STEPHEN
KING

Carrie

THRILLER

Ins Deutsche übertragen von
Wolfgang Neuhaus

Mit einem Nachwort von
Willy Loderhose

Inhalt

Erster Teil: Blutsport

Zweiter Teil: Ballnacht

Dritter Teil: Trümmer

Nachwort:
Stephen Kings Roman
und Brian de Palmas Verfilmung
Von Willy Lederhose

Erster Teil

Blutsport

Artikel in der Wochenzeitschrift Enterprise (Westover, Maine) vom 19. August 1966:

STEINREGEN BEOBACHTET

Wie von verschiedenen Personen glaubhaft berichtet wird, ist am 17. August aus strahlend blauem Himmel ein Steinregen auf die Carlin Street in der Stadt Chamberlain niedergegangen. Die Steine stürzten zum größten Teil auf das Haus von Mrs. Margaret White, wobei das Dach weitgehend zerstört sowie zwei Dachrinnen und ein Fallrohr im Wert von ungefähr 25 Dollar beschädigt wurden. Mrs. White, eine Witwe, wohnt dort mit ihrer dreijährigen Tochter Carietta zusammen.

Mrs. White war nicht erreichbar, um ihre persönlichen Eindrücke zu schildern.

Niemand war überrascht, als es passierte, jedenfalls nicht wirklich überrascht, nicht auf der Ebene des Unterbewusstseins, wo die dunklen Triebe wachsen. Nach außen hin waren alle Mädchen im Duschraum entsetzt, erschrocken, beschämt oder einfach froh, dass White, dieses dämliche Weibsstück, den Spott und die Häme wieder einmal geschluckt hatte. Einige der Mädchen mochten überrascht getan haben, aber diese Überraschung war natürlich geheuchelt. Carrie war mit einigen von ihnen seit der ersten Klasse zur Schule gegangen, und damals hatte es sich herausgebildet, war langsam und stetig herangewachsen, hatte all jenen Gesetzen gehorcht, welche die menschliche Natur beherrschen, hatte sich fortentwickelt mit der Unaufhaltsamkeit einer Kettenreaktion, die sich der kritischen Masse nähert.

Natürlich wusste keines der Mädchen, dass Carrie White telekinetische Kräfte besaß.

Eingeritzt in ein Pult in der Barker-Street-Grundschule in Chamberlain:

Carrie White frisst Scheiße.

Der Duschraum war erfüllt von Rufen, Gelächter und dem beständigen Prasseln des Wassers auf dem gekachelten Fußboden. Die Mädchen hatten in der ersten Unterrichtsstunde Volleyball gespielt, und ihr morgendlicher Schweiß war leicht und frisch.

Mädchen reckten und dehnten sich unter den heißen Wasserstrahlen, bespritzten sich gegenseitig, warfen weiße Seifenstücke von Hand zu Hand. Carrie stand phlegmatisch inmitten der anderen, ein Frosch unter Schwänen. Sie war ein dickliches Mädchen mit Pickeln an Hals, Rücken und Gesäß; ihr nasses Haar war vollkommen farblos. Es klebte flach und stumpf an ihrem Schädel, und sie stand mit leicht gebeugtem Kopf reglos da und ließ das Wasser auf sich herunterprasseln. Sie sah aus wie ein ergebenes Opfertier, wie eine ständige Zielscheibe für Spott und Demütigungen, wie der ideale Fußabtreter, der ewige Versager – und das war sie auch. Und wie immer wünschte sie sich auch diesmal sehnlichst, dass es an der Ewen High School Einzelduschen gäbe, wie an den High Schools in Endover und Boxford. Die anderen starrten sie an. Immer starrten sie.

Eine Dusche nach der anderen wurde abgestellt, und die Mädchen traten an die Schließfächer, zogen sich pastellfarbene Badehauben vom Kopf, trockneten sich ab, besprühten sich die Achselhöhlen mit Deodorant und blickten auf die Uhr über der Tür. Büstenhalter wurden zugehakt, Slips übergestreift. Die Luft war erfüllt von Wasserdampf; der Duschraum hätte sich in einem ägyptischen Badehaus befinden können, wären da nicht das ständige Gluckern und Rauschen des Whirlpools in einer Ecke gewesen. Schreie, Gelächter und Pfiffe prallten hin und her wie das Geklacker von Billardkugeln nach einem harten Stoß.

