Umschlag

Michael Moritz, 1968 in Freiburg geboren und am Kaiserstuhl aufgewachsen, schreibt und produziert seit zwanzig Jahren Theaterstücke und Kurzfilme. Als Schauspieler war er an den grossen deutschsprachigen Bühnen (Staatstheater Stuttgart, Schauspielhaus Zürich, Burgtheater Wien) engagiert, im Fernsehen gibt er meist den Bösewicht und den üblichen Verdächtigen («Tatort», «SOKO Köln», «Die Sitte», «Post Mortem»). Am Max Reinhardt Seminar und am Konservatorium der Stadt Wien unterrichtet er Schauspiel. Im Emons Verlag erschienen «Tod in der Rheinaue», «Roter Regen», «Weinselig», «Lost Place Vienna», «Zürcher Verschwörung», «Tod im Theaterhaus» und «Um die Wurst».

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: photocase.de/to-fo
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-290-6
Originalausgabe

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Nur sich selbst zerbrechen, sich vergessen,

weitergehen und dafür zahlen –

dann hat man zum Schluss die Säulen des Herkules

vielleicht um einige Regenwurmlängen weitergerückt – vielleicht.

Gottfried Benn

EINS

Sie hatte ihm zugezwinkert, unmerkbar gelächelt. Nur kurz. Für Aussenstehende nicht zu sehen. Ein Profi. Dann war sie direkt nach oben gegangen. Stahl hatte ihr nachgesehen. Schwarzes, enges Abendkleid, freizügiger Rücken, schlanke Beine, die jeden Schritt auf der Treppe bewusst setzten, wohl wissend, dass ein männliches Auge sie goutierte. Am Treppenabsatz angekommen, hatte sie ein zweites Mal gelächelt. Breiter, den Mund leicht geöffnet. Stahl hatte es sich nicht verkneifen können. Er hatte zurückgezwinkert. In welchem Stockwerk und in welchem Zimmer sie verschwand, hatte ihn nicht zu interessieren. Er hatte nur darauf zu achten, dass ihr nichts geschah. Überhaupt durfte niemandem in dem Hotel etwas geschehen. Dafür war er zuständig.

Jetzt sah er, wie man sie auf die Bahre legte und in einen weissen Sack steckte. Sie lächelte nicht mehr. Sie war tot. Ihr schwarzes Kleid verschwand unter dem Zipp des weissen Sackes.

Stahl blieb hinter der Absperrung stehen, die Schaulustige und Spurenverwischer zurückhalten sollte. Wieder sah er ihr nach. Diesmal war ihm klar, wohin sie verschwinden würde. Er setzte seinen Waldlauf fort. Er merkte, dass sein verschwitztes Unterhemd kalt geworden war, und steigerte das Tempo. Seine langen Beine fegten durch das rostrote Laub. Es raschelte bei jedem Schritt. Er sah in die Baumkronen. Blauer Himmel stach durch die verwaisten Äste. Ein herrlicher Tag. Kalt zwar, aber klar. Die Wetterfrösche hatten Schnee angekündigt. Weit und breit keine Wolke. Aber der Tag war noch lang. Stahl nahm seinen Blick hinunter ins Laub. Er dachte an das Lächeln der unbekannten Schönen.

* * *

Lia hatte schnell aufgelegt, als sie die Männerstimme am anderen Ende der Leitung gehört hatte. Warum war Elena nicht drangegangen? Sie hatte gesagt, es wäre nicht gefährlich. Ein Kinderspiel. Dann wären sie gemachte Leute. Man müsse nur den Hebel richtig ansetzen. Und man durfte kein Mitleid haben. Nur so könne man es schaffen. Alles andere wäre naiv. Elena war nicht naiv, das wusste Lia. Elena war mit allen Wassern gewaschen. Aber die, mit denen sie sich anlegten, waren es nicht minder. Sonst wären sie nicht dort, wo Elena und Lia noch hinwollten. Nach oben. Frei von täglicher Plackerei, frei von Männern, die nur so lange für sie zahlten, wie sie blühten.

Lias Handy klingelte. Das Display zeigte: Elena. Lia zögerte, nahm den Anruf entgegen, sagte aber nichts. Am anderen Ende wieder die Männerstimme: «Hallo? Sie hatten gerade angerufen. Hallo? Wer sind Sie? Hier ist Hürlimann von der Polizei. Elena Peres ist tot. Hallo? Melden Sie sich.»

Lia drückte den Anruf weg. Sie hörte, wie das Handy auf den Boden fiel. Dann sackte sie zusammen. Sie hatte es gewusst. Der Kerl, den sie hatten melken wollen, war eine Nummer zu gross. Wie hätte er sonst so viele narren können und mit fünfhundert Millionen von der Bildfläche verschwinden?

Sie bekam Angst, zwang sich aber zu einem kühlen Kopf. Das Handy klingelte erneut. Wieder Elena. Nein. Nicht Elena. Elena war tot. Das hatte die Männerstimme gesagt. Kommissar Hürlimann. Sollte sie ihm alles sagen? Die Polizei um Hilfe bitten? Lächerlich. Die Polizei war ihr noch nie eine Hilfe gewesen. Im Gegenteil. Ärger. Immer wieder Ärger. Mehr hatte ihr die Polizei bislang nicht zu bieten gehabt. Sie hob das läutende Handy vom Boden auf und entnahm ihm die SIM-Karte. Jetzt war Ruhe. Prepaid. Der Nummer war kein Name zugeordnet. Immerhin. Sie musste verschwinden. Hier war sie nicht mehr sicher.

* * *

Stahl wunderte sich. Zwar stand das Dolder Grand für Diskretion, aber dass überhaupt kein Anzeichen eines ermordeten Gastes zu erkennen war, machte ihn stutzig. Sein Vorgesetzter Hug hatte keine besonderen Vorfälle gemeldet.

Stahl hatte sich geduscht, in Montur geworfen und den Dienst angetreten. Er könnte schon im Bett liegen. Schliesslich hatte er Nachtschicht geschoben. Aber für Bogner half er gern noch ein Stündchen aus. Stahl stand am Eingang und überblickte die Halle. Genau hier hatte er auch gestanden, als die schöne Unbekannte ihm zugelächelt hatte. Er erinnerte sich, dass sie im Wald noch das schwarze Kleid getragen hatte. Sehr kühl für Mitte November. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie in dem Abendkleid ein Rendezvous im Herbstwald angetreten war. Sie hätte sich mindestens einen Mantel übergeworfen. Auch die High Heels. Damit trat man keinen Waldspaziergang an. Jemand musste sie dorthin gebracht haben. An ihm waren sie aber nicht vorbeigekommen. Ob er sich bei der Polizei melden sollte? Er zögerte. Das Hotel war nicht erpicht darauf, dass es mit einem Mord in Verbindung gebracht wurde. Delikate Angelegenheit. Stahl kannte das filigrane Spiel bereits aus der Zeit, als er noch im Dienst der Schweizergarde gewesen war. Zwölf Jahre hatte er dem Vatikan gedient. Er war mehr als nur ein einfacher Gardist gewesen. Spezialagent mit Sonderaufgaben. Die ganze Welt hatte er bereist, Depeschen von Rom getragen, die man der normalen Post nicht anvertrauen wollte. Vor einem halben Jahr hatte er den Dienst quittiert. Er hatte die ständige Anspannung nicht mehr ausgehalten. Mittlerweile war er sechsunddreissig. Das ideale Alter, um als Schattenmann zu operieren. Erfahren genug und körperlich noch im Saft. Deswegen hatte man in Rom alles versucht, um ihn zu halten. Vor allem Oberstleutnant Holzer hatte nicht lockergelassen. Gerade in diesen schwierigen Zeiten bräuchte es Leute, auf die man sich verlassen konnte, hatte er gesagt. Aber Stahl war sich nicht mehr sicher gewesen, ob man sich auf ihn noch verlassen konnte. Er war es müde geworden, zwischen den unterschiedlichen Machtgruppen den Spagat zu halten. Klar, er hatte sich für den Papst entschieden. Schliesslich hatte er den Fahneneid darauf geschworen. Aber wer und was war der Papst? Aus wie vielen Interessen war er geschmiedet? Und was war ein Schwur wert? Wie viele schworen auf Gott und die Zehn Gebote und lieferten sich gleichzeitig die blutigsten Kriege? Da konnte man lange an Ostern die Füsse von Gefangenen waschen, wenn man im nächsten Augenblick Hunderte für das Wohl der Kirche über die Klinge springen liess.

