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Inhalt

Underworld

Das System

Die Folgen

Widerstand

Aktionsplan für euren Kopf

Epilog

Manifest

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Ihr haltet es für einen Teil eures
Lebens und merkt gar nicht, wie
viel davon es euch nimmt.

Termin mit einem Weichei

„Last call for passengers travelling to London. Please proceed immediately to gate D3.“

Ich hatte meinen Fahrer um Eile gebeten und er war prompt in eine Radarfalle getappt. Ein mobiles Gerät, das die Polizei gleich hinter den Lärmschutzwällen an der Stadtausfahrt unauffällig am Straßenrand aufgestellt hatte. Es war ein kleiner Ärger am Morgen gewesen, nicht wegen des Geldes, sondern wegen der vielen Fallen.

An der Sicherheitsschleuse trank ich mein stilles Mineralwasser aus, warf die 1,5-Liter-Flasche in den Müll, passierte den Metalldetektor und saß Minuten später auf meinem Gangplatz in der 11-Uhr-Maschine von Frankfurt nach London Heathrow. Die Maschine rollte ein Stück und blieb dann wieder stehen.

Vierzig Minuten später stand sie noch immer und ich musste aufs Klo. Die Stewardess deutete auf das leuchtende Anschnall-Signal. Keine Chance also. Ich machte ihr klar, dass sie unangenehme Reinigungsarbeiten zu erledigen hätte, wenn sie darauf beharren würde.

„Wenn ich Sie jetzt aufs Klo gehen lasse, verstoße ich gegen unsere Regeln für Terrorismusbekämpfung“, sagte sie. „Ausserdem geht es um Haftungsfragen. Ich kann ja nicht kontrollieren, was Sie dort tun.“

Mir war klar, dass ich vorsichtig sein musste. David, ein Freund von mir, hatte einmal am New Yorker John F. Kennedy-Flughafen wegen einer zu langen Warteschlange bei den Sicherheitsschleusen eine flapsige Bemerkung zu einer arroganten Mitarbeiterin gemacht. Die Flughafenpolizei hatte ihn daraufhin wegen Terrorismusverdachtes festgenommen. Als er aus hygienischen Gründen die Rektaluntersuchung verweigert hatte, hatten sie ihn zwei Tage eingesperrt. „Was tun?“, fragte ich die Stewardess.

Als ich mit Unterschriften auf zwei Formularen die Haftung für alles mögliche übernommen hatte und zur Toilette des Airbus A 321 ging, beobachteten mich die 200 Passagiere misstrauisch.

Trotz der Flugverspätung schaffte ich es zu meinem Banktermin in Canary Wharf, wo auch mein Hotel lag. Es ging um eine Finanzierung für einen Familienbetrieb. Eine achtzig Jahre alte Firma. Zwei Erben, die vor vier Jahren übernommen hatten und sich nicht verstanden. Einer wollte den anderen herauskaufen, ehe sie mit ihrem Streit noch alles kaputt machten.

Ich kannte den Banker, der die Kreditentscheidung treffen würde. Was kein Vorteil war. Wir hatten in unserer Anfangszeit miteinander im Team für Firmenverkäufe bei einer Unternehmensberatung gearbeitet. Er war der Mann auf dem Weg nach oben gewesen. Trotzdem hatte ich ihn als mühsamen Bürokraten in Erinnerung. „Hallo Benjamin“, sagte ich. „Tolles Büro.“

Das war übertrieben. Das Stockwerk hatte zwar Aussicht über den Osten Londons, bloß nicht von Benjamins Zimmer aus. Sein Fenster führte in einen Lichtschacht, in dem die Tauben auf die Fensterbretter kackten. Benjamin sah auch etwas blass aus, was nichts daran änderte, dass er nach wie vor ein Mann auf dem Weg nach oben war. „Danke“, sagte er. „Für dich läuft es ja auch prächtig, wie ich höre.“

Während des folgenden Gesprächs sah er mir kein einziges Mal in die Augen. Er redete mit seinem Bildschirm, auf dem er Daten in ein elektronisches Formular eintrug. Während ich diese Daten für ihn aus meinem Laptop fischte, versuchte ich ihm zu erklären, worum es bei dem Deal ging. Eine Marktnische im technischen Bereich. Ein Unternehmer mit Sachkenntnis, Hausverstand und Handschlagqualität. Eine Sache mit Zukunft.