»– und da hat Tommy gesagt, er kann es bei mir einfach nicht leiden, und ich –«

»– ich gehe mit meiner Schwester und ihrem Mann. Der bohrt sich in der Nase, aber das tut sie auch, und darum sind sie sehr –«

»– Duschen nach Unterrichtsschluss und –«

»– zu billig, um auch nur einen mickrigen Cent dafür auszugeben, darum haben Cindy und ich –«

Miss Desjardin, ihre schlanke, flachbrüstige Sportlehrerin, kam herein, reckte kurz den Hals und klatschte auffordernd in die Hände. »Worauf wartest du, Carrie? Auf den Jüngsten Tag? In fünf Minuten läutet’s.« Ihre Shorts waren blendend weiß, ihre Beine leicht gekrümmt, aber schlank und mit gut durchgebildeter Muskulatur. Eine kleine silberne Pfeife, die sie bei einem Wettkampf im Bogenschießen auf dem College gewonnen hatte, hing ihr um den Hals.

Die Mädchen kicherten, und Carrie blickte auf; ihre Augen waren träge und verschleiert von der Hitze und dem beständigen Prasseln und Klatschen des Wassers. »Wat?«

Es war ein komischer, froschartiger Laut, der auf lächerliche Weise zu ihr passte, und wieder kicherten die Mädchen. Sue Snell hatte mit der Schnelligkeit eines Zauberkünstlers, der einen wundersamen Trick vorführt, ihr Handtuch vom Kopf gewickelt, und kämmte sich hastig. Miss Desjardin bedachte Carrie mit einer zornigen, ungehaltenen Handbewegung und ging hinaus.

Carrie drehte die Dusche ab. Die Wasserstrahlen erstarben tröpfelnd und gurgelnd.

Erst als Carrie auf den Gang trat, sahen alle das Blut, das an ihrem Bein hinunterlief.

Aus: David R. Congress: Als der Schatten explodierte. Der Fall Carietta White: Dokumentierte Tatsachen und spezifische Schlussfolgerungen. Tulane University Press, 1981 (S. 34):

Eines dürfte kaum zu bestreiten sein: Das Unvermögen, bestimmte, auf Telekinese beruhende Vorfälle während der frühen Lebensjahre des White-Mädchens zu erkennen, sind auf Behauptungen zurückzuführen, wie sie z. B. White und Steams in ihrer Studie Telekinese: Die Wiederentdeckung einer Urfähigkeit des Menschen dargelegt haben – dass nämlich die Gabe, Gegenstände allein durch Willenskraft zu bewegen, nur in Situationen extremer seelischer Belastung zum Durchbruch kommt. In Wahrheit ist diese latente Fähigkeit tief im Innern bestimmter Individuen verborgen. Wie sonst ist es zu erklären, dass sie jahrhundertelang in Versunkenheit schlummerte und nur die Spitze des Eisberges aus einem Meer wissenschaftlicher Scharlatanerie ragte?

Unsere Informationen, die zudem vielfach auf Gerüchten beruhen, sind zu spärlich, als dass im vorliegenden Fall beweiskräftige Aussagen gemacht werden könnten. Doch selbst diese wenigen Informationen lassen erkennen, dass Carrie White ein »TK«-Potenzial von ungeheurer Stärke besessen hat. Um so tragischer ist es zu bewerten, dass diese Erkenntnis für uns zu spät kommt …

»Pe-ri-ooo-de!«

Der Ruf kam zuerst von Chris Hargensen. Er hallte wie ein Querschläger von den gekachelten Wänden wider, ertönte noch einmal, und noch einmal.

Sue Snell lachte schnaufend durch die Nase und verspürte eine seltsame, quälende Mischung aus Hass, Abscheu, Zorn und Mitleid. Carrie sah wirklich zu dämlich aus, wie sie dastand, ohne zu merken, was vor sich ging. Du lieber Himmel, man könnte ja glatt auf den Gedanken kommen, sie hätte noch nie …

»Pe-ri-OOO-de!«

Aus den Silben formte sich allmählich ein rhythmischer Gesang, ein Lied. Irgendjemand im Hintergrund (vielleicht wieder die Hargensen; Sue konnte das im Durcheinander der Stimmen nicht ausmachen) rief mit heiserer, hemmungsloser Begeisterung: »Stopf es zu!«

»PE-ri-OO-de, PE-ri-OO-de, PE-ri-OO-de!«

Carrie stand wie betäubt inmitten eines Kreises, den ihre Mitschülerinnen um sie bildeten; das Wasser perlte von ihrer Haut. Sie stand da wie ein duldsamer Ochse, wohl wissend, dass man sich (wie immer) über sie lustig machte, und eben deshalb war sie durchaus nicht überrascht, verspürte aber ein dumpfes Gefühl der Scham.

