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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2011
ISBN 978-3-8270-7724-0
© 2011 Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
© 1987 Tahar Ben Jelloun
Die Originalausgabe erschien 1987 unter dem Titel
La nuit sacrée
bei Éditions du Seuil
Copyright der deutschen Übersetzung von Eva Moldenhauer
© 1988, 2011 Eva Moldenhauer
Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg,
unter Verwendung einer Fotografie von © Trevillion
Datenkonvertierung: psb, Berlin
Inhalt
Vorrede
Ortsbeschreibung
Die Nacht des Schicksals
Ein sehr schöner Tag
Der duftende Garten
Die Spiegel der Zeit
Ein den Rücken streichelnder Dolch
Die Sitzende
Der Konsul
Der Pakt
Niedergeschlagene Seele
Die Unordnung der Gefühle
Das Zimmer des Konsuls
Ein See schweren Wassers
Die Komödie des Bordells
Der Mord
In der Finsternis
Der Brief
Asche und Blut
Die Vergessenen
Meine Geschichte, mein Gefängnis
Die Hölle
Der Heilige
Vorrede
Worauf es ankommt, ist die Wahrheit.
Jetzt, da ich alt bin, habe ich alle Heiterkeit, um zu leben. Ich werde sprechen, die Wörter niederlegen und die Zeit. Ich fühle mich ein wenig schwer. Es sind nicht die Jahre, die am meisten wiegen, sondern all das, was ungesagt geblieben ist, all das, was ich verschwiegen und vertuscht habe. Ich wusste nicht, dass ein Gedächtnis voll Heimlichkeiten und verhaltener Blicke zu einem Sack voll Sand werden kann, der das Gehen erschwert.
Ich habe lange gebraucht, um zu euch zu gelangen. Freunde der Rechtschaffenheit! Der Platz ist immer noch rund. Wie der Wahnsinn. Nichts hat sich verändert. Weder der Himmel noch die Menschen.
Ich bin froh, endlich hier zu sein. Ihr seid meine Erlösung, das Licht meiner Augen. Meine Runzeln sind schön und zahlreich. Jene auf der Stirn sind die Spuren und die Prüfungen der Wahrheit. Sie sind die Harmonie der Zeit. Jene auf dem Rücken meiner Hände sind die Linien des Schicksals. Seht, wie sie sich kreuzen, Glückswege anzeigen, wie ein Stern nach seinem Sturz ins Wasser eines Teichs.
Die Geschichte meines Lebens ist hier eingezeichnet: Jede Runzel ist ein Jahrhundert, eine Straße in einer Winternacht, eine klare Quelle an einem nebligen Morgen, eine Begegnung in einem Wald, eine Trennung, ein Friedhof, eine sengende Sonne … Die Runzel hier auf dem Rücken der linken Hand ist eine Narbe; eines Tages ist der Tod stehen geblieben und hat mir eine Art Stange gereicht. Vielleicht um mich zu retten. Ich habe ihn weggestoßen und ihm den Rücken gekehrt. Alles ist einfach, vorausgesetzt, man schickt sich nicht an, den Flusslauf umzuleiten. Meine Geschichte ist weder groß noch tragisch. Sie ist bloß sonderbar. Ich habe alle Gewalttätigkeiten besiegt, um die Leidenschaft zu verdienen und ein Rätsel zu sein. Ich bin lange durch die Wüste gewandert; ich habe die Nacht durchmessen und den Schmerz gezähmt. Ich habe »die hellsichtige Wildheit besserer Tage« gekannt, jener Tage, an denen alles friedlich wirkt.