Er schien nur die Daten zu hören. Allmählich wurde mir klar, dass ich mir den Flug sparen hätte können. Wegen der Unstimmigkeiten zwischen den beiden Firmenerben hatten sich die für Benjamin interessanten Zahlen zuletzt verschlechtert. Für die Geschichte, die das alles in einen logischen Zusammenhang mit positiven Aussichten stellte, gab es in Benjamins Formular kein Feld.

„Diese Firma scheint seit vier Jahren ein Problem zu haben“, sagte er schließlich.

„Genau darum geht es“, sagte ich. „Die Finanzierung schafft diese Probleme aus der Welt.“

„Okay“, sagte er. „Du hörst von mir. War jedenfalls nett, dich wieder einmal zu sehen.“

Beim Abendessen in einem Restaurant der Steakhouse-Kette Gaucho erzählte ich Liljana von Benjamin. Wir plauderten ein bisschen darüber, dass immer die Weicheier Karriere machten.

Ich kannte Liljana noch kaum. Wir hatten während meines letzten Aufenthaltes in London bei einer braven Party von Rechtsanwälten Nummern ausgetauscht. Sie gefiel mir. Lange braune Haare, schwarze Augen und etwas zurückhaltend. Nach der ersten Flasche El Porvenir de los Andes waren wir noch immer bei Branchengeschichten, aber ihre Stimme war dunkler und weicher geworden.

Ich erzählte ihr von Davids Verhaftung in New York und eine weitere Geschichte aus seinem Leben, die sich bei Verabredungen mit Branchenkolleginnen schon bewährt hatte. Als David einmal innerhalb seiner Bank die Abteilung gewechselt hatte, war ein seltsamer Punkt in seinem neuen Dienstvertrag gestanden. Aufgrund der in der Bank geltenden Verhaltensregeln durfte er das Wissen, das er sich in der einen Abteilung angeeignet hatte, nicht in der anderen anwenden. Wie er das schaffen sollte, durch partielle Gehirnwäsche oder Hypnose, hatte nicht in dem Vertrag gestanden.

Schon irre, was denen alles einfällt.

Liljana lachte erwartungsgemäß herzlich. Sie nahm als Nachtisch Eiscreme mit Whisky und ich Zitronenkuchen. Als der Kellner die Reste davon abservierte, unterhielten wir uns noch immer angeregt. Doch von den Konsequenzen, die David aus dem Vorfall gezogen hatte, erzählte ich ihr lieber nichts. Er hatte eine interne Diskussion über Verhaltensregeln vom Zaun gebrochen und seinen Job am Ende verärgert hingeschmissen. Jetzt lebte er von dem kleinen Vermögen, das er als erfolgreicher Banker verdient hatte, und ging mit seinem Jack Russell Terrier spazieren.

Liljana war vermutlich nicht der Typ für trotzige Ideen und radikale Schritte. Sie war mit 18 aus dem mazedonischen Skopje nach Berlin gekommen, hatte im Eiltempo Wirtschaft studiert und bei einer Schweizer Bank Karriere gemacht, die sie schließlich als Risikomanagerin in ihrer Londoner Niederlassung eingesetzt hatte. Nicht nur die Partys, die sie besuchte, waren brav. Ihr schwarzer Rock war nicht zu kurz und nicht zu lang, ihre Schuhe hatten genau die richtige Höhe und ihr Lachen blieb auch während der zweiten Flasche Wein professionell dezent.

Sie wohnte in der Portobello Road in Notting Hill, am nordwestlichen Ende des Hyde Park. Im Taxi dorthin verlor ihre Stimme das dunkle, weiche Timbre wieder. Als wir vor einem zweistöckigen Haus hielten, wirkte sie nervös. Ich wusste nichts über ihre privaten Verhältnisse und vermutete, dass darin der Grund lag. „Wir können auch zu mir ins Hotel fahren“, sagte ich.

Sie nickte.

Als das Taxi weiterfuhr, fing sie mit ihren Fragen an. Ob ich Geschäftsbeziehungen zu ihrer Bank unterhielte. Ob ich oder Mitglieder meiner Familie Aufsichtsratsfunktion in einer der Bank nahestehenden Firma hätte. Ob ich politisch exponiert sei, also ein Naheverhältnis zu Regierungen oder Behörden hätte. Allmählich dämmerte mir, worum es hier ging.