In Sue stieg Ekel auf, als die ersten schweren, dunklen Tropfen Menstruationsblut auf den Fliesen zerplatzten. »Mein Gott, Carrie, du hast deine Periode!« rief sie. »Mach dich doch sauber!«

»Was?«

Sie blickte träge und stupide um sich. Ihr Haar klebte wie ein Helm an Kopf und Wangen. Auf der einen Schulter hatte sie Akneflecken. Obwohl erst sechzehn Jahre alt, hatten Leid und Schmerz bereits unauslöschliche Spuren in ihren Augen hinterlassen.

»Die glaubt, da wird Lippenstift draus gemacht!« rief Ruth Gogan plötzlich mit hämischer Schadenfreude und brach in haltloses Gelächter aus. Sue erinnerte sich später an diese Bemerkung und fügte sie in ein umfassendes Bild ein; jetzt aber war der Ausruf nur eines von vielen sinnlosen Geräuschen in dem allgemeinen Durcheinander. Sechzehn? dachte Sue. Sie muss doch wissen, was es ist, sie –

Noch mehr Blutstropfen. Und Carrie glotzte immer noch dümmlich ihre Klassenkameradinnen an.

Helen Shyres drehte sich um, gab würgende Geräusche von sich und tat so, als müsste sie sich übergeben. »Du blutest!« rief Sue plötzlich in greller Wut. »Du blutest, du großer dämlicher Pudding!«

Carrie blickte an sich hinunter.

Sie schrie auf.

Das Geräusch war sehr laut im warmen, feuchten Duschraum.

Ein Tampon traf sie an der Brust und fiel vor ihr zu Boden. Auf der saugfähigen Baumwolle erblühte eine rote Blume, die rasch größer wurde.

Dann schien das Lachen – voller Ekel, Verachtung und Entsetzen – anzuschwellen und sich zu etwas Widerlichem, Hässlichem zu wandeln, und die Mädchen bombardierten Carrie nun regelrecht mit Tampons und Monatsbinden – einige aus Handtaschen, andere aus dem defekten Automaten an der Wand. Sie rieselten wie Schneeflocken auf Carrie nieder, und die Mädchen sangen nun im Takt: »Stopf es zu, stopf es zu, stopf es –«

Auch Sue bewarf Carrie, warf und sang wie die anderen, ohne sich recht bewusst zu sein, was sie tat – eine Art Bannspruch war ihr durch den Kopf gegangen und strahlte hell wie ein Neonlicht: Es ist nichts Schlimmes daran wirklich nichts Schlimmes daran wirklich nichts Schlimmes –; dieses Licht funkelte und strahlte noch immer seltsam beruhigend, als Carrie plötzlich zu heulen anfing und zurückwich, die Arme weit zur Seite ausgestreckt, grunzend und sabbernd.