Freunde der Rechtschaffenheit! Was ich euch anvertrauen will, ähnelt der Wahrheit. Ich habe gelogen. Ich habe geliebt und verraten. Ich habe das Land und die Jahrhunderte durchquert. Ich bin oft in die Verbannung gegangen, einsam unter den Einsamen. Ich erreichte das Alter an einem Herbsttag, und mein Gesicht ward der Kindheit zurückgegeben, ich meine jener Unschuld, die mir versagt geblieben war. Erinnert euch! Ich war ein Kind mit fragwürdiger, schwankender Identität. Ich war ein Mädchen, maskiert durch den Willen eines Vaters, der sich erniedrigt, gedemütigt fühlte, weil er keinen Sohn hatte. Wie ihr wisst, war ich dieser Sohn, von dem er träumte. Das Übrige kennen einige von euch; andere haben hier und dort etwas davon gehört. Diejenigen, die es riskiert haben, das Leben dieses Kindes aus Sand und Wind zu erzählen, haben Ärger bekommen: Manche haben das Gedächtnis verloren; andere hätten fast ihre Seele verloren. Man hat euch Geschichten erzählt. Es sind nicht wirklich die meinigen. Auch wenn ich eingeschlossen und isoliert war, gelangten die Nachrichten zu mir. Ich war weder erstaunt noch verwirrt. Ich wusste, dass ich durch mein Verschwinden Stoff für die ausgefallensten Märchen hinter mir ließ. Doch da mein Leben kein Märchen ist, lag mir daran, die Tatsachen zurechtzurücken und euch das Geheimnis preiszugeben, das ich unter einem schwarzen Stein verwahrte, in einem Haus mit hohen Mauern am Ende einer Gasse, verschlossen mit sieben Türen.
Ortsbeschreibung
Nach seiner Beichte war der Erzähler wieder verschwunden. Niemand hatte versucht, ihn zurückzuhalten oder mit ihm zu diskutieren. Er war aufgestanden, hatte sein vergilbtes, vom Mond verwaschenes Manuskript eingesammelt und war, ohne sich umzudrehen, in der Menge untergetaucht.
Diejenigen, die ihm gelauscht hatten, waren verblüfft. Sie wussten nicht, was sie von diesem Mann halten sollten, einem berühmten und beliebten Erzähler der Stadt. Er begann eine Geschichte, brach sie dann ab, griff sie wieder auf, aber nicht um sie fortzusetzen, sondern um ihnen zu sagen, dass er sie nicht erzählen dürfe, weil er vom Unglück besessen sei.
Einige standen nicht mehr unter seinem Bann. Sie zweifelten. Sie mochten diese Pausen der Abwesenheit und des Wartens nicht. Sie hatten kein Vertrauen mehr zu diesem Mann, an dessen Lippen sie einst hingen. Sie waren davon überzeugt, dass er das Gedächtnis verloren hatte und es nicht einzugestehen wagte. Ein Erzähler ohne Gedächtnis zwar, aber nicht ohne Fantasie. Der Beweis: Er war aus der Wüste aufgetaucht, das Gesicht von der Sonne geschwärzt, die Lippen von Durst und Hitze aufgesprungen, die Hände vom Tragen der Steine hart geworden, die Stimme heiser, als wäre ein Sandsturm durch seine Kehle gefahren, den Blick auf eine hohe und ferne Linie gerichtet. Es war, als spreche er zu jemandem, der unsichtbar, aber auf einem Thron sitzt, der auf den Wolken steht. Er wandte sich an ihn, als wolle er ihn zum Zeugen anrufen. Das Publikum folgte seinen Gesten und seinem Blick. Es sah nichts. Einige meinten einen Greis auf einem Kamel gesehen zu haben, der eine Handbewegung machte, um den Erzähler nicht hören zu müssen.
