Irene Winters ist Agentin der unsichtbaren Bibliothek, die jenseits von Raum und Zeit als Tor zwischen den Welten existiert. Sie hat gerade auf einer zwielichtigen Auktion ein seltenes Buch erworben, als sie und ihr Assistent Kai überfallen werden. Zu spät erkennt Irene, dass es nicht um das Buch, sondern um Kai geht. Er wird entführt, ohne dass Irene es verhindern kann. Die Spur der Verbrecher führt in ein dunkles Venedig des immerwährenden Karnevals. Ein Ort der Masken und Geheimnisse. Und des Todes …
SPANNEND WIE BEN AARONOVITCH, ORIGINELL WIE JASPER FFORDE UND RAFFINIERT WIE KAI MEYER
Genevieve Cogman hat sich schon in früher Jugend für Tolkien und Sherlock Holmes begeistert. Sie absolvierte ihren Master of Science (Statistik) und arbeitete bereits in diversen Berufen, die primär mit Datenverarbeitung zu tun hatten. Mit ihrem Debüt Die unsichtbare Bibliothek sorgte sie in der englischen Buchbranche für großes Aufsehen. Genevieve lebt im Norden Englands.
GENEVIEVE COGMAN
BASTEI ENTERTAINMENT
Deutsche Erstausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2015 by Genevieve Cogman
Titel der englischen Originalausgabe: »The Masked City«
Originalverlag: Tor, an imprint of Pan Macmillan, London
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Frank Weinreich
Titelillustration © Thinkstock: Fuse | macrovecto | kameshkova | asmakar
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-2316-0
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Auszug aus einem Unterrichtsdokument über die Orientierung in den verschiedenartigen Welten
Abteilung 2.1, Version 4.13
Autorin: Coppelia; Redakteur: Koschtschei;
Gutachter: Gervase und Ntikuma
Nur für autorisierte Mitarbeiter bestimmt
Inzwischen werden Sie die Grundausbildung absolviert haben und entweder zusammen mit einem erfahreneren Bibliothekar im Außendienst tätig sein oder sich auf einen solchen Einsatz in der Praxis vorbereiten. Dieses vertrauliche Dokument stellt eine tiefergehende Untersuchung zur Position der Bibliothek sowohl die Elfen als auch die Drachen betreffend dar. Es wird Ihnen helfen, zu verstehen, weshalb wir uns keiner der beiden Seiten anschließen.
Sie werden sich der Gefahr bewusst sein, welche die Elfen für die Menschheit darstellen. Sie gewinnen ihre Lebenskraft aus den emotionalen Interaktionen mit Menschen, durch die wir sie nähren. Und sie nehmen jeden anderen als sich selbst – Menschen, aber tatsächlich auch andere Elfen – als bloße Mitwirkende in ihrer eigenen persönlichen Lebensgeschichte wahr, die lediglich Hintergrundrollen ausfüllen. Genau hier haben wir eine interessante Feedbackschleife. Je dramatischer die Elfen ihre persönliche Lebensgeschichte zu gestalten vermögen (indem sie beispielsweise die Rolle eines Bösewichts, Schurken oder Helden spielen), desto mehr Macht können sie – als Individuum – gewinnen. Und je mächtiger sie sind, desto stereotypischer wird dieses Rollenspielverhalten. Als Resultat all dessen ist zu beobachten, dass die Sichtweise eines Elfen im Verlaufe der Zeit immer soziopathischer* wird.
Hinsichtlich anderer Gefahren lässt sich sagen, dass die Elfen bestimmte Kräfte aufweisen: Diese reichen von der Begabung, sich selbst in einen einfachen Glanz-Zauber zu kleiden (um die menschliche Wahrnehmung ihrer Person zu beeinflussen), bis hin zu der Fähigkeit, diejenigen emotional zu manipulieren, die sich in ihrer Nähe befinden. Darüber hinaus zeigen mächtige Elfen gelegentlich spezielle magische oder körperliche Kräfte, die von dem persönlichen Archetypus oder Stereotyp abhängen, für dessen Übernahme sie sich entschieden haben.