Es war bestimmt auch Cecilia, die ihm die Augen geöffnet hatte. Er hatte ihr vorgeworfen, sie würde es nicht verstehen, dass man manchmal Dinge tun müsste, die nicht offensichtlich rechtens waren, um unter dem Strich etwas Gutes zu gewinnen. Sie hatte ihn ausgelacht und ihm an den Kopf geschleudert, dass er die Phrasen einer gelungenen Gehirnwäsche drosch. Daraufhin hatte sie ihn verlassen. Er war ihr nicht nachgerannt. Sie hatte ihn nicht mehr angerufen. Er hatte darauf gewartet. Vergebens. Es war aus. Lange hatte es nicht gedauert. Ein halbes Jahr. Sie hatten den Sommer in Rom genossen. Jetzt war er allein. Nur Holzer rief ihn immer wieder an. Er wollte ihn noch immer dazu bewegen, zurückzukommen. Stahl blieb stark. Mit jedem Tag, den er nicht in Rom war, atmete er freier, schlief er besser. Zwar jagten ihn noch immer Träume vergangener Taten, aber ihre Fratzen schreckten ihn nicht mehr so sehr. Sie wurden ihm vertrauter. Er hatte alles gebeichtet, und doch liess ihn sein Gewissen nicht ruhen. Er hatte im Namen Gottes getötet und für den Heiligen Stuhl. Er hatte alle Rechtfertigungen der Welt. Er war Kreuzritter. Und dennoch: Die Träume liessen nicht locker. Vielleicht sollte er in Behandlung? Aber welchem Psychiater konnte er die Geschichten erzählen, die er erlebt hatte? Der Seelenklempner wäre ein toter Mann, wenn er nur eine der Storys glaubte, die ihm Stahl zu beichten hatte. Nein, er konnte nicht zur Polizei gehen. Er hatte den Ruf seines Arbeitgebers zu schützen. Dieser Kodex war eingebrannt. Dagegen konnte er sich nicht wehren. Jetzt war das Dolder Grand sein neuer Vatikan. Immerhin besser, als vor einer Disco zu stehen.

Vor dem Hotel fuhren drei Limousinen vor. Westlich angehauchte Araber stiegen aus. Mit gestylten Frauen im Schlepptau. In drei Tagen sollte hier die grosse Hochzeit steigen. Ein königlicher Cousin aus Dubai heiratete eine Öltochter aus Texas. Sie hatten sich wohl in Harvard kennengelernt. Jedenfalls hatte Hug das erzählt. Hug war immer informiert. Über jeden Gast. Hug, ein biederer Deutscher, ehemaliger Offizier beim BND, dem Bundesnachrichtendienst. Warum er dort den Dienst quittiert hatte, hatte er Stahl nicht verraten. Stahl wollte es auch nicht wissen. Jeder hatte seine Gründe.

Der Dubai-Tross betrat die Halle. Die Kollegen an der Information führten ihren Begrüssungstanz auf. Das konnten sie. Konkurrenzlos. Freundlich, zuvorkommend und niemals zu nahe tretend. Die hohe Schule der Gastfreundschaft. Eine der Frauen sah sich neugierig in der Halle um. Stahl schätzte sie auf Mitte zwanzig. Das Hotel schien sie zu beeindrucken. Jetzt sah sie zu Stahl. Er verzog keine Miene. Konnte es aber nicht lassen, mit den Augen zu lächeln. Sie errötete und sah rasch weg. Dann folgte sie dem Tross in die Lobby.

Ein anthrazitfarbener Mercedes 600, Baujahr 1969, fuhr vor. Acht Zylinder. Zweihundertsieben Stundenkilometer Höchstgeschwindigkeit. Soff wie ein Loch. Stahl kannte das Modell gut. Ein Kardinal in Rom hatte so einen gefahren. Jetzt stieg aber kein Geistlicher aus dem Wagen, sondern ein Polizist: Hürlimann. Stahl und er kannten sich bereits von einem Fall, der Stahl tief in die eigene Vergangenheit gezogen hatte – und bei dem er auf Cecilia getroffen war. Stahl hatte kein Interesse daran, dass Hürlimann ihn hier entdeckte. Er würde dafür sorgen, dass Hürlimann an ihm vorbeilief, ohne ihn zu erkennen. Das hatte Stahl gelernt. Unsichtbar zu sein.

Hürlimann betrat das Hotel und ging an Stahl vorbei. Er wechselte ein paar Worte mit dem Team an der Information, zeigte den freundlichen Menschen ein Foto, das sie sich nacheinander ansahen und einhellig mit einem Kopfschütteln verneinten. Hürlimann steckte das Foto ein und verschwand aus der Vorhalle in Richtung Rezeption. Dort würde er sein Spiel wiederholen. Und auch dort würde man geschlossen den Kopf schütteln. Diskretion.

* * *

Lia hatte ihre Tasche gepackt. Drei Bücher lagen vor ihr. Eines für eigene Notizen und Gedanken, ein Reiseführer über Indien und «Doppelleben» von Gottfried Benn. Sie würde alle drei Bücher brauchen. Den Rest würde sie auf dem wackligen Kieferregal lassen. Sie packte die Bücher ein und sah sich in der Wohnung um. Nein, mehr brauchte sie nicht. So schnell konnte alles vorbei sein. Es hatte ihr gefallen im Kreis 4. Sie hatte dem Vermieter sogar zweihundert Franken mehr geboten, als er ursprünglich wollte. Nur um die Wohnung unter dem Dach zu bekommen. Der Blick auf den Helvetiaplatz hatte sie entspannt. Flohmarkt und Boule-Spiel. Freilichtkino und Jazz. Es war ein schöner Sommer gewesen. Mit Elena. Vorbei. Man konnte nichts festhalten. Alles zerrann. Nur der Augenblick galt. Noch nicht einmal die Momente der Erinnerung hatten einen Wert. Sie flunkerten und beschönigten. Und die Zukunft? Schicksal.

Lia nahm ihre Tasche vom Bett. Zeit zu gehen. Es klingelte an der Tür. Kamen sie jetzt zu ihr? Waren sie so schnell? Woher wussten sie, dass sie hier wohnte? Dumme Frage. Solche Leute wussten alles. Was bildete sie sich ein, die aufs Kreuz legen zu wollen? Es war ihre Idee gewesen. Sie hatte Elena angestachelt. Aus Abenteuerlust. Und Elena war jetzt tot. Das hatte der Mann am Telefon gesagt. War er tatsächlich ein Polizist? Oder war es der Kerl, den sie hatten ausnehmen wollen?

