das darauffolgende, peinlich berührte Schweigen hatte er zu einer Variation genützt, die ihm eigentlich noch besser gefiel: die erste Zeile als Aufschrei, die letzte als brüchiges Flüstern. Immerhin war tags darauf in der „Kleinen Zeitung“ eine recht hübsche Glosse zum Thema „Der Publizist und die Pietät“ erschienen.

„Wer schaut auf dich in Hamburg?“, fragte Therese, als das bestellte Taxi vor dem Haus hielt. Sein Grinsen war so unverschämt, dass sich seine Schwägerin errötend abwandte.

Käfer war viel zu früh am Flughafen, dann aber ziemlich verspätet in Frankfurt. Missmutig hastete er über endlos scheinende Laufbänder und erwischte gerade noch den Anschlussflug. Weil er privat unterwegs war, hatte er Economy gebucht, musste das lauwarme Bier bezahlen und auch eine elastisch-zähe Käsesemmel, die nach gebrauchten Socken roch. Erst gegen Abend erreichte er jene altmodische Villa an der Außenalster, deren zweiten Stock er bewohnte. Er hatte Susi Dolhun, seine polnische Haushälterin, von Graz aus angerufen und sie gebeten, für ihn einzukaufen. Sie hatte es wie immer gut mit ihm gemeint, Käse, Oliven, Weißbrot und Bordeaux besorgt, dazu noch Rohschinken. Daniel Käfer schnupperte daran: Serrano, wie schön. Er deckte den Tisch im Erker mit dem großen Fenster zum Wasser hin, goss Wein ins bauchige Glas und lehnte sich aufatmend zurück. Dann spürte er einen bitteren Geschmack im Mund, schob die Sachen von sich und schloss die Augen. Heinz war tot. Verdammt noch einmal, Heinz war tot.

Ein schwerer Kopf am nächsten Tag: zu viel Wein, nichts gegessen. Aber auch keine Therese. Daniel Käfer gehörte wieder sich selbst. Noch zwei Tage Urlaub, noch zwei Tage Zeit, wofür auch immer. Sabine hätte ihm jetzt gut getan, ihre behutsame Nähe und ihr unbestechlicher Sinn für das Notwendige. Aber sie fotografierte auf den Äußeren Hebriden schottische Schafe. Ihrem Brief, den Käfer vorgefunden hatte, waren Fotos beigelegt: verwegen dreinblickende Tiere mit wehendem Fell. Gemeinsam mit einem jungen und recht erfolgreichen Autor betrieb Sabine seit Wochen Schafs-Studien, die belegen sollten, dass diese Tiere überall in Europa den jeweiligen Nationalcharakter verkörperten: tüchtig und vierschrötig die deutschen Schafe, freundlich und harmlos die österreichischen, hager und stolz die spanischen und so weiter. Käfer hatte es angesichts der aktuellen Medienlandschaft kaum glauben können, dass eine Zeitschrift bereit war, dieses verschrobene Vorhaben zu verwirklichen. Sogar ein kleiner Bildband war geplant, und die Europäische Union hatte Unterstützung zugesagt. Ja doch, es lief ganz gut in letzter Zeit, auch für ihn. Seine Arbeit im Medienkonzern Kappus & Schaukal wurde anerkennend wahrgenommen, und nun, schon nach wenigen Monaten, stand Käfer vor einem beachtlichen Karriereschritt. Er versuchte sich darüber zu freuen, doch es gelang ihm nicht recht. Noch mehr Arbeit kam auf ihn zu und noch weniger Zeit für Privates. Sabine hatte er seit Wochen nicht mehr gesehen. Allerdings glaubte er kaum, dass sie ihn vermisste, unter all den reizenden Schafen und mit diesem Partner. Er sah die beiden vor sich, abends im Pub, die Gesichter vom salzigen Wind gerötet, müde, aber vergnügt, und neugierig auf den nächsten Tag.

Käfer schaute zum Fenster hin. Schon in der Nacht hatte es begonnen stark zu regnen. Er war vom Geräusch der schweren Tropfen aufgeweckt worden, die der Wind gegen die Scheiben wehte. Schön, dieser Regen in Hamburg, der das stumpfe Grau der Alster, ihrer Seitenarme und Kanäle mit dem helleren Grau des Himmels verwob. Wenn es regnete, schien auch die gut hundert Kilometer weit entfernte Nordsee näher zu sein, glaubte Daniel Käfer den Atem von Ebbe und Flut bis tief in die Stadt hinein wahrzunehmen. Er stand auf und öffnete das Fenster, spürte kühle, feuchte Luft im Gesicht – Luft, ja, die brauchte er jetzt, und er brauchte mehr davon, viel mehr.