Er stammelte unverständliche Sätze. Das überraschte nicht. Oft spickte er seinen Bericht mit Wörtern einer unbekannten Sprache. Das machte er so gut, dass die Leute verstanden, was er sagen wollte. Sie lachten auch. Aber jetzt gab es nur diese unfertigen, abgehackten Sätze voller Kiesel und Speichel. Seine Zunge schlingerte und verknäulte sich dann. Der Erzähler errötete deswegen. Er sah genau, dass er zwar nicht den Verstand – der war nicht seine Leidenschaft –, sondern sein Publikum verlor. Ein Paar war aufgestanden und wortlos weggegangen. Ihm folgten zwei unzufriedene Männer, die murrten. Das war ein böses Zeichen. Niemals verließ man Bouchaibs Kreis. Niemals ging man unbefriedigt fort. Sein Blick löste sich von dem hohen und fernen Punkt und folgte traurig den Weggehenden; er verstand nicht, warum man ging und ihm nicht mehr zuhörte. Man glaubte ihm nicht mehr. Das mochte er nicht wahrhaben. Wenn man der Erzähler gewesen ist, der unangefochtene Herr des Platzes, Gast bei Königen und Fürsten, wenn man eine Generation von Epensängern herangebildet und ein Jahr in Mekka gelebt hat, dann versucht man nicht, die Leute, die den Kreis verlassen, zu halten oder zurückzurufen. Nein, Bouchaib erniedrigt sich nicht, er wahrt seine Würde und seinen Stolz. »Es steht den Leuten frei zu gehen«, sagte er sich, »meine Traurigkeit ist bodenlos; sie hat sich in einen Sack Steine verwandelt, den ich bis zu meinem Grab tragen werde!«
Ich war da, eingehüllt in meine alte Djellaba; ich beobachtete ihn und sagte nichts. Was hätte ich auch sagen können, um ihn meiner Zuneigung zu versichern? Welche Geste hätte ich machen können, ohne das Geheimnis zu verraten, das er hütete und dessen Verkörperung ich war? Ich wusste zu viele Dinge, und meine Anwesenheit an diesem Ort war kein Zufall. Ich kam von weit her. Unsere Blicke trafen sich. Seine Augen glänzten vor jener Klugheit, die Angst macht. Es war ein bestürzter Blick, vom Unbestimmbaren besessen. Er hing in der Luft. Er erkannte in mir das Gespenst einer unseligen Epoche. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, drehte er sich im Kreis. Ich dagegen war ruhig; ich wartete mit der Geduld der Weisen. Seine Augen richteten sich erneut auf mich, mit wachsender Besorgnis. Sollte er mich erkannt haben, er, der mich niemals zuvor gesehen hatte? Er hatte mir ein Gesicht, Wesenszüge und ein Temperament gegeben. Es war die Zeit des Fabulierens. Ich war sein aufsässiges, ungreifbares Geschöpf. Der Wahnsinn hatte bereits Lücken in sein Gedächtnis gerissen. Der Wahnsinn oder der Betrug.
Mit der Zeit und nach allem, was ich erlebt hatte, wunderte und schockierte mich nichts mehr. Ich war tags zuvor in Marrakesch angekommen, entschlossen, jenen Erzähler zu treffen, den meine Geschichte zugrunde gerichtet hatte. Ohne es zu wissen, ahnte ich, wo sein Platz war, und erkannte sein Publikum. Ich wartete auf ihn, wie man auf einen verräterischen Freund oder einen betrügerischen Liebhaber wartet. Ich hatte die Nacht in einem Zimmer über dem Kornmarkt verbracht. Es roch nach Staub und nach dem Urin der Maulesel. Ich erwachte mit dem ersten Sonnenstrahl und wusch mich am Brunnen der Moschee. Nichts hatte sich verändert. Alles war an seinem Platz. Der Omnibusbahnhof war noch immer so schwarz wie ein Backofen. Das Kaffeehaus hatte noch immer keine Türen. Auch der Kellner – schlecht rasiert, in seinem tausendmal gebügelten, vor Fettflecken glänzenden Smoking, mit seinem geölten Haar und seiner schlecht sitzenden Fliege – behauptete, mich wiederzuerkennen. Es war eine seiner Angewohnheiten, die Leute mit ihren Vornamen anzusprechen. Er zweifelte nie. Er kam auf mich zu und sagte zu mir, als würden wir uns seit Jahren kennen:
– Einen Kaffee mit Zimt, sehr heiß, und einen Maisfladen, wie gewöhnlich, Mutter Fadila …
Er entfernte sich. Ich hatte nicht einmal Zeit, ihm zu sagen: »Ich heiße nicht Fadila; ich verabscheue Zimt im Kaffee und esse lieber Gerstenbrot als Maisfladen …«
Ich frühstückte neben einem Fahrer der Chaouia, der einen gedünsteten Hammelkopf aß, eine Kanne Pfefferminztee trank, dann mehrmals rülpste und Gott und Marrakesch dafür dankte, ihm ein so köstliches Morgenmahl serviert zu haben. Er sah mich an, als wolle er seine Zufriedenheit mit mir teilen. Ich lächelte und verscheuchte mit der Hand den Kifrauch, den er mir ins Gesicht blies. Als er ein junges Mädchen auf einem Motorroller an uns vorbeifahren sah, strich er seinen Schnurrbart glatt, und seine Miene schien zu sagen, dass nach solch einem Frühstück eine – möglichst jungfräuliche – Kleine seinem Glück die Krone aufsetzen würde.