Es klingelte erneut. Lia schlich zur Tür, sah durch den Spion. Hier stand niemand. Sie öffnete vorsichtig und sah sich im Gang um. Freie Bahn. Nach unten konnte sie nicht. Dort würde sie dem Besucher begegnen. Wer konnte es sein? Wen kannte sie hier? Einen Salsa-Tänzer, den sie ein paarmal abgeschleppt hatte. Und einen Schriftsteller, der Fantasy-Romane schrieb, aber im Bett recht einfallslos gewesen war. Sonst hatte sie hier noch niemanden zu Besuch gehabt. Bis auf Elena.

Lia lauschte. Kein drittes Klingeln. Dafür Schritte im Treppenhaus. Sie lehnte sich übers Geländer und sah nach unten. Ein schwarzer Handschuh zog sich am Geländer nach oben. Zu dieser Jahreszeit nicht ungewöhnlich, dass einer Handschuhe trug. Aber schwarz und ledern erinnerten an würgende Hände aus düsteren Filmen.

Ihr wurde es eng um die Kehle. Sie wollte den Handschuhen nicht begegnen. Sie nahm den Stock mit dem Haken von der Wand und zog die Leiter vom Estrich zu sich herunter. Dann stieg sie die Stufen hoch und floh auf den Dachgarten. Zürich über den Dächern. Traumhaft. Auch im Herbst. Sie atmete die feuchte Luft, ein Herbstgedicht von Christian Morgenstern kam ihr in den Sinn: «Nebel hängt wie Rauch ums Haus, / drängt die Welt nach innen; / ohne Not geht niemand aus; / alles fällt in Sinnen. / Leiser wird die Hand, der Mund, / stiller die Gebärde. / Heimlich, wie auf Meeresgrund, / träumen Mensch und Erde.» Sie konnte es nicht lassen. Sie musste es bis zu Ende zitieren. Ein Glück war ihr kein langer Rilke eingefallen. Bis sie den zu Ende gesprochen hätte, hätten sich die schwarzen Handschuhe längst um ihren Hals gedrückt. Sie sah hinüber zum anderen Dach. Sie musste nur über einen kleinen Zaun klettern, dann wäre sie drüben. Sie horchte nach unten. Sie hätte den Stock mit nach oben nehmen sollen und die Leiter anschliessend hochziehen. Jetzt war es zu spät. Morgenstern war schuld. Sie hörte die Klingel. Der schwarze Handschuh hatte sie gedrückt. Gleich wäre er hier. Er war nicht dumm.

Ein Profi. Das musste er sein. Immerhin hatte er Elena getötet.

Lia kletterte über den Zaun. Sie blieb mit ihrem Rock hängen. Warum hatte sie keine Hose angezogen? Gewohnheit. Sie liebte Röcke. Die gaben ihr mehr Luft, schienen ihr sinnlicher. Sie zog an dem Stoff, versuchte, ihn aus dem Draht zu lösen. In der Eile unmöglich. Sie riss. Ein Fetzen der roten Baumwolle blieb am Drahthaken hängen. Sie kümmerte sich nicht darum, starrte nur in das Gesicht des Mannes, der am anderen Ende des Dachgartens ins Freie trat und zu ihr herüberblickte. Sie glaubte, ein siegessicheres Grinsen in seinem Gesicht zu lesen. Seine Zähne perlten weiss in dem gebräunten Gesicht. Das schwarze Haar hatte er nach hinten gegelt. Ein Südamerikaner. So sahen Tangotänzer aus. Unter anderen Umständen hätte sie gegen einen Ocho nichts einzuwenden gehabt. Jetzt brauchte sie ihre Beine zum Rennen. Nach ein paar Metern stand sie vor der Tür, die in das Treppenhaus führte. Sie drückte die Klinke. Verschlossen. Warum rüttelte man an verschlossenen Türen? Warum sah man nicht beim ersten Versuch schon ein, dass nichts zu machen war? Lia rüttelte und drückte die Klinke. Fünfmal. Vergeblich. Alternativen? Das nächste Dach. Kein Zaun. Dafür aber ein Spalt, der zehn Meter in die Tiefe gähnte. Lia schaute nach ihrem Verfolger. Er hüpfte lässig über den Zaun. Er achtete darauf, dass sein feiner Zwirn durch keinen Drahthaken ruiniert wurde. Es gelang ihm mühelos. Wie ihm auch alles Weitere ohne Mühe gelingen würde. Lia sah wieder nach vorn zu dem Spalt. Nein. Sie durfte nicht an den Spalt denken. Sie musste das Ziel anvisieren. So hatte sie es gelernt. Ziele fokussieren. Nicht Probleme mit Energie stärken. Zwei Meter waren es bestimmt. In der Schule war sie früher mal drei Meter und siebzig gesprungen. Da war auch Sand in der Grube gewesen. Hier erwartete sie Asphalt. Sie lief an, sprang, landete auf dem anderen Dach und fing den Sprung mit den Händen auf. Ein stechender Schmerz im rechten Daumenballen. Sie stöhnte und erkannte eine grüne Glasscherbe, die sich in ihr Fleisch gebissen hatte. Mit der Linken zog sie die Scherbe aus dem Ballen. Es blutete. Sie hörte ein Geräusch hinter sich und schnellte herum. Ihr Verfolger hatte das Ende des anderen Daches erreicht. Er stierte nach unten. Es schien ihm nicht wohl dabei. Höhenangst? Er sah zu ihr herüber und lächelte bitter. Er fürchtete sich tatsächlich vor dem Sprung. Lia atmete auf. Nur für einen Moment. Der Fremde griff unter seinen Mantel und zog eine Pistole hervor. Gern hätte sie die Marke und den Typ der Waffe gewusst. Sie liebte Details. Vor allem wenn es um ihren eigenen Tod ging. Der Lauf war um einiges länger als der Griff. Wohl ein Schalldämpfer. Sie kannte so etwas nur aus Filmen. Auch das Geräusch kannte sie, wenn so ein Ding schoss. Es würde flüstern. Und dann wäre es aus.

Der Killer zielte. Lia spürte schon, wie die Kugel in ihre Stirn eindrang. Ins dritte Auge würde er schiessen. Dort, wo die Inderinnen sich einen Punkt malten. Warum dachte sie jetzt an Indien? Weil sie immer wieder an Indien dachte. Indien war ihre erste grosse Reise gewesen. Allein im Aschram. Mit zwanzig. Das war vor neun Jahren. Dort hatte sie vieles erlebt. Aber eine Pistole mit Schalldämpfer – das war neu. Sie war dankbar für alles, was neu war. Aber auf diese letzte Erfahrung mit dem Schalldämpfer hätte sie verzichten können. Warum hatte er noch nicht abgedrückt? Warum lebte sie noch? Oder waren ihre Gedanken so schnell gerast, dass real erst eine Sekunde vergangen war? Sie sah, dass der Schütze zitterte. Die Waffe zielte zwar auf Lia, aber der Kerl sah gar nicht zu ihr. Sondern hinab auf die Strasse. Er zitterte und wackelte. Dann riss er sich einen Schritt zurück und stöhnte. Lia nutzte ihre Chance und rannte los. Bis der Killer seinen Höhenanfall wieder im Griff hatte, konnte sie vielleicht davongekommen sein. Nur noch zwei Schritte bis zur Tür, die vom Dach ins Treppenhaus führte. Sie drückte die Klinke. Die Tür war unverschlossen. Sie riss sie auf. Neben ihrer Wade barst ein Blumentopf. Das Ploppgeräusch war kaum zu hören gewesen. Aber es klang wie im Film. Etwas dumpfer vielleicht. Klar, im Film hatte alles einen Tick brillanter zu sein. Wie in Lias Leben. War sie enttäuscht, dass der Schuss nicht so fulminant klang? Ihr Ohr war verwöhnt und empfindlich. Das brachte ihr Beruf mit sich. Blödsinn. Sie war froh, dass das Geräusch für sie keine Konsequenzen hatte. Lia verschwand ins Treppenhaus und hetzte die Stufen hinunter. Sie musste aus dem Haus raus und weit weg von hier. Wohin?