Nicht nur bei diesem Wetter blieb er am adrett begrünten Ufer der Alster fast allein. Wer hier wohnte, legte fernab plebejischer Vermengung Wert auf ungestörtes Privatleben im Haus und allenfalls im Garten dahinter. Die reich gegliederten Fassaden der Villen schauten nobel, hochmütig oder wenigstens untadelig gepflegt übers Wasser und nicht eine davon wirkte einladend oder gar freundlich.

Es dauerte eine Weile, bis Käfer aufhörte zu grübeln, noch länger, bis seine Gedanken nur noch den Schritten folgten, dem Regen und den grauen Bildern ringsum. Er hatte nicht vor, an irgendein Ziel zu kommen, war aber mit einiger Ungeduld unterwegs, als wolle er möglichst rasch etwas hinter sich bringen. Nach und nach begann ihm der Regen unangenehm zu werden, er spürte kühle Nässe überall auf der Haut. Na gut, vielleicht hundert Meter noch, bis zu dem Holzhäuschen da vorne, und dann umkehren, heimkommen, das nasse Zeug ablegen, herrlich heiß duschen. Am Wendepunkt angelangt, blieb Daniel Käfer erst einmal stehen und schaute über die Wasserfläche zu einer winzigen Insel hin. Merkwürdig, wie stark der Regen die Konturen verwischte, wie bewegt die eintönige Landschaft wirkte. Vielleicht waren aufsteigender Dunst und Nebel im Spiel.

Dann zerriss jäher Kopfschmerz seine Gedanken, Übelkeit stieg in ihm hoch, Wasser und Land fingen an vor seinen Augen zu tanzen, sich immer schneller zu drehen. Er griff erschrocken an die Stirn, taumelte und suchte Halt. Irgendwann stießen seine Beine gegen etwas Hartes, eine Bank, gottlob. Wie betrunken ließ sich Käfer fallen, saß schwankend da und versuchte verzweifelt wieder klar zu sehen. Er brauchte Hilfe, ganz rasch, bevor alles vorbei war. Doch von den wenigen Menschen, die er glaubte wahrzunehmen, blieb keiner stehen: verwirrt, der Mann, und dann auch noch alkoholisiert in dieser distinguierten Gegend … die Zeiten, die Zeiten.

Jemand schob ein Fahrrad, über und über mit prall gefüllten Plastiktüten behängt, durch den Regen. Das Rad wurde an die Bank gelehnt, Käfer spürte Atem im Gesicht, der nach Schnaps und schlechten Zähnen roch. „Na, was denn?“ Der Mann öffnete Käfers Regenjacke, suchte in den Taschen und ließ sich von matter Gegenwehr nicht stören. Er fand das Handy, dachte nach, kratzte sich am Kopf. „Sie da! Der Notruf, welche Nummer?“

„112 … und dann die Taste mit dem Telefonhörer drücken.“

Erst gegen Abend brachte ein Taxi Daniel Käfer nachhause. Er war noch immer unsicher auf den Beinen, doch die Kopfschmerzen waren erträglich und die Sehstörungen fast verschwunden. In der Wohnung angelangt, ließ er sich behutsam auf dem nächstbesten Sessel nieder.

Weltuntergang sei das keiner, hatte ihn der Arzt in der Notfall-Ambulanz beruhigt. Das Innenohr habe verrückt gespielt, ein Menière-Syndrom. So etwas könne schon einmal passieren, wenn einem alles zu viel wird. Käfer hatte im Krankenhaus eine Infusion bekommen, später dann eine Packung Tabletten mit auf den Weg und den dringenden Rat, rasche Bewegungen in den nächsten Tagen zu vermeiden, ja, und Stress natürlich generell. Er legte die Medikamentenschachtel vor sich auf den Tisch und schloss die Augen. Kein Weltuntergang, na gut, aber ein gehöriger Schrecken, der bittere Vorgeschmack auf Schlimmeres womöglich. Er grinste. An sich nicht gar so übel, Heinz ja doch früher wieder zu sehen als gedacht, ihn womöglich auf einer Wolke frohlockend anzutreffen. Daniel Käfer hatte aber seine Zweifel daran, ob es da jenseits, oben oder irgendwo oder nirgendwo etwas Vorstellbares, Fassbares gäbe. Es war wohl besser für ihn, erst einmal sein diesseitiges Dasein wohnlicher einzurichten. Das hatte sehr viel mit Sabine zu tun, aber auch mit seinem Berufsleben. Sabine war bei ihren Schafen. Also erst einmal der Beruf.