Die bekannten Welten werden anhand einer Skala klassifiziert, die von völliger Ordnung bis zum absoluten Chaos reicht. Und je weiter wir in die Welten hineinreisen, die vom Chaos beeinflusst sind, desto mehr Elfen können dort angetroffen werden. In den vom Chaos beeinflussten Welten besteht natürlich das Risiko, dass Menschen einer Chaos-Kontamination ausgesetzt sind. Diese kann die Kräfte eines Bibliothekars beeinträchtigen oder ihn sogar daran hindern, wieder in die Bibliothek einzutreten. In solchen Welten, in denen Elfen vorherrschen, fungieren Menschen als Darsteller im Hintergrund. Deren Rollen reichen von Haustieren bis hin zu Nahrungsmitteln; und sie werden nur als Requisiten für die Psychodramen, Liebesgeschichten oder Rachefeldzüge betrachtet, denen sich die Elfen um sie herum hingeben – Körper und Geist dieser Elfen sind ganz und gar mit Chaos kontaminiert. Eigenwillige oder schwächere Elfen können imstande sein, mit einzelnen Bibliothekaren auf einer relativ »menschlichen« Ebene zu kommunizieren. Die mächtigeren Elfen werden dies entweder nicht wollen oder erst gar nicht dazu fähig sein. Hüten Sie sich davor, Bündnisse zu schließen, wenn allem Anschein nach freundliche Annäherungsversuche gemacht werden, da die Betreffenden trotzdem sehr elfenhafte Beweggründe für ihr Verhalten haben werden.
Und weshalb, so fragen Sie sich vielleicht, verbünden wir uns dann nicht gleich mit den Drachen? Die Drachen stehen für die Ordnung – genauso wie die Elfen für das Chaos stehen. Sie repräsentieren die Wirklichkeit in der gleichen Weise, wie die Elfen Konzepte der Fiktion und Unwirklichkeit umarmen und von diesen gestärkt werden. Somit schätzen die Drachen das »Wirkliche« und die materielle Welt über alles andere und haben wenig Geduld, wenn es um Angelegenheiten und Gebilde der Fantasie geht. Warum also sollten wir nicht die materielle Wirklichkeit umarmen** wollen? Die Antwort darauf lautet, dass die Drachen auf ihre eigene Art genauso voreingenommen und nichtmenschlich in ihrer Sichtweise sind wie die Elfen.
Drachen mögen die materielle Welt repräsentieren – die Welt, die wir berühren können, wenn man es so ausdrücken will –, doch die materielle Wirklichkeit ist nicht freundlich.*** Sie ist rau, grausam und erbarmungslos. Die Kräfte der Drachen wurzeln im Reich des Materiellen: Sie können das Wetter, die Gezeiten, die Erde und so weiter kontrollieren. Drachen sind zudem äußerst pragmatisch in ihrer Denkweise und sehen es als unnötig an, über Demokratie, menschliche Selbstbestimmung oder vergleichbare Fantasiegebilde zu diskutieren – was darin begründet liegt, dass sie sich selbst nachweislich für die mächtigsten Geschöpfe in ihrem jeweiligen Umkreis halten. Sie glauben, dass sie dies automatisch dazu berechtigt, sich ihre Einflussbereiche zu unterwerfen. Das führt dazu, dass diejenigen Welten, in denen ein hohes Maß an Ordnung vorliegt, von den Drachen beherrscht werden – entweder offen oder hinter den Kulissen.
Die Bibliothek hilft, mittels ihrer Verbindungsstellen – den Türen zu den mannigfaltigen Parallelwelten – das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Diese Verbindungsstellen wurden durch die Entnahme von grundlegenden Büchern aus jenen Welten aufgebaut. Die Verknüpfungen der Bibliothek zu anderen Welten verhindern, dass diese zu schnell in Richtung Chaos oder Ordnung treiben; und eine in vernünftiger Weise stabile Umgebung für Menschen ist irgendwo in der Mitte realisierbar.**** Junior-Bibliothekare können schwer bestraft werden, wenn man sie dabei beobachtet, nicht autorisierte Abkommen mit den Elfen zu schließen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn diese Abkommen so zu verstehen sind, dass sie die äußerst wichtige Neutralität der Bibliothek untergraben – eine Unparteilichkeit, die um jeden Preis bewahrt werden muss. An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass wir nicht hier sind, um Urteile darüber zu fällen, was »das Beste für die Menschen« ist. Den Menschen sollte es überlassen werden, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Der Zweck der Bibliothek ist es, die Menschen entweder vor der absoluten Wirklichkeit oder vor der absoluten Unwirklichkeit zu bewahren.