* * *

Hürlimann hatte das Dolder ebenso verlassen, wie er es betreten hatte. Ohne Stahl zu erkennen. Seltsam. Wenn Hürlimann ernsthaft hier ermittelte, hätte er sich beim Sicherheitsdienst erkundigen müssen. Und Hug hätte Hürlimann an Stahl verwiesen, weil er Dienst gehabt hatte. War Hürlimann nur pro forma hier? Stahl erinnerte sich, dass Hürlimann auch im Fall Albin die Füsse ruhig gehalten hatte, er nicht erpicht darauf gewesen war, den Fall sauber zu lösen. Damals hatte ihm ein Junkie genügt, dem man den Mord anhängen konnte. Hätte Stahl nicht weitergebohrt, die Wahrheit wäre nie ans Licht gekommen. Sollte er auch jetzt mit Bohren beginnen? Was ging ihn die Tote an? Er hatte sie nur einmal gesehen. Ein Zwinkern und ein Lächeln. Mehr nicht. Auch der jungen Araberin hatte er zugelächelt. War man jemandem deshalb gleich verpflichtet? Die gesamte Schweiz stützte ihren Wohlstand auf ein freundliches Lächeln gegenüber dem Rest der Welt. Was bedeutete das schon? Es gehörte zum guten Ton. Um sich die Finger zu verbrennen, musste schon mehr Verbindlichkeit her. Freundschaft oder verwandtes Blut. Dafür würde Stahl sich bewegen. Oder Geld. Ja. Für Geld würde er seine Nase auch in Dinge stecken, die ihn nichts angingen. Immerhin hatte er zwölf Jahre als Söldner des Papstes gedient. Zwar hatte er an der Fahnenstange nicht auf Geld geschworen, aber er hatte gutes dabei verdient. Vor allem die Sonderzahlungen für besondere Aufträge hatten sich gelohnt. Hätte Stahl nicht so ein Pech gehabt, er müsste sich jetzt hier nicht die Beine in den Bauch stehen. Falsch angelegt. Alles futsch. Stahl wollte nicht daran denken. Was war, das war. Es gab Wichtigeres. Mit sich ins Reine kommen. Sich selbst gegenübertreten. Nicht davonlaufen. Grosse Worte. Hehre Vorsätze. Er hatte getan, was er getan hatte. Im Namen Gottes. Darauf geschissen. Er musste es akzeptieren. Seine zwei besten Freunde, die mit ihm vereidigt worden waren, lebten längst nicht mehr. Vielleicht wäre es auch für ihn besser gewesen, es hätte ihn bei einem Einsatz erwischt. Aber er hatte immer Glück gehabt. Viel Glück. So viel, dass es ihm schon unheimlich wurde. Als würde es Gott tatsächlich geben, und als würde er eine Garde Schutzengel nur für Stahl allein abstellen. Aber war dieses Glück auch ein Segen? Oder bestand gerade im Weiterlebenmüssen die Qual? War das Leben bereits das Fegefeuer?

Ein schwergewichtiger Mann um die vierzig kam auf Stahl zu. Er trug den gleichen eleganten dunkelblauen Boss-Anzug wie Stahl.

«Danke», sagte Bogner. «Hast was gut bei mir.»

«Geht es ihr besser?»

«Noch Fieber. Aber nicht mehr so hoch. Sie kommt auf die Beine. Geht halt etwas länger ohne Antibiotika. Doch sie schwört auf ihre Globuli.» Bogner nahm Stahls Posten ein. «War was los?», fragte er.

«Nichts Besonderes. Nur eine verführerische Schönheit aus Tausendundeiner Nacht.»

Bogner lachte. Seine Bronchien rasselten dabei. Er hustete. «Pass bloss auf. Die Jungs verstehen keinen Spass.»

«Wer tut das schon?»

«Ich.»

«Stimmt.»

Bogner näherte sich bedeutungsvoll Stahls Ohr. «Im Wald haben sie eine tote Frau gefunden.»

«Was?» Stahl stellte sich dumm. Nicht nur, weil er diese Strategie von Holzer gelernt hatte, auch weil er Bogner die Freude an der Nachricht lassen wollte.

«Die Polizei war gerade hier und hat ein Foto von ihr gezeigt. Heisse Braut. Aber sie wissen noch nicht, wer sie ist. Die Polizei hat gehofft, dass sie vielleicht unser Gast gewesen ist.»

«Und? War sie?»

Bogner unterdrückte ein Lachen. «Stell dir das vor. Überschrift im ‹Blick›: Die Tote im Dolder. Die Zimmer wären schnell leer.»

«Oder auch nicht. Crime wirkt auf manche anziehend.»

Bogner zuckte mit den Schultern. «Jedenfalls hat sie hier nicht gewohnt. Der Kommissar schien erleichterter als unser Geschäftsführer. War ihm wohl mulmig, hier oben zu schnüffeln. Dünnes Eis. Auch für einen Beamten. Da kann man schnell mal jemanden verstimmen, du verstehst.»

«Immerhin war er hier», sagte Stahl.

«Gibt ja nichts anderes in der Nähe.»

«Doch. Die FIFA

Wieder ein Lacher von Bogner. «Beim Weltfussballverband wird es ja noch heikler. Da ist der Vatikan ja offener.»

«Stimmt. Schönen Tag.» Stahl wollte gehen. Bogner hielt ihn am Ärmel zurück. «Hast du sie vielleicht gesehen? Gestern Abend?»

Stahl sah ihn irritiert an.

«Ich meine, wäre nicht die erste Braut, die sich jemand aufs Zimmer bestellt hat.»

«Dazu müsste ich wissen, wie sie aussieht.»

«Natürlich. Seltsam, dass der Kommissar dich nicht gefragt hat. Weil du doch Nachtdienst hattest.»

Stahl gähnte. «Das erinnert mich daran, dass ich längst ins Bett sollte.»

«Vielleicht hat ihn Hug abgeblockt. Der Schwabe hat sicher kein Interesse, dass man hier nach Fingerabdrücken sucht.»

«Grüezi, Herr Hug», sagte Stahl an Bogner vorbei. Der erschrak, wurde mit einem Schlag rot und schoss herum. Aber da stand keiner. Stahl grinste, zwinkerte Bogner zu und verliess das Hotel.

«Brauchst du einen Chauffeur?», fragte Merkel, als Stahl an der kleinen Gruppe dunkler Anzugträger vorbeiging, die sich am Eingang versammelten und die Transfers der Gäste übernahmen.