Nachdem er sich die Zähne gereinigt hatte, gab er die Knochen einer Schar bettelnder Kinder, die sich in eine Ecke verzogen und die Reste verschlangen. Er setzte sich in seinen Lastwagen, machte kehrt und fuhr zum Kaffeehaus zurück:
– Bis nächste Woche, Charlot, rief er dem Kellner zu.
Als ich ging, fragte ich den Kellner, wer dieser Kerl gewesen sei.
– Ein ordinärer Kerl! Er glaubt, er kann sich alles erlauben. Er nennt mich Chaplin wegen meines Anzugs, der mir zu groß ist, er verdreckt den Tisch und spuckt auf den Boden. Außerdem hält er sich für schön und verführerisch. Bloß weil einmal eine deutsche Touristin zu ihm in den Lastwagen gestiegen ist. Sie haben Schweinereien getrieben, und er hat das ganze Jahr damit geprahlt. Seitdem hält er auf der Hinfahrt und auf der Rückfahrt hier an, um seinen Hammelkopf zu verschlingen. Sehen Sie, Mutter Fadila, so ein Kerl sollte besser nie aus seinem Lastwagen steigen …
Der Platz war menschenleer. Wie eine Theaterbühne füllte er sich nach und nach. Die ersten, die sich niederließen, waren die Sahraouis, Händler, die alle nur denkbaren Pulver verkauften: Gewürze, Henna, wilde Minze, Kalk, Sand und andere fein gemahlene magische Mittel. Ihnen folgten die Antiquare. Sie breiteten ihre gelben Manuskripte aus und brannten Weihrauch ab.
Und dann kamen diejenigen, die nichts verkauften. Sie setzten sich mit gekreuzten Beinen auf die Erde und warteten. Die Erzähler ließen sich als Letzte nieder. Jeder hatte sein eigenes Ritual.
Ein hagerer, dürrer Mann begann, seinen Turban zu lösen; er schüttelte ihn; feiner Sand fiel heraus. Dieser Mann kam aus dem Süden. Er setzte sich auf einen kleinen Sperrholzkoffer und begann ganz allein zu erzählen, ohne einen Zuhörer. Ich sah ihn von ferne sprechen und gestikulieren, als wäre der Kreis geschlossen und gut gefüllt. Ich näherte mich und traf mitten in einem Satz ein: »… die Würze der Zeit von einer Meute Hunde aufgeleckt. Ich drehte mich um, und was sah ich? Sagt mir, treue Gefährten, ratet, Freunde der Rechtschaffenheit, wer da vor mir auf seiner silbrigen Stute saß, groß in allen Prüfungen, stolz und schön? Die Zeit hat einen schalen Geschmack. Das Brot ist altbacken. Das Fleisch ist verdorben. Die Butter der Kamelkuh ist ranzig … ranzig wie die Epoche, o Freunde, die ihr hier vorübergeht … Man sagt das Leben, und der einsame Aasgeier erscheint …« Ich war seine einzige Kundin. Er hielt inne, ging dann auf mich zu und sagte in vertraulichem Ton:
– Falls Sie jemanden suchen, ich kann Ihnen helfen. Vielleicht bin ich es ja, den Sie wiedersehen möchten. Meine Geschichte ist schön. Es ist zu früh, um sie zu erzählen. Ich werde warten. Suchen Sie einen Ehemann oder einen Sohn? Wenn es ein Sohn ist, dann muss er in Indien oder in China sein. Bei einem Ehemann ist es einfacher. Bestimmt ist er alt, und die Alten lungern in der Moschee oder im Kaffeehaus herum. Aber ich sehe, Sie interessiert weder der eine noch der andere. Ihr Schweigen sagt es mir … Was sagt es mir? Ah! Dass Sie ein Geheimnis an Ihr Herz pressen und dass man Sie nicht länger belästigen soll. Sie gehören zur Rasse der Leute von Ehre. Kein Palaver mit Ihnen. Freundin, gute Reise, und lassen Sie mich meinen Kreis schließen …
Ich entfernte mich, ohne mich umzudrehen, angelockt von den ausladenden und anmutigen Gesten eines jungen Mannes, der einen Koffer auspackte. Er holte verschiedenartige Gegenstände heraus und kommentierte sie in der Absicht, ein Leben, eine Vergangenheit, eine Epoche wiedererstehen zu lassen:
– Hier haben wir Bruchstücke eines Schicksals. Dieser Koffer ist ein Haus. Es hat mehrere Leben beherbergt. Dieser Spazierstock hier kann kein Zeuge der Zeit sein. Er ist alterslos und stammt von einem Nussbaum, der keine Erinnerungen mehr hat. Bestimmt hat er Greise und Einäugige geführt. Er ist schwer und ohne Geheimnis. Schauen Sie sich nun diese Uhr an. Die römischen Ziffern sind blass. Der kleine Zeiger ist auf Mittag oder Mitternacht festgeklemmt. Der große Zeiger wandert allein herum. Das Zifferblatt ist gelb. Gehörte sie einem Kaufmann, einem Eroberer oder einem Gelehrten? Und diese nicht zusammenpassenden Schuhe? Es sind englische. Sie brachten ihren Besitzer zu Orten ohne Schlamm und Staub. Und dieser kupferne Wasserhahn? Er könnte aus einem schönen Wohnsitz stammen. Der Koffer ist stumm. Nur ich kann ihn befragen. Sehen Sie hier, eine Fotografie. Die Zeit hat ihre Arbeit getan. Ein Familienfoto mit der Unterschrift »Lazarre 1922«. In der Mitte der Vater – vielleicht der Großvater. Er trägt einen schönen Gehrock. Seine Hände liegen auf einem silbernen Stock. Er schaut auf den Fotografen. Seine Frau ist ziemlich verblasst. Man sieht sie nicht deutlich. Ihr Kleid ist lang. Ein kleiner Junge, eine Fliege auf einem alten Hemd, sitzt zu Füßen der Mutter. Daneben ein Hund. Er ist müde. Etwas abseits steht eine junge Frau. Sie ist schön. Sie ist verliebt. Sie denkt an den Mann ihres Herzens. Er ist abwesend, in Frankreich oder auf den Antillen. Ich stelle mir gern die Geschichte zwischen dieser jungen Frau und ihrem Geliebten vor. Sie wohnen in Guéliz. Der Vater ist Inspektor der Kolonialverwaltung. Er verkehrt beim Pascha der Stadt, dem berühmten Glaoui. Das sieht man an seinem Gesicht. Auf der Rückseite des Fotos steht etwas geschrieben: »Ein angenehmer Nachmittag … April 1922.« Und sehen Sie nun diesen Rosenkranz … Korallen, Bernstein, Silber … Bestimmt gehörte er einem Imam. Vielleicht trug die Frau ihn als Kette … Münzen … ein durchlöcherter Rial … ein Centime, ein marokkanischer Franc … Banknoten, die keinen Wert mehr haben … Ein Gebiss … Eine Bürste … Eine Porzellanschale … Ein Postkartenalbum … Ich höre auf, diese Gegenstände herauszuholen … Es genügt, dass wir alles in diesen Koffer legen, was Sie beschwert … Ich bin Abnehmer, vor allem von Geldstücken!
Ich zog einen Ring aus meiner Tasche und warf ihn in den Koffer. Der Erzähler prüfte ihn und gab ihn mir zurück.
– Nimm deinen Ring wieder an dich! Es ist ein seltenes Stück. Er stammt aus Istanbul. Außerdem habe ich etwas entziffert, was ich lieber nicht wissen will. Es ist ein kostbarer Ring; er ist beladen; schwer von Erinnerungen und Reisen. Warum willst du ihn loswerden? Sollte er bei einem Unglück im Spiel gewesen sein? Nein, wenn du etwas geben willst, dann öffne deinen Geldbeutel oder gib gar nichts. Es ist besser, du gehst!
Ohne zu antworten, verließ ich den Kreis unter unruhigen Blicken. Von Zeit zu Zeit kam es vor, dass ich auf meinem Weg Menschen begegnete, die auf meine Gegenwart, auf ein Verhalten oder eine Geste heftig reagierten. Dann sagte ich mir, dass wir vom selben Schlag sein mussten, dass unsere Empfindungen aus denselben Fasern gewoben waren. Ich verübelte es ihnen nicht. Ich ging schweigend fort, davon überzeugt, dass unsere Augen sich noch einmal begegnen würden.