Und Sie werden diese Aufgabe erfüllen, indem Sie die nominierten Bücher einsammeln, um das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten.
* Der Frage nachzugehen, ob es sich um eine Form der Soziopathie oder eine der Psychopathie handelt, würde den Rahmen des vorliegenden Unterrichtsdokuments sprengen.
** Im übertragenen Sinne gesprochen. Das Privatleben der Bibliothekare ist ihre eigene Angelegenheit.
*** Bibliothekare, die andere theologische Meinungen vertreten, werden darauf hingewiesen, dass ihre persönlichen Glaubensvorstellungen ebenfalls ihre eigenen Angelegenheiten sind.
**** Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass dies eine extrem simplifizierende Darstellung ist. Eine tiefgehende Erörterung würde jedoch den Rahmen des vorliegenden Unterrichtsdokuments sprengen und ein hohes Maß an Fachkenntnis in der Sprache erfordern.
Smog und Schmutz hingen in der Londoner Luft. Zwar waren Kais Sinne besser als die eines Menschen – auch wenn er versuchte, sich nicht zu viel darauf einzubilden –, aber selbst er konnte nicht genauer als der durchschnittliche Londoner erkennen, was sich in den dunklen Gassen alles abspielte, die er gerade hinabblickte. Und sogar einheimische Londoner spazierten heute vorsichtig durch die engen Straßen hinter dem Bahnhof King’s Cross.
Aber wo das Verbrechen gedieh, erlebten auch die Detektive eine Blütezeit. Und er war hier, um sich mit Peregrine Vale zu treffen, einem Freund – und einem Streiter gegen das Verbrechen.
Er hielt inne, um das Fenster eines Pfandhauses zu studieren. Tatsächlich versuchte er die Vorgänge auf der Straße hinter ihm einzuschätzen. Obgleich er niemanden sehen konnte, der ihn gezielt verfolgte, war da etwas in der Luft, das ihn nervös machte – ein Vorgeschmack von Gefahr. Doch es gab nur sehr wenige Menschen, die in der Lage waren, einen Drachen, selbst in seiner menschlichen Gestalt, herauszufordern; und Kai rechnete nicht damit, auf irgendeinen von ihnen hier in den Hintergassen zu stoßen.
Vale hielt sich in einem Lagerhaus direkt um die Ecke auf. Kai war beinahe dort – und gleich würde er herausfinden, welche Art von Unterstützung Vale bei seinem Fall benötigte.
Auf einmal schrie jemand in der Nähe. Es war das Kreischen einer Frau, das echtes Entsetzen ausdrückte und urplötzlich mit einem jaulenden Husten abgeschnitten wurde. Kai drehte sich jählings um und spähte in den wabernden Nebel hinein.
Zwei Männer und eine Frau standen zusammengedrängt an einem Ende eines besonders feuchtkalten Durchgangs. Die Frau war von einem der Angreifer gepackt worden, der ihre Arme hinter ihrem Rücken festhielt, während der andere Kerl mit seiner Faust ausholte, um abermals zuzuschlagen.
»Lasst sie los«, befahl Kai mit ruhiger Stimme. Er konnte ohne Schwierigkeiten mit zwei Menschen fertigwerden. Selbst wenn sie Werwölfe sein sollten, wären sie keine wesentliche Gefahr. Allerdings würde das dazu führen, dass er sich verspätete.
