GESA SCHWARTZ
Roman
Zu diesem Buch
Unsere Welt in der Zukunft. Ein Krieg zerstörte unsere Zivilisation und trieb die überlebenden Menschen in den Untergrund, wo sie in heruntergekommenen Enklaven leben. Die Oberwelt jedoch wird von den Drachen und ihren Reitern beherrscht, angeführt von dem grausamen König Arkaron. Vor allem dessen Oberster Krieger Nhor’garoth setzt gemeinsam mit seinem Frostdrachen Aryon alles daran, die Menschen zu versklaven. Doch unter dem Sturmreiter Norik widersetzen sich einige wenige Drachenreiter der Herrschaft der Gewalt. Man nennt sie die Krieger der Schatten, die in der Gesellschaft der Menschen jedoch kaum mehr sind als Legenden. Auch die junge Sira, die unter den zerstörten Straßen New Yorks in einer alten U-Bahn-Station lebt, kennt die Schattenkrieger nur aus den Liedern der Geschichtenerzähler. Aber als ihre Welt im Feuer der Drachen verbrennt, bleibt ihr keine Wahl: Sie muss sich mit Norik und seinen Gefährten auf eine abenteuerliche Reise begeben, wenn sie ihr Leben retten will. Und sie lernt schnell, dass die ihr verhassten Drachen mehr sind als alles, was sie bisher für möglich hielt …
Das Licht der Fackel hastete flackernd über die Wände des Tunnels, glitt über den nassen Boden und wurde nach wenigen Armlängen von der Finsternis verschluckt. Sira konnte gerade genug erkennen, um sich an den tief sitzenden Stahlrohren der Decke nicht den Kopf zu stoßen. Hin und wieder rutschte sie auf den verrosteten Gleisen aus, aber sie verlangsamte ihre Schritte nicht. Sie hatte keine Zeit, um sich wie eine Greisin durch die Tunnel zu tasten, nur weil es ein wenig glatt war. Sie war ohnehin schon spät dran. Und immerhin kannte sie sich in dieser Dunkelheit aus. Lautlos sprang sie über ein Rinnsal und wich einem verrotteten Kabelstrang aus, der faustdick von der Decke hing. Sie war in dieser Unterwelt geboren worden, in diesem Labyrinth aus verlassenen U-Bahn-Tunneln, Kabelschächten, Abwasserkanälen und Versorgungsgängen, das sich noch immer tief unter den Straßen New Yorks entlangwand, auch wenn die Stadt selbst schon längst nicht mehr existierte.
Sie hatte gerade eine Gabelung überquert, als ein Scharren durch den Tunnel hallte. Blitzschnell griff Sira nach dem Messer an ihrem Stiefel, verlor dabei den Halt – und landete der Länge nach in einer Schlammpfütze. Nur im letzten Moment konnte sie das Erlöschen der Fackel verhindern. Der Fluch kam so laut über ihre Lippen, dass er tausendfach gebrochen von den Wänden widerhallte. Wütend rappelte sie sich auf und musste sich zwingen, die Ruhe zu bewahren. Sie benahm sich wie ein dummes Kind, das noch nie einen Fuß in diese Finsternis gesetzt hatte! Das modrige Wasser lief über ihre Stirn und den Nacken hinab, aber als sie vorsichtig weiterging, richtete sie ihre gesamte Aufmerksamkeit auf den Bereich jenseits des Lichts. Langsam wich ihr Zorn kalter Konzentration. Sie hatte gelernt, in der Unterwelt zu überleben, und sie wusste um die Gefahr, die in ihr lauerte. Sie konnte sich direkt über ihr verbergen, in den alten Belüftungsschächten, den einstigen Wartungsräumen oder maroden Bahnstationen. Sie wartete unter ihr, in tiefen Brunnen und Kanälen, in die sich niemand hinabwagte, und sie schlich neben ihr durch die Dunkelheit, nur getrennt durch eine dünne Wand aus bröckelndem Stein. Die Gefahr war immer da, in jedem Kiesel, der plötzlich von der Decke fiel, in jeder noch so leichten Erschütterung des Bodens, und sie wartete nur darauf, einer fluchenden jungen Frau das Genick zu brechen, die dumm genug war, sich allein in die Tunnel zu begeben, und dort nichts Besseres vorhatte, als Radau zu machen.
Ein schemenhafter Umriss tauchte vor ihr auf, so groß, dass er fast den gesamten Tunnel ausfüllte. Obwohl sie wusste, dass es nur ein alter Zug war, verlangsamte sie ihre Schritte. Relikte der Vergangenheit wie dieses waren ihr suspekt. Sie zeugten von einer Zeit, in der die Menschen die Unterwelt nur genutzt, aber nicht darin gelebt hatten, einer Zeit, in der die Oberwelt noch ihr Zuhause gewesen war – einer Zeit, die so lange zurücklag, dass Sira sie nur aus Erzählungen kannte. Sie ließ den Blick über die bunten Graffitis schweifen, die die Fassade bedeckten. Damals waren die Menschen in diesem Zug durch die Unterwelt gefahren, und die Tunnel waren kaum mehr gewesen als unterirdische Straßen. Ein seltsamer Gedanke.