Am nächsten Morgen rief er bei Kappus & Schaukal an und bat um ein dringliches Gespräch mit Konrad Klett, den er als aufrichtigen Mann schätzte. Heike Feddersen, dessen Assistentin, genannt das „Vollzugsorgan“, konnte Wünschen, die in ihrer penibel ausgetüftelten, strategisch gestaffelten und diplomatisch ausgewogenen Terminplanung nicht vorgesehen waren, wenig abgewinnen.

„Darf ich wissen, worum es geht, Herr Käfer?“

„Ums Prinzip.“

„Bei Männern doch wohl immer. Und Sie können das nicht präzisieren?“

„Doch, kann ich, Herrn Klett gegenüber.“

„Sie machen es mir nicht leicht Herr Käfer. Ich werde nachfragen.“

„Danke.“

Er legte den Hörer auf und starrte grübelnd auf das Telefon. Na klar, er würde Klett um Verständnis für seinen Entschluss bitten, Lebensqualität der Karriere vorzuziehen. Aber was wollte er konkret? Als ob er je etwas konkret gewollt hätte, auf seinem mäandrierenden Weg …

3

Daniel Käfer schaute zum Fenster hin, weil er etwas vermisste. Tatsächlich: kein Regen mehr, das Grau fing an, verhalten zu leuchten, auf dem Parkettboden konnte er mit einigem guten Willen flüchtige Schattenbilder erkennen, Konturen, wie sie ganz nach seinem Geschmack waren: nichts Genaues, nichts Verbindliches, schon gar nichts Dauerhaftes. Er fühlte sich gut und er hatte Hunger. Es war noch Serrano im Kühlschrank, auch Käse, Cheddar, mit seinem leuchtenden Gelb schlichtweg unwiderstehlich für Käfers kindlich gebliebenes Gemüt. Das Weißbrot war angetrocknet, die Kruste hart, aber es schmeckte. Er nahm kochendes Wasser vom Herd, ließ es ein wenig abkühlen, goss Grünen Tee auf, Genmaicha, und freute sich auf das feine Aroma von gerösteten Reiskörnern. Ach ja, Musik … Respighi vielleicht? Nein, er zog es dann doch vor, diesen Morgen an der Alster mit Yehudi Menuhin und Stéphane Grappelli in beschwingte Unruhe zu versetzen: Jealousy, Sweet Georgia Brown, Tea for two … Weit öffnete er das Fenster, damit die Vögel draußen mitzwitschern konnten und die wenigen Passanten einen Grund fanden, angesichts dieser akustischen Unverfrorenheit ihre gemessenen Schritte empört zu beschleunigen.

So zwischendurch nahm er einen Anruf von Frau Feddersen entgegen: Er möge doch bitte morgen um elf zur Stelle sein, und es sei nicht leicht gewesen, so kurzfristig etwas zu arrangieren. Aber die Sache schien ihr dringlich zu sein. Ist sie doch? Käfer überhörte die Frage, bedankte sich und aß weiter. Morgen um elf also …, eigentlich war alles ganz einfach. Es ging darum, überzeugend zu erklären, warum er den angebotenen Karriereschritt nicht tun wollte, und Konrad Klett anschließend zu bitten, mit ihm gemeinsam über Alternativen nachzudenken. Daniel Käfer hatte auch schon einen Satz im Kopf, der die Sache auf den Punkt bringen sollte: Ich will mich einbringen, nicht umbringen. Überdies nahm er sich vor, noch heute, an seinem letzten freien Tag, ins Büro zu gehen, die Post zu sichten und ein paar Gespräche zu führen, damit er Klett gut vorbereitet und aktuell informiert entgegentreten konnte.

„Herr Käfer, wie schön, Sie zu sehen!“

„Meinen Sie das wirklich, Frau Feddersen?“

„Ich meine immer, was ich sage.“ Mit einer kleinen, aber nachdrücklichen Geste rückte sie ihren Terminkalender zurecht. Jetzt waren seine Umrisse exakt parallel zur restlichen Umgebung. Frau Feddersens Schreibtisch war ungewöhnlich groß und er stand in einem Büro von überaus repräsentativen Dimensionen. Konrad Klett hingegen, wusste Käfer, begnügte sich mit einem deutlich kleineren Raum. Neben dem einfachen Schreibtisch fanden noch ein altmodisches Stehpult mit Rollladen und eine kleine Sitzgruppe Platz. Auf dem runden Tischchen stand eine Kaffeemaschine. „Ich denke nach, gebe Impulse, treffe Entscheidungen und koche Kaffee, das braucht wenig Platz“, pflegte Klett erstaunten Besuchern zu erklären, „die eigentliche Arbeit geschieht im Sekretariat.“ Böse Zungen im Unternehmen neigten allerdings zur Formulierung, Klett sei die Spitze jenes Eisbergs, der im Vorzimmer gebührend Platz fände. Käfer fasste Frau Feddersens kühles Erscheinungsbild ins Auge und musste lächeln.