Im Hotelzimmer war dieses weiche Timbre noch immer nicht in ihre Stimme zurückgekehrt. Sie öffnete das Fenster, lehnte sich einen halben Meter hinaus und zündete sich eine Zigarette an. Nach drei nervösen Zügen hielt sie die Kippe zuerst unter die Wasserleitung und warf sie hinterher ins Klo. „Entschuldige bitte“, sagte sie.

Sie deutete auf das Schild an der Tür.

Smoking or permitting others to smoke is a criminal offense.

Sie hatte mit der Zigarette nicht nur selbst eine Regel überschritten, sondern mich zum Mittäter gemacht. Was ernsthaft ein Thema für sie zu sein schien. Ich sah in der Minibar nach. „Whisky?“, fragte ich.

Dann trug sie auch noch diesen hautfarbenen Slip. Als ich den sah, wurde mir klar, dass zwischen uns nichts laufen würde. Nicht an diesem Abend und nicht an einem anderen.

Zuerst das berufliche Verhör, mit dem sie sicherstellen wollte, dass unser Treffen gegen keine Verhaltensregel ihres Arbeitgebers verstieß. In Banken wie ihrer gab es so viele dieser Regeln, dass niemand alle auswendig kannte. Weshalb sich viele Mitarbeiter angewöhnt hatten, doppelt vorsichtig zu sein. Eine private Verabredung mit einem Investmentbanker, der Geschäfte mit der Bank machte, besonders wenn das ganze politische Implikationen hatte, hätte besondere Vorsicht vorausgesetzt.

Man kann nie wissen.

Es brauchte sie bloß ein missgünstiger Kollege dabei zu beobachten und einen Eintrag auf der internen Verpetz-Plattform ihrer Bank zu machen, und schon würde sie unangenehme Fragen beantworten und umfangreiche Berichte schreiben müssen.

Und nun dieser Slip. Ich betrachtete Liljana und hatte das Gefühl, dass ich im Begriff war, das System zu vögeln, und zwar nicht auf die „Fuck the System“-Art, die mir irgendwie noch Spaß gemacht hätte. Denn Liljana entsprach nicht nur mit ihrem Rock und ihren Schuhen den 38 Seiten umfassenden Bekleidungsvorschriften, die ihr Arbeitgeber einmal für seine Mitarbeiter erlassen hatte.

Bei diesen Bekleidungsvorschriften hatten sich die Verhaltensbeauftragten der Bank ordentlich ins Zeug gelegt. Männern verboten sie darin Drei-Tages-Bärte, das Tragen dicker Brieftaschen im Sakko, gefärbte Haare oder Schuhsohlen aus billigem Plastik. Frauen mussten dezent geschminkt sein, Seidenstrümpfe tragen und auf rote Büstenhalter verzichten. Frauen, die alles richtig machen wollten, mussten fleischfarbene Unterwäsche tragen.

Als ich das Kondom auspackte, dachte ich daran, dass die EU Kondome als medizinische Vorrichtung einstufte, weshalb das Europäische Komitee für Normung 1996 eine Größenordnung festgelegt hatte. Das Komitee hatte unter anderem festgelegt, dass „die Länge nicht weniger als 160 Millimeter“ betragen sollte. Es handelte sich nur um eine Empfehlung, aber ich überlegte, ob Liljana womöglich immer ein Maßband dabei hatte, um Kondome, die sie nicht selbst gekauft hatte, zu kontrollieren. Das erschien mir möglich. Sogar wahrscheinlich. „Tut mir leid, Liljana“, sagte ich. „Das wird nichts.“

Als sie weg war, las ich meine Mails. Benjamin, eifrig wie schon immer, hatte mir kurz vor acht geschrieben, als seine Kollegen bestimmt schon alle gegangen waren. „Interessantes Angebot, aber es ist leider ein Nein heraus gekommen“, schrieb er. „Ich kann da nichts machen. Ich halte mich nur an das System.“