Das Scharren, das ihren Sturz verursacht hatte, wiederholte sich. Es war jetzt ganz nah, und Sira stieß verächtlich die Luft aus, als sie die Geräuschquelle entdeckte. Es war eine Ratte, die zwischen den Gleisen hockte und mit ihren Krallen über ein Stück Metall kratzte.
»Herzlichen Dank für die Dusche«, murmelte Sira. Beinahe empört richtete die Ratte sich auf und blinzelte in den Fackelschein.
Die Ära der Menschen ist vorbei, hatte Siras Onkel beim Anblick einer Ratte früher oft gesagt. Damals war sie noch ein Kind gewesen und hatte seine Worte nicht verstanden, doch inzwischen begriff sie, was er gemeint hatte. Die Menschen hausten in der Finsternis, auf ihre eigene Schwäche zurückgeworfen und schreckhaft ihren Instinkten vertrauend wie Tiere. Viele Bewohner ihrer Enklave hassten die Ratten mehr als alles andere. Vielleicht, ging es ihr durch den Kopf, weil sie ihnen so ähnlich geworden waren.
Die Ratte schnaubte gelangweilt. Sie verschwand unter dem Gleisbett, und Sira setzte sich wieder in Bewegung. Sie hatte keine Zeit, um Ratten zu beobachten. Sie musste den ersten Käfig erwischen – den Käfig hinauf ins Licht.
Mit schnellen Schritten durchquerte sie den Zug und erreichte kurz darauf endlich die Schleusentür am Ende des Tunnels. Knirschend öffnete sie sich, und dämmriges Licht fiel auf Siras Gesicht. Sofort hörte sie die Stimmen der Männer, die mit ihr hinauffahren würden – lebensmüde Abenteurer wie sie selbst, die ihre Haut riskierten, um die Schätze einer verlorenen Welt zu bergen.
»Das wurde auch Zeit«, empfing sie der alte Sol, der in dem spärlich erleuchteten Tunnel wie üblich auf einem mickrigen Klappstuhl hockte und den Käfig bewachte: ein rostiges Ding mit zwei Kurbeln, das er vor Urzeiten eigenhändig gebaut hatte. Früher war er selbst hinaufgefahren, doch seit er im Licht seinen Arm verloren hatte, zog er es vor, den Chauffeur zu spielen, wie er selbst sagte. »Wir warten schon eine Ewigkeit, und du weißt, dass die Zeit an der Schleuse langsamer vergeht als überall sonst.«
»Vielleicht musste unsere kleine Pocahontas sich noch schön machen«, sagte ein Mann namens Turak und grinste spöttisch, als er den Schlamm auf ihren Klamotten betrachtete.
Sira lächelte herablassend. »Ich habe ein Bad genommen«, gab sie zurück. »Nur für euch.«
Turak musterte sie von oben bis unten. Ihr langes Haar hatte sie im Nacken zusammengebunden, ihre lederne Kleidung lag eng an ihrem Körper, damit sie nicht befürchten musste, an vorragenden Hindernissen hängen zu bleiben, und trotz der Schmutzspuren ließ Turaks Blick keinen Zweifel daran, dass ihm gefiel, was er sah. Doch als er den mattschwarzen Anhänger bemerkte, den sie an einem Lederband um den Hals trug, verfinsterte sich seine Miene. »Dabei hättest du dich auch gleich von diesem Ding verabschieden sollen. Es bringt Unglück, etwas von ihnen zu tragen.«
»Offenbar hast du unsere letzte Begegnung schon wieder vergessen«, erwiderte sie ruhig. »Unglück bringt es, ein Mädchen ausrauben zu wollen, das doch nicht so wehrlos ist, wie man dachte.«
Die anderen Männer lachten, aber Turak schüttelte den Kopf, ohne sich von dem Anhänger abzuwenden. »Es würde mich anwidern, etwas von unseren Feinden am Körper zu tragen.«
Sira schwieg, während sie langsam auf ihn zutrat. Noch immer lag das Lächeln auf ihren Lippen, und als sie zu sprechen begann, klang ihre Stimme warm und verführerisch. »Du musst deinen Feind kennen, wenn du ihn töten willst«, raunte sie und kam Turak so nah, dass ihr Atem seine Lippen streifte. »Du musst lautlos sein wie er …«, fuhr sie flüsternd fort, »… schnell wie er … und ebenso … tödlich.« Mit diesem Wort drückte sie das Messer in ihrer Hand an seine Leistengegend, direkt über der Arterie. Seine Augen weiteten sich. Er hatte nicht bemerkt, dass sie die Waffe gezogen hatte. Ihr Lächeln verlor sich, als sie seinen Blick erwiderte. »Dieser Anhänger ist ein Geschenk meines Onkels«, sagte sie ernst. »Er gab es mir kurz vor seinem Tod, und es erinnert mich immer daran, wer mein Feind ist. Du solltest nicht von Dingen sprechen, von denen du nichts verstehst.« Sie hielt kurz inne, dann zog sie ihr Messer fort und wandte sich ab.