Während ich noch an die Geschichte jener Familie französischer Kolonialherren dachte, in Einzelteilen dem Koffer entstiegen, sah ich eine Frau, die sich um sich selbst drehte, um den riesigen weißen Haik zu entrollen, der ihr als Djellaba diente. Diese Art, sich tanzend zu entschleiern, hatte etwas Erotisches. Ich spürte es sofort, als ich die leichte rhythmische Bewegung der Hüften bemerkte. Sie hob langsam die Arme, sodass ihre Brüste fast ein wenig wippten. Sehr schnell bildete sich ein Kreis von Neugierigen um sie. Sie war noch jung und vor allem sehr schön. Große haselnussbraune Augen, mattbraune Haut, schlanke Beine und ein spöttisches Lächeln. Was wollte sie auf diesem den Männern und ein paar alten Bettlerinnen vorbehaltenen Platz? Alle stellten wir uns diese Frage, als sie eine Kassette mit berberischer Musik in einen Transistor schob, einige Tanzschritte andeutete, dann ein batteriebetriebenes Mikrofon in die Hand nahm und sagte:
– Ich komme aus dem Süden, ich komme aus der Abenddämmerung, ich steige von den Bergen herab, ich bin zu Fuß gegangen, ich habe in Brunnen geschlafen, ich habe die Nächte und den Sand durchschritten, ich komme aus einer Jahreszeit außerhalb der Zeit, niedergelegt in einem Buch, ich bin dieses nie aufgeschlagene, nie gelesene Buch, das die Ahnen geschrieben haben, Ehre sei ihnen, den Ahnen, die mich senden, damit ich sage, euch warne, euch sage und wieder sage. Kommt nicht zu dicht heran. Lasst den Wind die ersten Buchstaben des Buches lesen. Ihr hört nichts. Seid still und hört mir zu: Es war einmal ein Volk von Beduinen, Kameltreibern und Dichtern, ein raues und stolzes Volk, das sich von der Milch der Kamelkuh und von Datteln ernährte; vom Irrtum geleitet, erfand es seine Götter … Aus Angst vor Schmach und Schande entledigten sich einige von ihnen ihrer weiblichen Nachkommenschaft; sie verheirateten sie im Kindesalter oder begruben sie lebendig. Diesen wurde die ewige Hölle verheißen. Der Islam prangerte sie an. Gott hat gesagt: »Und unter den Beduinen, die rings um euch sind, gibt es Heuchler; und auch unter dem Volke Medinas gibt es hartnäckige Heuchler. Nicht kennst du sie, wir kennen sie; wahrlich, strafen wollen wir sie zwiefältig; alsdann sollen sie überantwortet werden gewaltiger Strafe.« Wenn ich heute in Versen und Parabeln spreche, so deshalb, weil ich lange Zeit Worte gehört habe, die nicht aus dem Herzen kamen, die in keinem Buch geschrieben standen, sondern aus der Finsternis stammten, die den Irrtum andauern ließ …
In der Menge kam es zu leichten Regungen der Verwunderung und des Unverständnisses. Einige murmelten, andere zuckten die Achseln. Eine Stimme erhob sich:
– Wir sind gekommen, um Musik zu hören und Sie tanzen zu sehen … Wir sind hier nicht in der Moschee …
Ein verführerischer junger Mann schaltete sich ein:
– Ich bin glücklich, Ihnen zu lauschen, Madame. Beachten Sie diese Reaktionen nicht; sie kommen von den Vettern der Beduinen!
Ein anderer junger Mann:
– Eine Erzählung ist eine Erzählung und keine Predigt! Und seit wann wagen es Frauen, die noch nicht alt sind, sich derart zur Schau zu stellen? Haben Sie denn keinen Vater, Bruder oder Ehemann, der Sie daran hindert, Schaden anzurichten?
Da sie solche Kommentare erwartet hatte, wandte sie sich in süßem, ironischem Ton an den letzten Redner:
– Solltest du etwa der Bruder sein, den ich nicht hatte, oder der Ehemann, den die Leidenschaft so sehr verwüstete, dass er seinen zitternden Körper zwischen fetten, behaarten Beinen vergaß? Solltest du jener Mann sein, der verbotene Bilder sammelt, um sie in kalter Einsamkeit hervorzuholen und unter seinem Körper ohne Liebe zu zerknittern? Ah! Vielleicht bist du der verschwundene Vater, den das Fieber und die Scham dahinrafften, jenes Gefühl der Verwünschung, das dich in den Sand des Südens verbannt hat?