»Verschwinde!«, knurrte einer der Männer wütend und wandte sich von der Frau ab, um Kai ins Gesicht zu schauen. »Das hier geht dich nichts an, und es ist auch nicht dein Stadtteil.«
»Es geht mich etwas an, wenn ich mich dafür entscheide, dass es mich etwas angeht.« Kai schritt durch die Gasse auf die kleine Gruppe zu und schätzte automatisch die zwei Kerle ein, so wie es die Waffenmeister seines Vaters ihn gelehrt hatten. Die Männer waren im Schulterbereich muskulös und insgesamt kräftig gebaut. Doch beide zeigten auch Anzeichen wachsender Leibesfülle und andere Folgeerscheinungen eines ausschweifenden Lebens. Er konnte es mit ihnen aufnehmen, genauso wie er es ein paar Tage zuvor mit anderen ihres Schlages aufgenommen hatte.
Während der eine Kerl die Frau weiter festhielt, kam der andere näher auf Kai zu; die Fäuste hatte er in einer plumpen Boxerhaltung gehoben. Er war leichtfüßiger, als Kai erwartet hatte, aber trotzdem nicht schnell genug. Mit seiner rechten Faust täuschte er einen Schlag an und versuchte dann, mit einer linken Geraden das Kinn von Kai zu treffen, der jedoch seitlich nach vorne auswich. Damit stand er genau richtig, um dem Mann seine Hand seitlich in die Niere zu knallen. Dann trat er ihm in die Kniekehle, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, und rammte seinen Kopf gegen die Mauer. Der Kerl ging zu Boden.
»Jetzt hab dich nicht so«, sagte der andere Mann und ging rückwärts tiefer in die Gasse hinein, wobei er die Frau wie einen Schild vor sich hielt. In seinen Augen begann sich Panik zu zeigen. »Du gehst einfach weg, und niemand wird verletzt …«
»Lass du einfach diese Frau los, und du wirst nicht verletzt«, korrigierte ihn Kai. Er schritt nach vorn und überlegte, wie er seinen Angriff eröffnen sollte. Ein Sprung zur Seite mit einem Schlag gegen den Hals des Mannes könnte die Angriffsoption sein, die das geringste Risiko für die Frau darstellte, und doch …
»Jetzt«, sagte eine Stimme von oben.
Zu beiden Seiten und hinter ihm knallten Türen auf, und im selben Augenblick fiel etwas von oben herab und stürzte in einem Knäuel von Schatten auf ihn ein. Instinktiv hechtete Kai zur Seite, doch dann war er von zu vielen Männern umringt. Ein Dutzend von diesen Kerlen, wie der im Nahkampftraining geschulte Teil seines Verstandes bemerkte, und noch mehr hinter den offen stehenden Türen. Er hatte keinen Platz, um ihnen auszuweichen, und die Männer zögerten nicht. Keiner von ihnen überließ es seinem Nebenmann, die ersten Hiebe einzustecken, wie es bei Schlägertypen normalerweise üblich war. Eine Falle! Sie kamen herangestürmt, die meisten von ihnen mit bloßen Händen; einige trugen aber auch Schlagringe oder unauffällige Totschläger.
Er musste irgendwie hier herauskommen. Flucht war in diesem Fall keine Schande. Es war Bestandteil der Ausbildung eines Kriegers, eine überlegene Macht zu erkennen und in geeigneter Weise darauf zu reagieren.
Da schlang sich von hinten ein Arm um seinen Hals. Kai packte ihn, ging hinab auf ein Knie und schleuderte den Mann über seinen Kopf hinweg – in die Kerle hinein, die von vorne auf ihn eindrangen. Er blieb geduckt, drehte sich um die eigene Achse, wobei er ein Bein ausgestreckt hielt, und senste einem der Kämpfer die Füße weg. Die Schwungkraft nutzte er, um sich in einer Drehbewegung zu erheben. Vier Männer befanden sich noch zwischen ihm und dem Weg zur Gasse hinaus. Vier Hindernisse, die zu beseitigen waren.
Vales Fall musste wichtig sein, um diese Form von Einmischung zu rechtfertigen.
Kai bemerkte das Netz, das ihn knapp verfehlt hatte und nun verheddert auf der Straße lag. Es war eine abscheuliche Arbeit – mit Metall, das in die Seile geflochten war. Seltsam! Weshalb machte man sich solche Mühe, ihm eine Falle zu stellen und ihn persönlich zu fangen? Wenn diese Kerle bereits Vale geschnappt hatten, dann würden sie das noch bedauern.