Turak setzte zu einer Entgegnung an, doch da stieß Sol unwillig die Luft aus und stemmte sich mühsam auf die Beine. Seine Miene war griesgrämig wie immer, aber mit Siras Auftauchen war ein Funke in seinen Blick getreten, der seinem Gesicht etwas Schelmisches gab.
»Schluss mit dem Geschwätz«, sagte er und fuhr sich durch sein spärliches weißes Haar. Es stand in allen Richtungen von seinem Kopf ab, als wäre er zumindest dort oben noch immer ein kleiner Junge. »Wir hocken schon viel zu lange hier herum. Zeig mir deine Ausrüstung.«
Sira folgte seiner Aufforderung und sah zu, wie er Schutzanzug und Atemmaske aus ihrem Rucksack nahm und auf ihre Funktionen überprüfte. Sol war sehr genau, wenn es die Sicherheit betraf. Er wusste, was es bedeutete, beinahe in der Oberwelt zu ersticken, und er erzählte immer wieder gern die Geschichte von der defekten Maske, die ihn fast das Leben gekostet hätte, wäre er nicht in letzter Sekunde von seinen Begleitern gerettet worden. Von ihm hatte Sira wichtige Lektionen gelernt, als sie selbst an der Seite ihres Onkels ihre ersten Schritte in der Oberwelt unternommen hatte, und er war es gewesen, der sie in seinem Käfig mitgenommen hatte, auch wenn sie eine Frau war – als einziger Schleusenwärter der Unterwelt. Vielleicht lag das daran, dass Sol nicht nur seinen Arm an das Licht verloren hatte. Auch seine Frau und seine Tochter waren darin umgekommen. Vielleicht fand er einfach, dass es an der Zeit war, sich ein wenig Verlorenes zurückzuholen.
»In Ordnung«, sagte er und nickte. »Zieh dich um. Wir sind spät dran.«
Sira ignorierte die Blicke der Männer, die fast bedauernd zusahen, wie sie in dem unförmigen Anzug verschwand. Es passte den Kerlen nicht, dass sie mit ihnen hinauffuhr, das war ihr klar. Sie war zwei Köpfe kleiner als sie und beinahe zierlich, ihre Augen waren groß und dunkel, und ihr Haar wellte sich – wenn sie nicht gerade im Schlamm der Unterwelt gebadet hatte – sanft bis zu ihrer Hüfte. Kurzum, sie vermittelte eher den Anschein, beschützt werden zu müssen, als sich an den gefährlichsten Ort dieser Welt begeben zu wollen. Aber es lag nicht in ihrem Interesse, sich beschützen zu lassen. Sie konnte selbst für sich sorgen, das hatte sich schnell herumgesprochen, und nach der einen oder anderen Auseinandersetzung in einem der Tunnel hatte keiner es mehr gewagt, ihr den Zutritt zur Oberwelt zu verbieten.
Sie schaute zu Turak hinüber und erwartete eine der üblichen anmaßenden Bemerkungen, aber als Sol das rostige Gatter des Käfigs öffnete, stand keinem mehr der Sinn nach einem Wortgefecht. Nicht so kurz vor dem, was sie erwartete.
»Macht eure Sache gut, Mädels«, sagte Sol und zwinkerte Sira zu, als sie hinter den anderen den Käfig betrat. Sorgsam schloss er das Gatter und legte die Hand auf eine der Kurbeln. »Seid vor Sonnenuntergang zurück, sonst müsst ihr zusehen, wie ihr in eure Enklaven kommt. Nehmt, was ihr kriegen könnt, und …« Er sah Sira an und für einen winzigen Moment wurde sein mürrisches Gesicht weich. »Gebt gut auf euch acht.« Er lächelte kaum merklich, und ehe sie etwas erwidern konnte, packte er die Kurbel und setzte den Käfig in Bewegung.