Lachend bückte sie sich, nahm einen Zipfel ihres Haik, befestigte ihn an der Taille und bat den jungen Mann, das andere Ende zu halten. Langsam drehte sie sich, ihre Füße kaum bewegend, bis sie ganz eingewickelt war:
– Danke! Möge Gott dich wieder auf den rechten Weg bringen! Du hast schöne Augen, rasiere dir den Schnurrbart ab; die Männlichkeit ist anderswo, nicht auf dem Körper, vielleicht in der Seele! Adieu … Ich habe noch andere Bücher aufzuschlagen …
Sie sah mich an, wie versteinert, dann sagte sie zu mir:
– Woher kommst du, die du nichts sagst?
Ohne auf eine Antwort zu warten, ging sie fort und verschwand.
Ich hätte ihr gern mein Leben erzählt. Sie hätte ein Buch daraus gemacht und es von Dorf zu Dorf getragen. Ich kann mir gut vorstellen, wie sie die Türen meiner Geschichte eine nach der anderen öffnet und das letzte Geheimnis für sich behält.
Ich war in der Sonne eingenickt. Ein kalter Wind, staubbeladen, weckte mich. Ich fragte mich, ob ich diese junge Frau geträumt oder wirklich gesehen und gehört hatte. Ich war von einer vielfältigen und aufmerksamen Zuhörerschaft umringt. Die Leute meinten, ich würde spielen, nur so tun, als schliefe ich, oder ich würde nachdenken, auf der Suche nach den Bruchstücken einer Geschichte. Es fiel mir schwer, aufzustehen und den Platz zu verlassen. Als ich die Augen öffnete, verstummten sie und horchten. Ich beschloss, ihnen ein paar Worte zu sagen, um sie nicht ganz zu enttäuschen.
– Freunde! Die Nacht hat sich hinter meinen Lidern in die Länge gezogen. Sie räumte auf in meinem Kopf, der sich in letzter Zeit sehr abgeplagt hat. Reisen, Straßen, Himmel ohne Sterne, über die Ufer tretende Flüsse, Sand … unnütze Begegnungen, kalte Häuser, feuchte Gesichter, eine lange Wanderung … Ich bin seit gestern hier, vom Wind gestoßen, und weiß, dass ich am letzten Tor angelangt bin, demjenigen, das niemand geöffnet hat, das den gefallenen Seelen vorbehalten ist, das Tor, das nicht genannt werden darf, denn hinter ihm liegt das Schweigen, in jenem Haus, wo die Fragen zu Zement zwischen den Steinen werden. Stellt euch eine Bleibe vor, wo jeder Stein ein Glück bringender oder Unglück bringender Tag ist, wo sich zwischen den Steinen Kristalle gebildet haben, wo jedes Sandkorn ein Gedanke ist, vielleicht sogar eine Musiknote. Die Seele, die in dieses Haus eindringt, ist nackt. Sie kann nicht lügen oder sich verkleiden. Die Wahrheit wohnt in ihr. Jedes falsche Wort, ob absichtlich oder irrtümlich ausgesprochen, ist ein ausfallender Zahn. Ich habe noch alle meine Zähne, weil ich an der Schwelle dieses Hauses stehe. Wenn ich zu euch spreche, werde ich aufpassen. Ich werde im Innern sein. Ihr werdet mich sehen. Ich werde so erscheinen, wie ich vor euch stehe: ein Körper, in diese Djellaba gehüllt, die mich schützt. Vielleicht werdet ihr das Haus nicht sehen. Jedenfalls nicht zu Anfang. Aber nach und nach werdet ihr eingelassen, in dem Maße, wie das Geheimnis sich lichtet, bis zur unsichtbaren Nacktheit. Freunde, ich schulde euch diese Geschichte. Ich bin in dem Augenblick angekommen, wo der Erzähler, der sie erzählen sollte, in eine der Fallen gestürzt ist, Opfer seiner Blindheit. Er hat sich in den Fäden der schlafenden Spinne verfangen. Er hat Türen in Mauern gebrochen und hat sie aufgegeben. Er ist in der Mitte des Flusses verschwunden, mein Leben in der Schwebe lassend. Ich habe meinen Körper den Wassern des Flusses anheimgegeben. Ich wurde von vielen Strömungen erfasst. Ich habe