Ich erinnerte mich an einen Firmenverkauf, bei dem Benjamin und ich im Verkaufsteam gewesen waren. Ich hatte telefoniert, einen Interessenten gefunden, war zu ihm geflogen und hatte einen Termin zwischen dem Interessenten und dem Verkäufer arrangiert. Womit ich mir eine schwere Rüge eingehandelt hatte. Der Teamleiter hatte mir erklärt, dass ich nicht die erforderlichen Powerpoint-Präsentationen angefertigt und nicht den richtigen Prozess angewandt hätte, ganz zu schweigen von meiner Frisur. Und natürlich hätte ich in meiner Position als Analyst den Kunden nicht einfach selbst anrufen dürfen. Benjamin hingegen hatte eine Belobigung bekommen. Er hatte in der Zwischenzeit zwar keine Käufer gefunden aber dafür genug Unterlagen produziert, um eine Altpapiertonne zu füllen.

Ich halte mich nur an das System.

Das war schon damals einer von Benjamins Stehsätzen gewesen. Ich hätte ihm gerne geschrieben, wer aller in der Geschichte sich schon mit diesem Satz für schreckliche oder schrecklich dumme Taten zu rechtfertigen versucht hatte, aber das hätte keinen Sinn gehabt. Stattdessen schrieb ich David, der Benjamin wie ich von früher kannte.

Sieht so aus, als hätten die Weicheier Rückenwind.

Ich wollte nicht im Hotel bleiben und rief Jonathan an, der mit unserem gemeinsamen Bekannten Huang Tsang und ein paar anderen Freunden gerade unterwegs ins Underworld war, um einen Karriereschritt zu feiern. Bis drei Uhr morgens ließen wir uns in der Bar in Camden Town von harten Bässen die Eingeweide massieren. Ich trank nur wenig, trotzdem kam mir das System, an das sich Benjamin so artig hielt und das mir eben noch den Abend vermiest hatte, bald nur noch wie die Gegenwelt von ein paar abgehobenen Bürokraten vor.

Gegen vier Uhr morgens standen wir zu fünft an der Haltestelle einer Londoner Nachtbuslinie in Westminster. Wir waren ziemlich gut aufgelegt und wollten noch zu einer Party. Ein Polizeiwagen hielt und ein Polizist kam zu uns herüber. Er machte uns darauf aufmerksam, dass wir uns an einem „enclosed public space“ befanden, was Rauchverbot bedeutete. Wir hatten uns beim Warten Zigaretten angezündet.

Die Haltestelle war ungefähr so „enclosed“ wie ein Fußballtor. Trotzdem erklärte uns der Polizist, dass gemäß der geltenden gesetzlichen Regelung alles, was zwei Wände und ein Dach hatte, „enclosed“, und eine Bushaltestelle in jedem Fall ein „public space“ sei. Rauchen war dort verboten, auch wenn niemand da war, den es störte.

Huang machte auf Tourist und wir folgten seinem Beispiel. Der Polizist wies uns trotzdem darauf hin, dass unser Verhalten ein „serious offense“ darstellte. Als der ziemlich betrunkene Jonathan ungläubig grinste, sagte der Polizist, dass wir es mit den Paragraphen für organisierte Kriminalität zu tun bekommen könnten, weil wir zu fünft seien. Wir hatten außerdem nicht nur selbst geraucht, sondern jeweils auch vier anderen das Rauchen gestattet, womit wir nach meiner Rechnung miteinander auf 25 Vergehen kamen.

Als der Polizist endlich weiter fuhr, dämmerte mir, dass wir nur knapp einer Verhaftung entgangen waren. Wäre er fünf Minuten früher gekommen, wäre er Zeuge geworden, wie ich ein Kanalgitter einem wahrscheinlich ebenfalls nicht gesetzeskonformen Zweck zuführte. Vermutlich hätte er mich wegen „pissing in public“ in Handschellen abgeführt und für mindestens zwei Wochen eingebuchtet.

Ich hatte danach keine Lust mehr auf die Party.

Faule, träge Suppe

In meinem Hotelzimmer roch es noch immer nach Liljanas so verdammt dezentem Parfum. Ich las Davids Antwort in Sachen Rückenwind für Weicheier. „Scheint ein Systemfehler zu sein“, schrieb er. „Es ist nicht nur in der Wirtschaft so. Auch in der Politik sind die Weicheier auf dem Vormarsch.“

Er schickte mir einen Link zu einem Interview mit dem Ministerpräsidenten eines deutschen Bundeslandes, das im ZDF-Morgenmagazin gelaufen war.