Sira konnte nicht mehr sagen, wie oft sie auf dem rostigen Gitter gestanden und die Felswände des Schachts hatte vorbeigleiten sehen, während sie sich der Oberwelt näherte. Und doch überkam sie immer noch dieselbe Anspannung wie beim ersten Mal, als der Käfig wenig später einrastete und sie die Atemmaske vor ihr Gesicht schob. Sie folgte den Männern den schmalen Gang und die Sprossenleiter aufwärts, die in den breiten Tunnel führte. Dort war die Luft trocken und grau, als wäre sie mit Ruß geschwängert, und am Ende zeichnete sich pechschwarz die letzte Schleuse ab. Dicht davor löschte Sira ihre Fackel. Sie fühlte das Metall der Schleuse an ihren Händen, den beschleunigten Puls, das Adrenalin, jeden gespannten Muskel. Dann traf helles Licht ihre Augen, und sie tat die ersten Schritte, beinahe blind. Im Schutz des letzten Tunnelstücks ging sie vorwärts, und gerade, als sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, trat sie aus den Schatten. Und da lag sie, die Welt, die die Menschen verloren hatten.
Die Ruine New Yorks ragte wie ein Scherenschnitt in einen brennenden Himmel. Viele der kleineren Gebäude waren ausgebrannt oder eingestürzt, doch die Skelette der Wolkenkratzer warfen ihre Schatten noch immer auf die Trümmer und ließen die Feuerströme des Firmaments durch ihre ausgeweideten Leiber flackern. Die Straßen waren aufgebrochen, vereinzelt reichten die Risse tiefer hinab als Häuserschluchten, und Unkraut wucherte in ihnen ebenso wie in jeder anderen Wunde der Stadt. Schwarzer Rauch stieg zwischen den Steinen auf, strich über die verkohlten Autos und Hochbahnen, umfasste die Brücken, die fern im Wind ächzten wie Sirenen, und tränkte die Luft mit glühenden Funken. Hin und wieder flackerten sie auf, als hätte ein Atemzug sie angefacht. Und über allem stand die Sonne, dieser blasse gelbe Fleck über den Trümmern einer verlassenen Stadt. Sira trat einen Schritt vor. Der Asphalt glühte unter ihren Sohlen. Sie hörte, wie das Wasser auf ihren Stiefeln verdampfte, und legte die Hand auf das Messer an ihrem Gürtel. Verlassen, nun … nicht ganz.
»Was ist, Prinzessin?«, rief Turak ihr hinterher. »Wir gehen zum Central Park, ein paar Pelze jagen. Kommst du mit? Ich verspreche auch, dir deine Beute nicht streitig zu machen.«
Sira wandte sich nicht um. Central Park. Manchmal erschien es ihr absurd, immer noch die alten Namen zu benutzen. Sie wusste, was man unter einem Park verstand – und das, was da inmitten der Stadt wucherte und nach und nach immer mehr Straßenzüge eroberte, war definitiv keiner. Das war ein Dschungel, und ein tödlicher noch dazu. Schon oft hatte sie sich seiner Tücke gestellt und war mit blutenden Wunden, aber triumphierend aus seinen Klauen entkommen. Doch nun hatte sie ein anderes Ziel. »Das würde dir auch nicht gelingen«, gab sie mit einem Grinsen zurück. »Aber du weißt ja: Ich arbeite allein.«
Die Männer murmelten etwas und machten sich auf den Weg. Sira schaute noch einmal hinauf zum Himmel, diesem Ungetüm aus Feuer und Rauch. Dann tauchte sie in die Schatten der Ruinen und lief in die entgegengesetzte Richtung. Die heiße Luft flimmerte über dem Asphalt, aber Sira war so schnell, dass ihre Füße kaum den Boden berührten, und ließ sich weder von Mauervorsprüngen noch von Trümmerresten aufhalten. Sie setzte über die Hindernisse hinweg, als würde sie fliegen – genau so, wie ihr Onkel es sie gelehrt hatte. Er hatte ihr beigebracht, sich möglichst schnell und effizient durch die Stadt zu bewegen, und war ihr die schwarze Ruine New Yorks anfangs noch fremd und unüberwindlich erschienen, hatte sie bald gelernt, ihre Umgebung mit anderen Augen zu sehen. Seither war alles um sie herum nutzbar und voller Möglichkeiten. Bei jedem Sprung, jedem Balanceakt, jeder Drehung überwand sie Grenzen – die eigenen und die ihrer Umwelt. Und das gefiel ihr.
Als sie in eine schmalere Seitenstraße abbog, wurde es etwas kühler. Der Asphalt hatte irgendwann einmal Blasen geschlagen, so stark war er erhitzt worden, aber nun lag er zwischen einem halb eingestürzten Einkaufszentrum und einem windschiefen Wohnblock fast vollständig im Schatten. Sira schaute zu den zerbrochenen Fensterscheiben auf. Die Gardinen hingen noch davor, offenbar war das Gebäude bisher von keinem anderen Dieb besichtigt worden. Sie dachte daran, wie viele Dinge dort nur darauf warteten, von ihr mitgenommen zu werden. Becher. Pfannen. Seltsame Gegenstände, die die Menschen früher zum Zeitvertreib gesammelt hatten und die sich hervorragend als Waffen eigneten. Auf dem Markt ließe sich all das gut verkaufen, aber sie drängte diesen Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf ihr Ziel. Es war schon eine ganze Weile her, seit sie zum letzten Mal an jenem Ort gewesen war. Wenn sie sich nicht täuschte, würde dort größere Beute auf sie warten.