Er rammte seinen Ellenbogen nach hinten und spürte den harten Stoß, als der Arm gegen ein Kinn prallte; dann setzte er mit schwingenden Körperbewegungen dazu an, vorwärtszulaufen. Zumindest einer der Männer vor ihm sollte zurückweichen …
Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie alle gleichzeitig – wie eine menschliche Flutwelle – über ihn herfielen. Er schlug nach oben gegen eine Kehle und dann nach unten in eine Leistenbeuge – Hiebe, die Gegner normalerweise kampfunfähig machten. Aber diese Männer gingen nicht zu Boden. Sie spürten den Schmerz, sie stöhnten, sie taumelten; aber sie standen ihm immer noch im Weg.
In einer plötzlichen Explosion von Schmerz traf ihn ein Hieb am Hinterkopf, und sein vernichtender Schlag verlor alle Wucht, als er auf eines seiner Knie sank. Er wusste, dass er jetzt eine leichte Beute war, doch für den Moment gehorchten ihm seine Muskeln nicht mehr.
Ein anderer Mann schlug ihm ins Gesicht. Kai spuckte Blut.
Ein Kerl hinter Kai warf sich von oben auf ihn und drückte ihn auf den schmutzigen Bürgersteig. Kai rang nach Atem, und Funken tanzten ihm vor den Augen. Er konnte fühlen, wie die reine Wut jetzt durch seine Adern strömte. Wie konnten die Menschen es wagen, ihn auf diese Weise anzugreifen?
In ihm gab es keinerlei Raum für Furcht. Es war einfach nicht möglich, dass dieser Abschaum gewann.
Er spürte, wie sich sein natürlicher Körper durchsetzte: Seine Hände wurden zu Klauen, und Schuppen begannen sich auf seiner Haut abzuzeichnen, als sich seine wahre Natur im Gefolge dieser Wut erhob. Er würde den Fluss gegen diese Kerle heraufbeschwören, er würde sie aus diesem London wegspülen, er würde sie für diese Unverschämtheit bezahlen lassen.
Quer durch London fühlte er, wie sich die Themse und all ihre Nebenflüsse in Erwiderung seines Zorns regten. Er mochte der geringste und jüngste der Söhne seines Vaters sein, aber er war immer noch ein Drache aus dem königlichen Haus. Mit einem Ruck streckte er sich aus und warf sich nach hinten, wodurch er den Schläger von seinem Rücken zwang und ihn wegbeförderte; dann drückte er sich hoch und fletschte knurrend die Zähne.
Weitere Körper stürzten sich auf ihn und drückten ihn wieder zu Boden; starke Hände pressten seine Gelenke fest auf den Bürgersteig. Seine Klauen hinterließen Spuren im Boden, während er darum kämpfte, die Arme zu befreien und sich hochzudrücken. Zum ersten Mal spürte er einen Stachel des Zweifels. Vielleicht wäre es klüger, seine wahre Gestalt vollständig anzunehmen – die sie unmöglich würden bändigen können. Das würde freilich ganz London darauf aufmerksam machen, dass in seiner Mitte ein Drache spazieren ging. Doch ehe er diesen Kampf hier verlor …
Eine Hand verhedderte sich in seinem Haar, zerrte seinen Kopf nach hinten, und Kai spürte, wie kaltes Metall sich mit einem schnappenden Geräusch um seinen Hals schloss. Und jetzt lag unvermittelt der ebenso bösartige wie spannungsgeladene und penetrante Geruch von Elfenmagie in der Luft. Sie war um ihn herum eingerastet – und band ihn. In plötzlichem Erschrecken schrie er auf, während die fernen Flüsse verblassten und ganz aus seinen Sinnen verschwanden – und während seine Finger, die nunmehr wieder rein menschlicher Natur waren, über den Beton kratzten.
»Das dürfte reichen«, sagte eine kalte Stimme. Es war das erste Mal, dass irgendjemand während des ganzen Überfalls gesprochen hatte. Und es war das Letzte, was Kai hörte. Er bekam einen letzten Schlag gegen seinen Kopf, und dann ergab er sich der Bewusstlosigkeit.