«Danke. Ich nehme die Bahn.»

«Ich kann dich wenigstens bis zum Römerhof fahren.»

«Langeweile?»

«Komm. Steig ein. Mit der Bahn kommst du nie heim. Ausserdem liegt ein Ast zwischen Waldhaus und Römerhof auf den Schienen. Bis der weggeräumt ist, hast du wieder Schicht.»

Stahl ging zur Beifahrertür der Mercedes-Limousine und wartete.

«Hältst du mir nicht auf?»

«Keine Faxen, sonst verfällt mein Angebot.»

Stahl stieg in den Wagen. Merkel fuhr los. «Muss sowieso was in der Stadt besorgen.»

«Dachte ich es mir doch, dass du nicht aus Nächstenliebe handelst.»

«Wobei wir beim Thema wären.»

Stahl sah ihn fragend an.

«Na ja. Vatikan», sagte Merkel. «Wie ist es dort so? Hast du mitgekriegt, wie der Papst ausspioniert wurde? Wer steckt dahinter? Und warum ist Benedikt wirklich zurückgetreten? Wer ist dieser Franziskus? Tut der nur so heilig und demütig? Ich meine, er ist Jesuit. Die sind Meister der Verstellung. Du musst das doch wissen. Du warst doch dort ein richtig hoher Agent?»

«War ich das?»

«Bogner erzählt so etwas.»

«Der erzählt viel.»

Merkel fuhr gut. Das Schiff glitt die Kurhausstrasse hinab, bog auf die Dolderstrasse und zog an den Villen vorbei. Eine, die leicht heruntergekommen zwischen den prächtig gepflegten Anwesen herausstach, stand zum Verkauf. Sie schien leer geräumt. Zumindest fehlten die Vorhänge an den Fenstern. Buchen und Ahorne mit roten und gelben Blättern schmückten den kleinen Park. Schon waren sie vorbei.

«Wie ist der Papst so? Ich meine privat?»

«Wenn du deinen Fahrgästen genauso viele dumme Fragen stellst, arbeitest du hier nicht lange.»

«Keine Sorge. Ich weiss schon, wann ich meine Klappe halten muss. Also?»

«Was?»

«Der Papst.»

«Trägt rote Unterhosen mit weissen Punkten. Dazu grüne Crocs.»

«Idiot.»

«Wenn du mir nicht glaubst.»

Merkel trat auf die Bremsen. «Endstation.»

«Das ist nicht dein Ernst. Wenigstens bis zum Römerhof», sagte Stahl. «Hier bin ich verloren.»

Merkel sah ihn grimmig an. «Wir machen einen Deal. Du sagst mir was, und ich sag dir was.»

«Du zuerst.»

Merkel fuhr weiter. Er rückte sich wichtig im Sitz zurecht. «Die Frau, die sie im Wald gefunden haben. Hast du davon gehört?»

«Bogner hat mir davon erzählt.»

«Du musst sie auch gesehen haben.»

«Wieso?»

«Weil ich sie gestern Abend hochgefahren habe. Im Auftrag eines unserer Gäste.»

«Hast du das der Polizei erzählt?»

«Ich habe es Hug gesagt. Der wird es schon weiterleiten. Ich will mit der Polizei nichts zu tun haben. Ich bin froh, dass ich hier eine neue Chance bekommen habe. Am Ende hängt man mir die Sache noch an. Du weisst schon, wie so was geht. DNA und so weiter. Da finden die bestimmt was von mir an ihr. Immerhin sass sie in meinem Wagen.»

«Blödsinn.» Stahl sah ihn an. Merkel nagte an seiner Unterlippe. «Hast du sie etwa auch wieder abgeholt?», fragte Stahl.

Merkel schüttelte den Kopf. «Nur hingebracht. Wie sie in den Wald gekommen ist, weiss ich nicht.»

«Du kannst mich am Bellevue rauslassen. Den Rest fahr ich mit dem Tram. In der Langstrasse klauen sie dir sonst die Reifen.»

«Du bist mir eine Geschichte schuldig», sagte Merkel.

«Die kriegst du. Versprochen. Dafür brauchen wir aber Zeit.»

Merkel fuhr rechts ran. Stahl stieg aus dem Wagen. Er sah der Limousine kurz nach. Er nahm die einfahrende Linie 8 und setzte sich neben eine ältere Frau, die ihn verkniffen anlächelte, ihre Handtasche fest an sich drückte und dann aus dem Fenster sah.

ZWEI

Lia hatte ihn abgehängt. Jedenfalls konnte sie ihn nirgendwo entdecken. Sie lief die Langstrasse hinab in Richtung Bahngleise. Hinter dem Rothaus bog sie links ab. Sie glaubte sich bei Röhmer erst einmal in Sicherheit. Ausgerechnet bei Röhmer. Ein Witz. Aber ihr fiel nichts Besseres ein. Freunde hatte sie in Zürich keine. Sie war erst vor einem halben Jahr aus Basel gekommen. Und da war sie ihrer alten Schulfreundin Elena begegnet. Im Synchronstudio von Röhmer.

Sie stand vor dem Cabaret Caligula und klopfte an die schwere Metalltür. Es war viel zu früh. Hier arbeitete man nachts und leckte tagsüber seine Wunden. Jemand öffnete die Tür. Eine dicke schwarze Frau mit einem bunten Tuch auf dem Kopf sah Lia fragend an. In der Hand hielt sie einen Putzeimer, ihre Hände steckten in gelben Plastikhandschuhen.

«Ich muss zu Röhmer.»

Die Schwarze erwiderte nichts. Aber sie machte auch keine Anstalten, Lia hereinzulassen.

«Es ist dringend.»

«Nix verstoh.»

«Röhmer. Where is Röhmer? I have to see him.»

Hinter der Schwarzen tauchte ein dürrer Stängel auf, der an einer Zigarette sog, als wolle er sie mit einem Zug abrauchen. Er taxierte Lia von Kopf bis Fuss. Dann neigte er abschätzend seinen Geierkopf. Ihm hing etwas zwischen den Zähnen, und er bohrte mit seiner Zungenspitze danach. Als er es befreit hatte, biss er mit den Schneidezähnen darauf herum und spuckte es aus. Tabak.

«Der Hintern ist ganz ordentlich. Aber die Beine sind zu kurz. Tanzen liegt also nicht drin. Sind die Titten echt? Wenn ja, kannst du auf den Zimmern arbeiten. Probe, versteht sich. Und deine erste Lektion kannst du gleich bei mir antreten.»

«Sie sind nicht Röhmer.»

«So? Bin ich nicht? Wer bin ich dann?»

«Ein kleiner Hund, der gross pinkeln will.» War das zu gewagt? Wenn der Kerl vor der Schwarzen sein Gesicht verlor, musste er reagieren. Er warf die Zigarette auf den Boden und ballte die Fäuste.

«Inbegriffen in der Lektion sind auch Schmerzen.» Er schob die Schwarze zur Seite und bedeutete ihr mit dem Kinn, sie solle verschwinden. Die Schwarze gehorchte. Der Geier schritt auf Lia zu und wollte sie am Handgelenk packen. Lia witterte es und zog den Arm zurück.

«Elena ist tot. Sagen Sie das Röhmer.»

Der Geier erstarrte. Lia wartete darauf, dass er seine Flügel in die Lüfte schwang und zu kreischen begann. Er blieb ruhig und flüsterte: «Elena ist tot? Ist das wahr?» Sein Hals reckte sich aus den Schultern und näherte sich Lias Gesicht. Sie hielt stand. «Seit wann?»