Frage an den Ministerpräsidenten: Was soll eines Tages von Ihnen bleiben?

Antwort: Dass ich einer war, der sich bemüht hat.

Ich wusste, was David meinte. Der Ministerpräsident zeigte sich tatsächlich als Benjamin der Staatsgewalt, dessen Vision darin bestand, artig zu sein.

Frage: Was macht Sie für Ihre Wähler spannend?

Antwort: Ich habe mit mehr als sechzig Jahren den Großteil meines Lebens hinter mir. Alles, was ich brauche, habe ich schon.

Womit er offenbar andeuten wollte, dass er schon zu alt zum Stehlen war. „Stellt sich die Frage, warum der Typ mit mehr als sechzig Jahren nicht einfach daheim bleibt und seine Gartenzwerge poliert, damit wenigstens die glänzen“, schrieb ich David. Mir wurde klar, dass meine kaum zwei Stunden zurückliegende Hochstimmung über die vermeintliche große Freiheit nur dem Heavy-Metal-Sound geschuldet gewesen war. Die Wirklichkeit sah anders aus. Die Bürokraten hatten längst die Macht übernommen. Sie regierten die industrialisierte Welt, indem sie regelten, kontrollierten und bestraften. Sie hatten so viele Gesetze und Verordnungen geschaffen, dass es in der Wirtschaft nicht mehr darum ging, gute Geschäfte zu machen, sondern nur noch darum, möglichst keinen Fehler zu machen. Spaß war zu einer Form von organisierter Kriminalität geworden, und mit Verpetz-Plattformen im Internet hatte der Kontrollstaat die Bürger zu Kontrollbürgern gemacht und ein Spitzelwesen ähnlich dem in der ddr etabliert.

Die Konzerne hatten sich ein Beispiel am Kontrollstaat genommen. Sie gingen mit ihren Mitarbeitern um, wie Lehrer mit Schülern auf Landschulwoche. Zur Sicherheit regelten sie alles und was aufregend war, verboten sie. Indem sie das Anschwärzen anderer förderten und belohnten, machten sie ihre Mitarbeiter, genau wie der Staat seine Bürger, zu ihren Handlangern.

Niemand war nirgendwo vor niemandem mehr sicher.

Aus dem Kontrollstaat, den Kontrollkonzernen und den Kontrollfirmen war ein Kontrollsystem entstanden, in dem vor lauter Angst alle nur noch verwalteten und niemand mehr gestaltete. Die Weicheier waren überall. Die Benjamins, die Jasager und Arschkriecher, die keine Entscheidungen mehr trafen und für nichts verantwortlich waren, die sich hinter dem System versteckten, hinter Gutachtern, Studien und Komitees, die wie organische Roboter Vorschriften erfüllten, die Systemtrottel, das waren die neuen Helden.

Sie waren, je nach Firmenkultur, immer perfekt unauffällig gekleidet. Sie nahmen die Demütigungen, die sie täglich erfuhren, sei es von Vorgesetzen, Sicherheitspersonal oder Staatsbeamten, mit unterwürfigem Dank entgegen. Sie regten sich niemals auf, es sei denn, jemand in ihrer Umgebung hielt die Gesetze, Verordnungen und Verhaltensregeln nicht so genau ein wie sie selbst. Sie verstanden nicht, was jemand gegen Gesetze, Regeln und Kontrolle haben konnte.

Wer sich korrekt verhält, hat nichts zu befürchten.

Die Weicheier waren richtig froh darüber, dass es Regeln gab. So brauchten sie nicht selbst zu denken und sich nicht mit Selbstreflexion aufzuhalten. Sie plapperten einfach nach, was sie hörten, und begnügten sich mit der Reflexion, die ihnen das System bot, indem es ihnen bei Regelverstößen auf die Finger klopfte. Sie waren damit perfekt manipulierbar, kalkulierbar und kontrollierbar. Denn wer, statt selbst zu denken, Regeln erfüllt, läuft immer dorthin, wohin die Pfeile weisen.