Ein dumpfes Grollen hallte aus einiger Entfernung über die Häuserschluchten, ein Donnern von solcher Tiefe, dass man es mehr fühlte als hörte. Sira sprang über eine Mauer, geduckt, als würde jeden Augenblick der Himmel auf sie niederstürzten, und flüchtete sich in eine ausgebrannte Häuserzeile. Es gab mehr in dieser Stadt als Ruinen und Menschen, die in den Trümmern ihrer Vorfahren nach Diebesgut suchten, so viel war sicher. Und ihr stand nicht der Sinn danach, sich vom Urheber dieses Grollens das Fleisch von den Knochen fressen zu lassen.
So leise wie möglich bewegte sie sich durch die Räume. Vereinzelt waren unter all dem Ruß und Schmutz noch Tapeten zu erkennen, auch halb verkohlte Möbel und Spielzeuge, und Sira kam es so vor, als würde sie mit jedem Zimmer, das sie durchquerte, einen winzigen Teil derjenigen kennenlernen, die früher einmal darin gelebt hatten. Ob sie sich hätten vorstellen können, dass einmal viel später jemand sein Leben riskieren würde, um ihre alten Messer zu stehlen? Sira lächelte kaum merklich. Dieses Mal war sie nicht wegen der Messer gekommen.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie den Durchbruch in der Wand erreichte. Noch immer wurde er von dem Vorhang verdeckt, den sie bei ihrem letzten Besuch davorgezogen hatte, ein gutes Zeichen dafür, dass niemand seitdem dort gewesen war. Sie raffte den Vorhang beiseite und gelangte in eine düstere Erdgeschosswohnung. Nur der Flammenschein von der Straße und der rote, süßlich riechende Rauch, der aus einem Riss im Boden quoll, spendeten etwas Licht. Es warf seinen Schein auf verkohlte Möbel, zerbrochene Mauerreste – und einen funkelnden dunkelblauen Kristall, der wie eine seltene Blume inmitten des Rauchs wuchs.
Beinahe ehrfürchtig löste Sira den Kristall vom Boden. Er war eiskalt und glomm unter ihrer Hand auf, als wüsste er, dass er ihr mehr einbringen würde als alle Pelze und Pfannen der Stadt. Und er war blau … so blau wie das Meer, das sie vor vielen Jahren zum ersten Mal in dem alten Buch ihres Onkels gesehen hatte. Der Gedanke war sanft und durchbrach für einen Moment Siras Anspannung. Sie kannte nur den Ozean vor den Toren New Yorks, dessen Flüsse die Stadt durchzogen. Schwarz waren sie wie nasse Seide, aber die glitzernden Perlen, die bisweilen in träumerischen Schwärmen aus der Dunkelheit aufstiegen, waren keine Luftblasen. Feuer war es, das in der Tiefe dieses Wassers lauerte und der tödlichen Hitze des Himmels Antwort gab, und während andere Menschen sehnsuchtsvoll von der Weite der Oberwelt sprachen, vom Wind, von wachsendem Gras und von der trockenen Erde, die sie verloren hatten, träumte Sira davon, einmal das Meer aus ihrem Buch zu sehen. Ein Meer der Nacht, kühl und samten und voller Geheimnis, mit tausend Glitzerlichtern auf den Wellen. Anders als die meisten Menschen kannte sie die Oberwelt. Sie wusste, was Wind bedeutete und wachsendes Gras, und sie konnte den Glanz in den Augen der anderen verstehen, wenn sie ihnen ein paar Krumen trockene Erde von ihren Expeditionen ins Licht mitbrachte. Aber Sehnsucht … nein. Sira sehnte sich nur nach dem Meer der Nacht.
Der Ton war kaum mehr als ein Krächzen, ein gieriges, halb unterdrücktes Atemholen, und doch fuhr er Sira in den Magen wie ein Faustschlag. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen, jeder Fluch zerbrach auf ihrer Zunge. Sie hob den Blick und sah, wie sich der Schädel eines mannsgroßen Reptils durch das Loch in der Mauer schob. Messerscharfe Zähne zierten die breite Schnauze, die gespaltene Zunge zischelte zwischen den starren Lippen. Das Tier stand auf zwei Beinen, die gekrümmten Krallen kratzten über den Stein, als es sich vorbeugte. Ein kehliges, tückisches Keckern entwich seinem Maul, und noch ehe Sira zwei weitere seiner Art hinter ihm ausmachte, wusste sie, dass sie entdeckt worden war. Im nächsten Moment umfasste das Tier sie mit seinem Blick. Seine Augen waren kalt und klug. Es war darauf trainiert, Menschen wie sie in den Winkeln der Stadt aufzuspüren, ausgebildet von Wesen, die mächtiger waren als Sira erahnen konnte, und eines war sicher: Sie verfehlten niemals ihr Ziel.