«Ich weiss es seit einer Stunde.»

«Von wem?»

«Von der Polizei.»

Sein Hals schnellte zurück. «Polizei?» Er sah sich links und rechts um. Fürchtete wohl, dass die Kavallerie bereits anrückte. Als er niemanden ausser Lia sah, zückte er sein Handy und wählte eine gespeicherte Nummer. «Tut mir leid, Boss. Es ist dringend. Hier ist eine Blondine und behauptet, Elena sei tot … alles klar. Wird erledigt.» Er steckte das Handy ein und liess den Blick nochmals über das Gelände schweifen. Dann lächelte er Lia schmierig an. «Kommen Sie doch bitte rein und fühlen Sie sich bei uns wie zu Hause. Herr Röhmer wird in wenigen Minuten hier sein.» Er ging einen Schritt zur Seite.

Lia ging die Stufen ins Dunkle hinab.

* * *

Stahl stieg am Helvetiaplatz aus dem Tram. Jetzt brach die Müdigkeit durch. Erst Nachtschicht, dann der Waldlauf und anschliessend für Bogner eine Stunde übernehmen. Das zog. Sollte er sich noch eine Schale genehmigen, ehe er sich schlafen legte? Blödsinn. Etwas hielt ihn davon ab, direkt in die Wohnung zu gehen. Er schlenderte durchs Quartier. Seine Gedanken kreisten um die schöne Tote. Merkel sagte, er habe sie ins Dolder gefahren. Und er habe Hug Bescheid gesagt. Obendrein wusste Hug, dass auch Stahl die Frau gesehen haben musste. Hug wusste, dass Stahl nichts entging. Deswegen hatte er ihn ja angeworben. Trotzdem hatte sich Hug noch nicht bei ihm gemeldet. Auch Hürlimann nicht. Hatte Hug der Polizei verschwiegen, dass die Frau im Hotel gewesen war? Oder durfte es Hürlimann nicht interessieren, dass die Tote zuletzt lebend im Dolder gesichtet worden war? Wen hatte sie dort getroffen?

Stahl witterte Brisanz. Er war zu lange in Rom gewesen, als dass ihm der Gestank fauler Geschichten entging. Es konnte ihm egal sein. Auch er hatte im Vatikan gelernt, über Dinge hinwegzusehen. Dinge, die ihn nichts angingen, Dinge, an denen er sowieso nichts ändern konnte. Die Strippen, an denen die Big Player zogen, waren lang und verworren. Da reichte ein Leben nicht aus, um Anfang und Ende zu finden. Aber durfte man es sich so einfach machen? Musste man hin und wieder nicht wenigstens den Versuch antreten, selbst die Fäden in die Hand zu nehmen? Das war der grosse Streit zwischen ihm und Cecilia gewesen. Deswegen war es auseinandergegangen. Cecilia schwor auf investigativen Journalismus. Stahl besass den Blick hinter die Kulissen und wusste es besser. Trotzdem konnte er das Lächeln der schönen Fremden nicht aus seiner Erinnerung bannen. Immer wieder tauchte ihr Gesicht vor ihm auf. Erst lebendig, die Treppen im Dolder emporschreitend – dann bleich auf der Bahre, bevor der Reissverschluss des Totensacks sie verschlang.

Er war in der Engelstrasse gelandet. Zwei langbeinige Frauen staksten ihm entgegen. Sie schienen nicht minder übermüdet. Hatten wohl die Nacht in der Mephisto-Bar getanzt. Die Blonde nickte ihm zu. Es kostete sie Mühe. Die Brünette brachte die Kraft nicht auf. Stahl lächelte tapfer. Er war trainiert. Bei der Garde hatte man stets wach zu sein. Schliesslich spürte man die Kraft Gottes im Rücken. Die Mädels hingegen kamen aus der Gruft des Teufels. Der Gedanke liess Stahl doppelt lächeln.

Er öffnete die Haustür und stieg die Treppen empor. Gezeter hinter der Wohnungstür im ersten Stock. Geschirr klirrte. Eine Frau fluchte zornig auf Spanisch. Stahl kümmerte es nicht. Hier krachte es täglich irgendwo. Im Gegensatz zum Dolder eine angenehme Abwechslung. Im Kreis 4 lebte und brodelte es. Da kämpfte man mit offenem Visier, nicht nur hinter verschlossenen Türen, auch auf der Strasse.

Im zweiten Stock herrschte Ruhe. Im dritten lag Stahls Wohnung. Bis zu seinem Tod hatte Albin darin gelebt. Er hatte sie Stahl vererbt. Ein Witz, nach all dem, was Albin und Alfred mit Stahl getrieben hatten. Erst hatte er das Erbe ablehnen wollen, jetzt war er froh, dass er die Wohnung hatte. Und dabei hatte er so gut verdient. Nicht nur bei der Garde, auch mit Nebendiensten als Kurier von Depeschen, die ihm Palm besorgt hatte. Auch Palm war tot. Und das ganze Geld, das Stahl über die Jahre angehäuft hatte, war mit einem Mal futsch gewesen. Er hatte Palms Anlegern vertraut. Ein Hedgefonds, der monatlich Minimum vier Prozent Rendite versprach. Das schien nicht übertrieben und dennoch weit über den sonstigen Festgeldangeboten der Banken. Plötzlich hatte der Manager aber seine eigenen Gelder aus dem Fonds abgezogen und die Anleger, Stahl eingeschlossen, konnten zusehen, wie ihre Kröten dahinschmolzen. Fromm hiess der Hund. Florian Fromm. Wenn Stahl ihn zwischen die Finger bekäme, würde es krachen. Aber Fromm war abgetaucht. Spurlos verschwunden. Mit fünfhundert Millionen Schweizer Franken. Ein Witz. Wie konnte einer so viel Geld und sich selbst in Luft auflösen? So einer musste doch Helfer haben.

Stahl öffnete die Wohnungstür und trat ein. Ein ungewohnter Geruch hing im Gang. Süsslich. Stahls Müdigkeit wich. Die Ohren gespitzt, den Körper in Spannung, setzte er Schritt um Schritt an den leeren Regalen vorbei, in denen einst Albins Bücher gestanden hatten. Am Ende des Gangs linste er vorsichtig ins Wohnzimmer. Auf dem Sofa sass ein Mann. Stahl schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Er war gekleidet wie ein Vertreter für Landmaschinen. Braune Cordhose, kariertes Holzfällerhemd, darüber eine grüne Lederweste. Sein Bauch spannte unter dem braunen Ledergürtel. Das runde Gesicht zierte ein rötlicher Schnauz. Die spärlichen rot-grauen Haare waren auf drei Millimeter getrimmt. Aus seinen glasig-grünen Augen, die auf fetten Tränensäcken schwammen, sah er zu Stahl hinüber.

«Entspannen Sie sich, Stahl», sagte er. Ein Deutscher. Stahl tippte auf Nordrhein-Westfalen. Er sog an einer Pfeife. Sie war ausgegangen. Er stocherte mit Pfeifenwerkzeug im Tabak und zündete das Kraut wieder an. Drei Züge, und der süssliche Duft durchzog die Wohnung.

«Sie gestatten doch?» Er hielt die Pfeife in die Höhe. «Ich habe den vollen Aschenbecher gesehen und daraus geschlossen, dass man hier rauchen darf.»