widerstanden. Ich habe gekämpft. Zuweilen warf mich das Wasser an ein Ufer und nahm mich beim ersten Hochwasser wieder mit. Ich hatte keine Zeit mehr, zu denken oder zu handeln. Zum Schluss ließ ich mich treiben. Mein Körper läuterte sich; er veränderte sich. Heute spreche ich von einer fernen Epoche zu euch. Aber ich erinnere mich erstaunlich genau an alles. Wenn ich Bilder verwende, so deshalb, weil wir uns noch nicht kennen. Ihr werdet sehen, in meinem Haus fallen die Wörter wie die Tropfen einer Säure. Ich weiß, wovon ich rede: Meine Haut zeugt davon. Aber so weit sind wir noch nicht. Tore werden sich öffnen, vielleicht nicht in ihrer Reihenfolge, aber ich bitte euch, mir zu folgen und nicht ungeduldig zu sein. Die Zeit ist das, was wir sind. Sie ist auf unserem Gesicht, in unserem Schweigen, unserer Erwartung. Verdienen wir uns die Zeit der Geduld und der Tage, an denen nichts geschieht.
Die Nacht des Schicksals
Es begab sich im Laufe jener geheiligten Nacht, der siebenundzwanzigsten des Monats Ramadan, jener Nacht, in der das Buch der moslemischen Gemeinschaft »herabgesandt« worden war und die Geschicke der Wesen sich besiegeln, dass mein sterbender Vater mich an sein Bett rief und mich befreite. Er ließ mich frei, so wie man einst die Sklaven freiließ. Wir waren allein, die Tür war verriegelt. Er sprach mit leiser Stimme. Der Tod war da; er strich in diesem Zimmer umher, das nur schwach von einer Kerze beleuchtet war. Je weiter die Nacht voranschritt, desto näher kam der Tod und nahm nach und nach den Glanz von seinem Gesicht. Es war, als streiche eine Hand über seine Stirn und wüsche die Spuren des Lebens ab. Er war heiter und sprach zu mir bis zum frühen Morgen. Man hörte die ständigen Aufrufe zum Gebet und zum Koranlesen. Es war die Nacht der Kinder. Sie hielten sich für Engel oder Paradiesvögel, ohne Schicksal. Sie spielten in den Straßen, und ihre Schreie vermischten sich mit denen des Muezzins, der ins Mikrofon brüllte, damit Gott ihn besser höre. Mein Vater deutete ein Lächeln an, als wollte er sagen, dass dieser Muezzin bloß ein armer Mann sei, der den Koran hersagt, ohne etwas davon zu begreifen.
Ich saß auf einem Kissen neben dem Bett. Mein Kopf befand sich neben dem seinen. Ich hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen.
Sein Atem strich über meine Wange; dass er übel roch, störte mich nicht. Er sprach langsam:
– Weißt du, dass in dieser Nacht kein Kind leiden oder sterben dürfte. Denn diese Nacht »ist besser als tausend Monate«. Sie sind da, um die von Gott gesandten Engel zu empfangen: »Hinab steigen die Engel und der Geist in dieser Nacht mit ihres Herrn Erlaubnis zu jeglichem Geheiß.« Es ist die Nacht der Unschuld, aber die Kinder sind nicht unschuldig. Sie sind sogar schrecklich. Wenn die Nacht ihnen gehört, wird sie auch uns gehören, uns beiden. Es wird die erste und die letzte sein. Die siebenundzwanzigste Nacht dieses Monats eignet sich für die Beichte, vielleicht auch für die Vergebung. Aber da die Engel unter uns weilen werden, um Ordnung zu schaffen, werde ich vorsichtig sein. Ich möchte die Dinge an ihren Platz zurückstellen, bevor sie sich damit befassen. Hinter ihrer makellos leichten Erscheinung können sie streng sein. Ordnung schaffen heißt, zuerst den Irrtum erkennen, jene böse Illusion, die den Fluch über die ganze Familie gebracht hat. Gib mir ein wenig Wasser, meine Kehle ist trocken. Sag mir, wie alt bist du? Ich kann nicht mehr zählen …
– Fast zwanzig …