Der Schrei der Kreatur zerriss die Luft. Sira sah noch, wie das Tier in den Raum sprang, dicht gefolgt von seinen beiden Begleitern. Dann packte sie den Kristall, und noch ehe der Hieb ihres Verfolgers sie treffen konnte, schwang sie sich aus dem Fenster hinter ihr. Der Boden erzitterte unter den Leibern der Tiere. Mit scharfen Kehllauten jagten sie hinter ihr her, so schnell, dass sie schon meinte, ihre Krallen im Fleisch zu spüren. Atemlos schlug sie einen Haken, hechtete über einen Trümmerhaufen und rannte ein marodes Treppenhaus hinauf. Das Geländer splitterte, als ihre Verfolger ihr nacheilten, aber die Enge des Hauses verschaffte ihr einen Vorteil. So schnell sie konnte, jagte sie aufwärts, trat am Ende der Treppe die verkohlte Tür aus den Angeln und lief aufs Dach. Sie war den flammenden Wolken nun so nah, dass eine sengende Hitze nach ihr griff, aber schlimmer waren die Schreie ihrer Verfolger. Wie Peitschenhiebe rasten sie ihr nach, trieben sie über Trümmer auf benachbarte Häuser und brachten die Steine unter ihren Klauen zum Splittern. Den Kristall fest an sich gepresst, schlitterte Sira ein abfallendes Dach hinunter, hielt sich im letzten Moment fest und schwang sich auf einen halb zerbrochenen Schornstein. Oft genug hatte sie Opfer dieser Kreaturen gesehen, Menschen mit aufgeschlitzten Bäuchen und durchstochener Luftröhre, Männer, deren Arme nur noch in Fetzen hingen, Diebe wie sie, die vom Gift dieser Wesen binnen weniger Augenblicke gelähmt worden waren. Und während sie gestorben waren, hatten sie nichts gesehen als die eiskalten Augen dieser Tiere.
Mit einem waghalsigen Sprung landete Sira auf einem weiteren Dach – und erkannte, was ihre Verfolger vorhatten. Es gab kein Haus mehr im Umkreis, das nah genug stand, um für sie erreichbar zu sein. Es gab nur eine Leiter, die abwärts führte, mitten hinein in eine von giftigen gelben Dämpfen durchzogene Sackgasse. Eine Falle. Sira warf einen Blick über die Schulter, aber schon setzte eines der Tiere zum Sprung an. Sie fuhr herum. Ihre Füße rutschten auf der rostigen Feuerleiter aus. Sie riss sich das Handgelenk am Metall auf, als sie unten aufkam, und noch während sie auf das rote Licht am Ende der Gasse zulief, landeten ihre Verfolger direkt vor ihr.
Sira zog ihr Messer. Es begann unter dem Eindruck der gelben Dämpfe zu glühen, aber sie ließ es nicht fallen. Sie kannte diesen Qualm, der selbst die besten Schutzanzüge innerhalb kürzester Zeit zersetzte. Ihre Verfolger verharrten regungslos. Sie meinte, etwas wie Genugtuung in ihren Blicken zu erkennen, während sie vor ihnen zurückwich, langsam, als könnte sie das Unausweichliche noch aufhalten. Dabei kam sie einer der Dampfsäulen zu nah, zischend verkohlte der Dunst den Ärmel ihres Anzugs. Sofort spürte sie die Hitze noch brennender auf ihrer Haut. Ihre Verfolger keckerten, es klang wie ein halb wahnsinniges Kichern. Schon kam der erste von ihnen näher. Er beobachtete, wie sich Siras Anzug auflöste und der Dampf nach ihrer Maske griff, und seine Muskeln spannten sich, als sie unter der Wucht der Hitze schwankte. Der Kristall glitt zu Boden. Ein einziger Atemzug in dieser tödlichen Luft, das wusste jedes Kind der Unterwelt, zwang einen Menschen in die Knie. Und auch ihr Verfolger wusste das. Ein grausames Blitzen ging durch seinen Blick, und das Keckern seiner Kehle wurde tief. Sira konnte den Triumph in seinen Augen sehen. Das Spiel war vorbei. Er kam noch einen Schritt näher, doch irgendetwas an seinem Opfer schien ihn zu irritieren. Sira zitterte nicht, sie wand sich nicht zu seinen Füßen, wie es vermutlich all die anderen Menschen getan hatten, die durch ihn gestorben waren. Stattdessen erwiderte sie seinen Blick, hob langsam die Hand – und zog sich die Maske vom Gesicht.