Stahl löste sich vom Türrahmen und ging einen Schritt ins Zimmer.

«Was wollen Sie hier?»

«Hilfe.»

«Von mir?»

«Für Sie.»

«Ich weiss mir selbst zu helfen.»

Der Unbekannte paffte. «Sie brauchen Geld», sagte er.

«Wer nicht?»

«Sie sind einen hohen Standard gewohnt. So, wie Sie jetzt leben, muss das doch erniedrigend sein.»

«Ich habe über die Hälfte meines Lebens schlechter gelebt.»

«Ich weiss. Heimkind. Mutter Hure, Vater Dealer und Zuhälter. Immer im Kampf, um aus dem Sumpf herauszukommen. Das ganze Klischee. Mit der Hilfe Gottes hatten Sie es dann tatsächlich geschafft. Zwölf Jahre Vatikan. Jetset. Am Puls der Zeit. Wichtig und erfolgreich. Und dann der Absturz. Sinnfrage. Depression. Austritt aus der Schweizergarde. Sie dachten, Sie hätten genug Geld auf der Seite, um sich die Auszeit leisten zu können. Und auf einmal: Puff. Alles weg. Ohne Sinn und ohne Geld. Und Sie sagen, Sie brauchen keine Hilfe?»

Stahl wurde ungeduldig. Er war kein Pfeifenraucher. «Wer sind Sie?»

«Reschke. Max Reschke. WID: Wirtschafts-Inkasso Dortmund.»

«Und? Was wollen Sie von mir? Bei mir gibt es nichts zu holen.»

Reschke lachte den Rauch aus den Wangen. «Das sagen sie alle. Ich glaube, der Tod hat nicht so viele Ausreden gehört wie ich. Aber keine Angst. Ich will Ihnen kein Geld nehmen. Ich will Ihnen welches geben.»

Stahl spitzte die Ohren.

«Anderthalb Millionen Euro.» Er zog an der Pfeife und liess die Summe wirken. «Interessiert?»

Stahl sagte nichts. Sein Schweigen war Frage genug.

«Das ist genau die Summe, die Sie bei Fromm verloren haben. Widersprechen Sie mir, falls ich mich irre.»

Stahl widersprach nicht. Reschke lag richtig. «Sie haben gute Informanten», sagte Stahl.

«Nicht gut genug. Deswegen bin ich hier.»

«Worüber sollte ich etwas wissen?»

Reschke zog ein Foto aus seiner Weste und reichte es Stahl. Stahl nahm es und sah es sich an. Er kannte die Frau auf dem Foto. Hier war sie allerdings nackt und posierte an einer Stange. Die schöne Tote aus dem Dolder.

«Elena Peres», sagte Reschke. «Achtundzwanzig Jahre. Aufstrebende Erotik-Darstellerin. Nicht die ganz harten Pornos. Man sieht nicht alles. Aber doch genug.» Ein dreckiges Lachen entglitt ihm.

«Ausserdem verdiente sie gut als Callgirl in höheren Kreisen. Jetzt ist sie tot.»

«Ich weiss», sagte Stahl.

«Ich war heute Morgen auch im Wald. Ich habe Sie dort gesehen. Sportlich. Nach der Nachtschicht noch joggen gehen. Respekt. Die alte Disziplin der Schweizergarde, was?»

«Weiter.»

«Sie müssen Elena gesehen haben, als sie ins Dolder gekommen ist. Und Sie haben sie heute Morgen wiedererkannt.»

«Und?»

«Waren Sie bei der Polizei? Nein. Warum nicht?»

«Diskretion. Alte Gewohnheit.»

Reschke hatte seine Pfeife wieder vernachlässigt. Er gab ihr erneut Feuer und paffte sie an. Seine Züge wirkten jetzt hektischer. Das fleischige Gesicht schwabbelte.

«Genau deswegen sind Sie der richtige Mann für uns. Anderthalb Millionen.»

«Wofür? Für den Mörder von Elena Peres?»

Das zweite dreckige Lachen von Reschke. «Da gibt es bessere und billigere Huren. So viel ist keine wert.» Er riss sich zusammen.

«Entschuldigung. Ich meine das nicht persönlich. Nur vom Markt her. Der Markt gäbe das nicht her. Anderthalb Millionen für den Mörder einer Hure. Niemals.»

«Wofür gibt der Markt diese Summe her?»

«Für den Kopf von Florian Fromm.»

Diesmal vergass Reschke die Pfeife nicht, sondern heizte sie ordentlich ein. Er musste sie aus der Hand legen, weil der Pfeifenkopf ihm in den Fingern brannte.

«Ist Fromm nicht etwas zu heiss?», fragte Stahl.

«Sehr heiss. So heiss, dass Kommissar Hürlimann den Fall ungern fest anpacken will.»

«Fromm hat also mit dem Mord an Elena Peres zu schaffen?»

«Ich vermute es. Wir hatten Hinweise, dass die junge Dame häufiger Dates mit Fromm hatte, wenn er in Zürich gastierte. Er schien eine grosse Schwäche für sie zu haben.»

«Wie sind Sie auf ihre Spur gekommen?»

«Zufall. Über eine andere Person, die ebenfalls ein Faible für Elena Peres hatte.» Er nahm die Pfeife in die Hand, zog einmal daran und legte sie wieder weg. Dann griff er nach seinem iPhone und tippte ein paarmal darauf herum. «Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas. Schauen Sie YouTube?», fragte er.

«Hin und wieder.»

«Geniales Portal. Ich hänge oft darin. Gucke mir alte Konzerte von Creedence Clearwater Revival an.» Er öffnete das Portal und tippte. Dabei sang er: «I Put A Spell On You.» Dann reichte er Stahl das iPhone.

«Hier. Schauen Sie.»

Stahl nahm es entgegen. Aber es erschien nicht John Fogerty, der ins Mikrofon schrie, sondern ein Mann, der hinter einem Tisch sass, auf dem Geldbündel ausgebreitet lagen. Sein Gesicht war mit verschwommenen Pixeln unkenntlich gemacht, seine Stimme leicht verfremdet. Stahl erkannte ihn dennoch. Es war Reschke, der sprach.

«Diese anderthalb Millionen Euro erhält derjenige, der uns Hinweise liefert, die zur Erfassung von Florian Fromm führen. Florian Fromm hat unzählige Anleger in den Ruin getrieben und sich selbst mit einer Summe von fünfhundert Millionen Schweizer Franken abgesetzt. Das Geld, das sie vor mir sehen, ist echt. Es kann Ihr Geld sein, wenn Sie uns helfen, Florian Fromm zu finden.»

Das iPhone vibrierte in Stahls Hand. Als Klingelton folgte der Basslauf von «Suzie Q». Reschke nahm Stahl das iPhone aus der Hand und lauschte dem Anrufer. «Ja? Verdammte Scheisse. Wofür bezahl ich dich?» Er drückte den Anrufer weg und nahm die Pfeife. Er zog nicht daran, zündete sie auch nicht an, sondern biss darauf herum, als wäre es der Spielknochen eines Pitbulls.

«Unsere heisseste Spur. Mein Mann hat sie verloren, weil er Höhenangst hat. Stellen Sie sich das vor.» Er sah Stahl an. «Und? Was ist? Sind Sie dabei?»

«Nein.»