Das ganze Kontrollsystem war längst ausgerastet. Mangels Ambition und Kompetenz der Exekutive gediehen internationale Verbrecherringe, während ein Heer von Polizisten mit 4 000 stationären und 15 000 mobilen Radarfallen allein in Deutschland, Österreich und der Schweiz Autofahrern auflauerte, die mit Autos, die für 180 Stundenkilometer gebaut waren, auf Straßen, die für 200 Stundenkilometer gebaut waren, 140 statt 120 fuhren. Die Leistungsträger erlahmten, weil sie das Kontrollsystem bremste, während es die Weicheier förderte, und mit den Leistungsträgern erlahmte die Wirtschaft. Es entstand eine faule, träge Suppe, in der niemand glücklich war, auch nicht die Weicheier.

Das Kontrollsystem hatte Überwachungsmethoden entwickelt, gegen die jene des Kommunismus Kinderkram waren, aber auch das regte niemanden richtig auf. Als Edward Snowden aufdeckte, wie der amerikanische Geheimdienst nsa in Zusammenarbeit mit Staaten und Konzernen systematisch alle Bürger ausspähte, ließen sich die meisten nur via Fernsehen mit der aufregenden Jagd der USA nach Snowden, dem Match zwischen den Präsidenten Barack Obama und Wladimir Putin und dem üblichen politischen „Wer hat was wann gewusst“ berieseln. Das Problem selbst war allen ziemlich egal.

Ich bin nicht wichtig genug.

Dabei konnten die nsa und die Geheimdienste durch die Daten aus privaten Online-Aktivitäten mit ein paar Klicks schon mehr über ihr Liebesieben in Erfahrung bringen als sie selbst in drei Jahren Sexualtherapie, hundert Euro die Stunde.

Die Politiker mussten ihnen nur erklären, dass alles ihrer eigenen Sicherheit diente. Dann würden sie sich wahrscheinlich auch in Käfige sperren lassen, in denen ihnen knallgrüne Schilder mit weißen Piktogrammen zeigten, in welchem Winkel sie durch die Eisenroste zu scheißen hatten, und in denen sie zwecks Stromgewinnung für die Rechner im Rechenzentrum der nsa in Maryland den ganzen Tag in Pedale treten mussten.

Das ginge dann doch zu weit.

Ginge es nicht. Als die Online-Ausgabe einer großen deutschen Boulevardzeitung tatsächlich über Vorschriften in Form einer Benutzungsordnung für Toiletten in Behörden, Dienststellen und öffentlichen Gebäuden des Landes Sachsen-Anhalt berichtete, regte sich auch niemand richtig auf. Obwohl darin die Sitzposition, die Darmentleerung, die anschließende Sichtkontrolle, die Reinigung des Rektums und die Reinigung der Toilette geregelt waren.

Was denen wieder eingefallen ist.

Die Sache hatte sich als Ente herausgestellt, die ein Zyniker in Umlauf gebracht hatte, doch sie hatte gezeigt, wie weit der Staat ungehindert gehen könnte. Ich zog die Vorhänge zu und hatte bis 12 Uhr Mittag Albträume von Bürokraten, die Weicheier züchteten und allen, die sich nicht normieren ließen, das Leben zur Hölle machten. Zum Glück gab es eine Möglichkeit, Widerstand zu leisten und es trotzdem zu schaffen, dachte ich später. Wer sie nutzen wollte, musste das System allerdings zuerst durchschauen.

imageDas system

Vielleicht kommt es euch auch manchmal so vor, als
würden immer die Falschen Karriere machen. Die
Langweiler. Die Jasager. Die Weicheier. Das ist keine
Einbildung. Es stimmt – und es hat einen Grund.

Die Gesetzgebung ist ausgerastet

Ich bin froh, dass es Gesetze gibt. Ich profitiere jeden Tag von ihnen. Nicht bloß, weil sie es mir ermöglichen, nachts sicher heimzugehen. Ich könnte ohne sie kaum meiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen, dem Geld verdienen. Ich müsste, etwa bei der Durchsetzung von Verträgen, auf Mafiamethoden wie Drohung, Erpressung und noch Schlimmeres zurückgreifen, und ich wäre diesen Methoden selbst ausgesetzt.

Die erste bekannte Gesetzessammlung, der Codex Ur-Nammu, stammt aus Mesopotamien und ist mehr als 4000