Noch nie zuvor hatte Sira eine solche Stille in der Oberwelt wahrgenommen wie in diesem Moment. Sie hörte den Wind nicht mehr, nicht das überraschte Keckern ihrer Verfolger, nicht einmal ihren eigenen Herzschlag. Sie fühlte nichts als das kalte Glühen in den Augen dieser Wesen – und den unbeugsamen Willen, im Moment ihres Todes etwas anderes zu sehen als dies. Und dann, langsam und fließend, holte sie Atem. Die Luft brannte in ihrer Lunge, wie Feuer legte sie sich auf ihre Lippen, und kurz meinte sie, an dieser Glut ersticken zu müssen. Doch gleich darauf floss die Hitze mit sanfter Gewalt in ihre Glieder, betäubte jeden Schmerz, jeden Zweifel, jede Schwäche. Ein Lächeln trat auf ihre Lippen, nicht weniger grausam als das Blitzen in den Augen ihrer Verfolger, und sie flüsterte nur ein Wort: »Showtime.«
So schnell, dass die Schwerkraft sie nicht zu Boden werfen konnte, rannte sie über die senkrechte Mauerfläche und trieb dem vorderen Tier ihr Messer durch die Kehle. Krächzend taumelte es vorwärts. Die Wunde war so tief, dass sein Kopf zurückfiel, und als es zusammenbrach, pulste dunkles Blut auf den Asphalt. Doch Sira sah es kaum. Sie landete am Boden, schon sprangen die anderen beiden Verfolger auf sie zu, und ehe sie ausweichen konnte, traf sie ein mächtiger Hieb vor die Brust. Sie schlug gegen die Wand. Instinktiv griff sie nach einem Vorsprung über ihrem Kopf und zog sich gerade noch rechtzeitig aufwärts, ehe die Zähne der Angreifer sie zerreißen konnten. Mit voller Wucht trat sie dem, der ihr am nächsten war, ins Gesicht. Keuchend taumelte er zurück, doch da setzte sein Gefährte zum Sprung an. In letzter Sekunde ließ Sira sich fallen, und als er über sie hinwegsetzte, riss sie das Messer empor und schlitzte ihm den Bauch auf. Warmes Blut traf ihr Gesicht. Schwer atmend presste sie sich an die Hauswand und sah ihn zu Boden fallen. Im selben Moment stürzte sich der letzte Verfolger vor. Ihr Tritt hatte ihn auf der linken Seite blind gemacht, aber noch immer war er verteufelt schnell. Seine Zähne schlugen dicht neben ihrem Kopf zusammen, und noch während sie ihm auswich, traf seine Klaue sie an der Schulter und warf sie auf den Asphalt. Blut lief über ihren Arm, das Messer glitt ihr aus der Hand, und ehe sie es packen konnte, holte das Tier erneut zum Schlag aus.
Der Schmerz explodierte in ihrer Schläfe. Halb betäubt kroch sie vor ihrem Angreifer zurück, ihre Finger rutschten über das Blut seiner Gefährten. Sie spürte seinen Zorn und meinte, das lähmende Gift riechen zu können, das nur darauf wartete, in ihre Glieder geschickt zu werden. Sie prallte rücklings gegen die Wand. Schemenhaft erkannte sie die Sprossen der Leiter über sich, und gerade als der Angreifer das Maul zum tödlichen Biss aufriss, stieß sie sich von der Mauer ab, rutschte über das Blut auf ihn zu und trat ihm mit aller Kraft gegen das linke Knie. Ein entsetzlicher Ton zerfetzte die Luft, dicht gefolgt von einem schmerzerfüllten Brüllen, als er auf dem blutigen Grund das Gleichgewicht verlor. Sira rollte sich zur Seite. Er landete hart neben ihr am Boden, und im selben Moment zog sie die Leiter hinab. Krachend bohrte sie sich in seine Brust und zerschlug mit knirschendem Geräusch sein Rückgrat.
Schwer atmend stand Sira über ihm. Seine Lider flatterten, als er zu ihr aufschaute, und sie erwiderte seinen Blick, bis seine Lunge versagte und sein Körper erschlaffte. Unzählige Menschen mochten durch seine Klauen gestorben sein, aber eines war sicher: Das Letzte, das er gesehen hatte in dieser Welt, war ihr Gesicht gewesen.