Reschke hob erstaunt die Brauen. «Sie schlagen anderthalb Millionen aus? Laut meinen Informationen haben Sie nicht nur so viel Geld verloren, sondern einige Schulden zu tilgen. Wenn ich hochrechne, müssen Sie mindestens noch zehn Jahre im Dolder Wache schieben, bis sie aus den roten Zahlen draussen sind. Ausserdem haben Sie bei diversen Banken um einen weiteren Kredit gefragt, um ihren Traum vom Boxclub verwirklichen zu können. Bislang ohne Erfolg.»

Stahl schluckte. Er sagte es trotzdem und spürte, wie es ihm am Gaumen klebte: «Ich bin kein Kopfgeldjäger.»

Reschke lachte. Diesmal rutschte ihm das dreckige Grunzen nicht heraus. Er spuckte es bewusst und setzte ein zweites hinterher. «Ich kenne Ihre Vita. Die Dinge, die Sie getan haben, sind nicht edler. Mimen Sie also nicht den Kreuzritter.»

«Verlassen Sie meine Wohnung. Sofort. Und wenn ich Sie noch mal hier drin ohne Einladung erwische, bekommen Sie einige der Dinge, die ich getan habe, direkt zu spüren. Sie kennen meine Vita.»

Reschke packte seine Pfeife und stopfte sie in die Westentasche. Er zog die Hand heraus und hielt nun eine Visitenkarte zwischen den Fingern. «Ihr Stolz in Ehren. Aber Sie können ihn sich nicht leisten.»

Stahl rührte die Visitenkarte nicht an. Reschke legte sie auf den Tisch. «Wenn Sie nachgedacht haben, rufen Sie mich an. Tag und Nacht.»

Reschke ging. Stahl hörte, wie die Wohnungstür zufiel.

* * *

«Er braucht lange», sagte Lia und nahm eine Zigarette aus dem Päckchen. Die Zigarette fiel ihr aus den zitternden Fingern. Sie rollte über den Tresen. Der Dürre fing sie auf, ehe sie auf den Boden fiel, und zog sie sich schnuppernd unter der Nase durch. «Was rauchst du da für Kraut?», fragte er, gab ihr die Zigarette zurück und prahlte mit der Flamme eines goldenen Feuerzeugs.

Lia liess sich Feuer geben und schob dem Dürren das Päckchen über die Theke. Er nahm es und verzog das Gesicht. «Indonesische? Mit Zimt? Kenne ich nicht. Gibt’s die nur zur Vorweihnachtszeit? Adventszigaretten?» Er fand sich lustig und goss sich einen Whiskey ein. «Den gibt’s sonst auch nur zu Weihnachten.» Er trank und hustete die Hitze des Getränks aus der Kehle. «Oder zu Traueranlässen.» Er goss sich nach. «Und zu trauern gibt es immer was. Auch einen?»

«Danke. Ein heisses Wasser mit Ingwer wäre mir lieber.»

«Ingwer? Zimt? Was bist denn du für eine? Und du willst eine Freundin von Elena sein?»

Die Tür des Lokals flog auf. Der Dürre erschrak und liess die Whiskeyflasche unter der Theke verschwinden. Das Glas schob er Lia rüber. «Wehe, du verpfeifst mich.»

Lia drehte sich nach der Gestalt um, die den Dürren so in Schrecken versetzte. Der Kerl war zu lange unter der Höhensonne gelegen, sein Gesicht glänzte rotbraun. Das halblange Haar war schwarz nachgefärbt und aalte sich in Gel. Die gebleichten Zähne lächelten mit Nachdruck. Eine pigmentgestörte Hand, an deren Fingern Lia auf die Schnelle vier Ringe zählte, schoss auf sie zu. Unter dem dunkelblauen Jackett erschienen die Ärmel des rosafarbenen Hemdes.

«Röhmer. Wie Cäsar», sagte er und erwartete wohl einen Lacher. Lia verweigerte ihn. Sie hätte am liebsten geheult. Wo war sie nur reingeraten?

«Und Sie sind?», fragte er.

«Lia Orff. Eine Freundin von Elena.»

«Freundin? Ich kenne Elenas Freundinnen. Sie arbeiten alle für mich. Sie kenne ich nicht. Aber wenn Sie wollen, können Sie bei mir gern anfangen.»

«Ich habe bereits für Sie gearbeitet. Ich habe Elena synchronisiert.»

«Sieh einer an. Ich wollte Sie schon immer mal kennenlernen. Ihre Stimme ist das Geheimnis von Elenas plötzlichem Erfolg.»

«Elena ist tot.»

«Ja, Carlo sagte mir so etwas.»

«Ermordet.»

«Woher wissen Sie das?»

«Ein Polizist hat es mir gesagt. Am Telefon. Hürlimann heisst er.»

«Hürlimann. Soso.» Röhmer kratzte sich am Kinn. Die geröstete Haut schien zu jucken. «Carlo. Giess mir einen ein.»

Carlo gehorchte und reichte Röhmer das Glas. Er trank nicht daraus, lief dafür zwischen den Tischchen des Clubs auf und ab, wie ein Politiker, der eine grosse Rede ausbrütete. Endlich blieb er stehen und sah zu Lia hinüber. «Weiss jemand, dass Sie hier bei mir sind?»

«Nein. Den Typen habe ich abgehängt.»

Röhmer riss die Augen auf. «Typen? Was für einen Typen?»

«Wirkte auf mich wie ein Südamerikaner.»

«Und? Was wollte er?»

«Keine Ahnung. Habe ihn nicht gefragt. Bin einfach nur davon. Er sah nicht so aus, als wollte er mich auf einen Drink einladen.»

Röhmer schob nachdenklich sein Kinn von rechts nach links. «Und wie sehe ich aus? Wie die Heilsarmee? Was habe ich mit Elenas Tod zu schaffen? Und mit Ihnen? Gar nichts. Aber die Sache stinkt nach Ärger. Und den meide ich, so gut es geht.» Er drehte sich zu Carlo, der zustimmend nickte, wobei nicht nur sein Kopf, sondern der ganze Kerl wippte. «Bring sie zur Tür. Und sieh dich draussen mal um, ob ein gefährlicher Südamerikaner übers Gelände streift.»

Carlo streckte sich und nickte Lia zu.

«Sie können mich doch nicht einfach rauswerfen. Ich bin die Nächste, die der Typ killt.»

«Ich bin nicht die Polizei. Gehen Sie zu Hürlimann.»

«Und was soll ich ihm erzählen? Vielleicht, dass Sie minderjährige Mädchen aus der Ukraine zu Pornos zwingen?»

Röhmer horchte auf. «Was unterstellen Sie mir da? Habe ich richtig gehört?»

«Ich habe Beweise. Elena hat sie mir gegeben.»

Röhmer sah sie an und kniff die Augen zusammen. Er kratzte sich wieder am Hals. «Sie bluffen. Es gibt keine Beweise.»

«Aber es wird Ärger geben, wenn ich das den entsprechenden Leuten stecke.»

«Wenn Sie so wichtige Leute kennen, dann schlüpfen Sie doch bei denen unter. Carlo, wirf sie raus.»

Carlo packte sie unsanft am Arm. Lia riss sich los. Carlo schnappte nach. Jetzt noch fester. Lia jaulte auf. Röhmer verzog genüsslich den Mund. Er schien Gefallen an Schmerzen anderer zu haben.

«Sie sind ein Drecksack. Eine fiese, feige Ratte. Leute wie Sie müsste man kaltmachen. Aber es trifft immer die Falschen», schrie Lia.