„Was stimmt Sie so heiter?“

„Sagen wir … der Frühling.“

„Sie lügen, doch Sie lügen begabt. Hat Herr Klett übrigens auch schon bemerkt. Und jetzt los, Sie werden erwartet!“

Ein wenig verwirrt wandte sich Käfer ab, ging durch die offene Tür, stutzte und blieb stehen. Hinter Kletts Schreibtisch saß ein dicker, schwarz gekleideter Mann und grinste breit. „Daniel Käfer, mein junger Freund!“

„Henning Mertens! Was tun Sie hier?“

„Gegenfrage: Was wollen Sie trinken?“

„Wie? Ich verstehe nicht …“

„Das schätze ich ja so sehr an Ihnen.“ Mertens griff suchend unter die Schreibtischplatte. „Da war doch dieser Knopf fürs Geheimfach … na bitte! Mal sehen … also, ich habe alten Cognac anzubieten, sehr alten Cognac und ganz ungeheuer alten Cognac, unbezahlbar für unsereinen. Den nehmen wir, wie?“

Daniel Käfer gab keine Antwort und starrte Mertens an. Im vergangenen Winter hatte er diesen ausgefuchsten Medienmann dazu überreden können, sein Lotterleben aufzugeben und mit ihm gemeinsam nach Hamburg zu gehen. Ohne dessen Hilfe hätte er den schwierigen Anfang wohl kaum geschafft. Doch eines Tages, beim abendlichen Bier im Spökenkieker, rülpste Henning Mertens vernehmlich und sagte: „Daniel Käfer, mein junger Freund, im Wasser sind Sie jetzt, schwimmen müssen Sie selber“, und ließ sich fortan kaum noch sehen.

Käfer hob das inzwischen gefüllte Glas und stellte es wieder hin. „Was soll das alles?“

„Sie wollen doch mit mir sprechen.“

„Davon weiß ich aber nichts.“

„Das sieht Ihnen wieder mal ähnlich. Den armen Konrad Klett bedrängen Sie und von mir wollen Sie nichts wissen.“

„Das habe ich nicht gesagt, alter Wortklauber.“

„Keine Komplimente. Interessiert Sie wenigstens mein beruflicher Fortgang?“

„Natürlich!“

„Immerhin. Ich bin so etwas wie ein Problembär, alt auch noch. Es schien mir also angeraten, Ihnen das Revier zu überlassen und der freien Wildbahn zu entsagen. Ich habe mich folgerichtig von der Geschäftsleitung als Maskottchen domestizieren lassen – kein eigenes Revier, aber genügend Auslauf, feines Fresschen und ein warmer Schlafplatz. Zahnlos, wie ich bin, schadet es nicht, wenn ich die Hand, die mich füttert, zuweilen beiße, und Käfighaltung erübrigt sich, weil ich viel zu faul bin, um davonzurennen. Man zeigt mich also herum, weil ich so originell bin, und macht sich lustig über mich, weil ich so tapsig das Raubtier mime. Wenn allerdings einmal keiner herschaut, zücke ich eine meiner stumpf gewordenen Krallen und stelle die Weichen.“

„Verstehe. Und wie geht’s privat?“

„Sie sprechen mein possierliches Sexualleben an, wie? Ab und an gerät mir noch was Grünes mit Vater-Defizit in die Fänge, doch mehr und mehr beginne ich knackige Großmütter attraktiv zu finden. Was macht Ihre Sabine?“

„Fotografiert schottische Schafe. Meinen Sie nicht, Herr Mertens, dass Sie mir eine Erklärung schuldig sind?“

„Das bin ich in der Tat. Gilt übrigens auch für Heike Feddersen, die gute Seele.“

„Was ist mit der? Und wie kommen Sie auf gute Seele?“

„Unter der schimmernden Wehr schlägt ein menschlich fühlendes Herz!“

„Ach ja?“

„Ach ja. Im konkreten Fall wie auch im Allgemeinen schlägt dieses Herz vor allem für Sie, lieber junger Freund. Um es einmal deftig auszudrücken: Heike Feddersen hat an Ihnen einen Narren gefressen. Sie ist nur noch am Überlegen, ob Sie sich eher zum Lustobjekt oder zur Adoption eignen.“

„Himmel!“