Sie schwankte auf dem blutigen Boden, als sie den Kristall aufhob. Die Wunde in ihrer Schulter schickte beißenden Schmerz in ihre Glieder und ihr Kopf fühlte sich an wie kurz vor dem Zerspringen. Sie zitterte, so erschöpft war sie, aber sie spürte auch die Euphorie des Kampfes in den Adern und den Triumph über ihren Sieg. Niedere Kreaturen waren es gewesen, nichts als das Fußvolk jener, in deren Auftrag sie jagten, und dennoch … Sie hatte drei von ihnen bezwungen.
Sie eilte die Gasse hinauf, so schnell sie konnte. Noch einen Angriff dieser Art würde sie nicht überleben, das war ihr klar. Sie musste sofort zum Käfig zurück. Gerade hatte sie das Ende der Gasse erreicht, als sie einen Ton hörte – mehr eine Vibration in der Luft als ein wirkliches Geräusch, kaum wahrzunehmen und doch so intensiv, dass ihr das Blut aus dem Kopf wich. Von einem Moment auf den anderen war jedes Hochgefühl, jeder Siegestaumel wie weggewischt. Zum ersten Mal, seit sie an diesem Morgen durch die Tunnel der Unterwelt gelaufen war – zum ersten Mal, seit sie gegen drei tödliche Untiere gekämpft und gesiegt hatte – zum ersten Mal an diesem Tag spürte sie Angst.
Ihre Finger begannen zu zittern, als sie den Kristall in ihren Rucksack schob, aber ihre Beine waren plötzlich eiskalt und so schwer, dass sie sich unter körperlichen Schmerzen dazu zwingen musste, sich zu bewegen. Es war hell, viel zu hell dort, wo sie stand. Sie musste sich ein Versteck suchen, einen Unterschlupf, jetzt gleich. Der Mauervorsprung auf der anderen Straßenseite lag in den Schatten, aber er war so weit entfernt, unendlich weit. Sie rannte darauf zu, sie bekam kaum noch Luft, ihre Lunge war viel zu klein. Sie meinte, gleißende Hitze im Nacken zu spüren oder todbringende Kälte, das letzte Stück flog sie fast und drückte sich dann so eng gegen die Mauer, dass der Stein ihr ins Fleisch schnitt. Doch sie fühlte es kaum. Alles, was sie wahrnahm, war der Schatten, der nun über das Pflaster auf sie zu glitt – geräuschlos und so schwarz, dass jede Kontur unter ihm in die Finsternis fiel. Sie wollte ihm nicht mit ihrem Blick folgen und tat es doch, und sie starrte in den glühenden Himmel der Welt und sah zu dem Wesen auf, das gewaltig wie der Tod mit fast lautlosen Schwingenschlägen durch die Häuserschlucht flog.
Seine Haut war schwarz wie Vulkangestein. Feine Risse zogen sich über die mächtigen Flanken, und als es Atem holte, brach das Feuer in seinem Inneren daraus hervor und setzte seinen Leib in grüne Flammen. Rauschend entbrannten sie auf seinen Flügeln, Funken und Feuerklumpen fielen donnernd auf die Stadt nieder und hinterließen tiefe Krater im Asphalt. Sira schützte ihren Kopf mit ihren Händen, wohlwissend, dass sie gegen diese Glut nichts ausrichten konnte, und während der Schrei dieses Wesens über die Häuserschluchten brach, sah sie ihm in die Augen – diese goldenen, in wildem Feuer entfachten Augen, die so viel mehr gesehen hatten, als sie jemals erahnen würde. Augen waren das, die Fleisch und Stein durchdringen konnten und jeden sterblichen Gedanken, Augen, die jede Sprache, jeden Traum, jede Sehnsucht der Menschen kannten und die alle Weisheit und Grausamkeit der Welt in sich trugen. Diese Augen gehörten einem Wesen, das nicht begreifbar war für den Verstand eines Menschen, und erst, als die Kreatur aus ihrem Blickfeld verschwunden war, holte Sira Atem.
Direkt vor ihr loderte ein Klumpen aus grüner Glut, doch er verströmte keine Hitze. Eis lief von ihm fort und zog sich als glitzerndes Netz über den Asphalt. Sie schulterte ihren Rucksack, und ohne sich noch einmal umzudrehen, rannte sie zwischen den Feuern die Straße hinab.
Zum Käfig, schoss es ihr durch den Kopf. Zum Käfig, so schnell du kannst.
Und dann, während sie dahineilte, leise und geduckt wie ein gejagtes Tier, dachte sie an die Worte ihres Onkels.
Die Ära der Menschen ist vorbei.
Noch einmal fühlte sie den Luftzug unter den mächtigen Schwingen, hörte wieder den Schrei, der jeden sterblichen Gedanken zu Staub zermahlen konnte, und blickte erneut in diese Augen, deren Gold jede Frage, jede Antwort, jedes Geheimnis der Welt in sich barg.
Ja, dachte sie und schaute hinauf zum brennenden Himmel. Dies ist die Ära der Drachen.