Die Mädchen hielten inne. Mit plötzlicher Klarheit erkannten sie, dass der kritische Punkt jetzt erreicht, dass die Explosion ausgelöst war. Einige von ihnen behaupteten später rückblickend, genau in diesem Augenblick wirklich überrascht gewesen zu sein. Doch da hatte es all die Jahre gegeben, all diese Jahre mit kommt, wir binden Carries Bett im Sommercamp der christlichen Jugend fest und mit guck mal, ich hab’ diesen Liebesbrief von Carrie an Flash Bobby Pickett gefunden, kopieren wir ihn und lassen ihn rumgehen und los, verstecken wir ihren Schlüpfer irgendwo und leg ihr diese Schlange in den Schuh und tauch sie unter und noch einmal und noch einmal: Carrie, wie sie bei Radtouren immer verbissen hinter den anderen her strampelt; die in einem Jahr »Pudding« und im nächsten »Arschgesicht« gerufen wird; die immer nach süßlichem Schweiß riecht; die es nie schafft, die anderen einzuholen; die sich von giftigem Efeu einen Ausschlag holt, als sie ins Gebüsch pinkelt, und jeder hat es gesehen (he, Pickelarsch, juckt dich der Hintern?). Carrie, wie Billy Preston ihr Erdnussbutter ins Haar geschmiert hatte, als sie im Lesesaal eingepennt war; die Knüffe, die Stolperbeine auf den Fluren der Schule; die Bücher, die man ihr vom Pult stieß; die obszöne Postkarte, die man in ihre Schultasche gesteckt hatte; Carrie beim Schulgottesdienst, wie sie schwerfällig niederkniete, um zu beten, wobei der Saum ihres alten Bauwollkleids entlang des Reißverschlusses mit einem Geräusch aufplatzte, das an einen gewaltigen Furz erinnerte; Carrie, die immer den Ball verfehlt, sogar wenn sie danach tritt, die im zweiten High-School-Jahr beim Modern Dance aufs Gesicht fiel und sich einen Zahn ausschlug, die beim Volleyball ins Netz rannte, deren Strümpfe immer heruntergerutscht waren, herunterrutschten oder herunterzurutschen drohten, die immer Schweißflecken unter den Ärmeln ihrer Bluse hat, die nach Unterrichtsschluss einmal von Chris Hargensen aus der Schülerkneipe, der Kelly Fruit Company, angerufen und gefragt worden war, ob sie wisse, wie man Schweinescheiße buchstabiere: C-A-R-R-I-E. Plötzlich war all das wieder da, war der Gipfel der Demütigungen, der Gemeinheiten, der Niedertracht und Quälerei erreicht. Die kritische Masse. Der Schmelzpunkt.

Carrie wich weiter zurück, aufheulend in der plötzlichen Stille, und schlug die dicken Unterarme über Kreuz vors Gesicht. Ein Tampon war in ihrem noch feuchten Schamhaar hängengeblieben.

Die Mädchen beobachteten sie mit glänzenden, erstaunten Augen.

Carrie flüchtete in eine der vier großen, offenen Duschkabinen und ließ sich langsam an der Wand zu Boden gleiten. Sie stieß leise, hilflose Schluchzer aus. Ihre Augen rollten in nassem Weiß, wie die Augen eines Schweines auf der Schlachtbank.

Sue sagte langsam, zögernd: »Ich glaube, es ist das erste Mal, dass sie …«

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen und zugeknallt, und Miss Desjardin platzte herein, um nachzusehen, was los war.

Aus: Als der Schatten explodierte (S. 41):

Sowohl medizinische als auch psychologische Gutachter, die sich mit dem Fall befasst haben, sind übereinstimmend der Meinung, dass Carrie Whites außergewöhnlich späte und traumatische Begegnung mit dem Menstruationszyklus sehr wohl der Auslöser für die Erweckung ihrer latenten telekinetischen Fähigkeiten gewesen sein kann.

Es ist geradezu unglaublich, dass Carrie im Jahre 1979, als Sechzehnjährige, nichts über den monatlichen Zyklus der Frau gewusst hat.

Beinahe ebenso unglaublich ist es, dass die Mutter des Mädchens keinen Gynäkologen zu Rate gezogen hat, als ihre Tochter mit nahezu siebzehn Jahren noch immer keine Monatsblutungen bekommen hatte.

Doch die Tatsachen sind unumstößlich. Als Carrie Whites Blutungen einsetzten, wusste das Mädchen nichts über deren Ursachen. Ihre fehlte jegliche Kenntnis über die Menstruation und die damit zusammenhängenden körperlichen und seelischen Vorgänge.

Eine ihrer noch lebenden Klassenkameradinnen, Ruth Gogan, berichtet folgendes: Etwa ein Jahr, bevor die katastrophalen Ereignisse eingetreten sind, mit denen wir uns befassen, betrat sie den Duschraum der Ewen High School und beobachtete, wie Carrie einen Tampon benützte, um ihren Lippenstift abzuwischen. Miss Gogan fragte: »Meine Güte, was machst du da?« Miss White erwiderte: »Ist das denn nicht richtig?« Darauf antwortete Miss Gogan: »Doch. Natürlich ist das richtig.« Miss Gogan erzählte einigen Freundinnen von diesem Vorfall (später sagte sie zu ihrem Vernehmungsbeamten, sie habe das »für eine Art Scherz« gehalten). Jedes Mal wenn nach dieser Begebenheit jemand versucht hat, Carrie über den wirklichen Verwendungszweck von Tampons aufzuklären, hat sie derartige Erläuterungen offenbar als Versuch betrachtet, sie auf den Arm zu nehmen, und daher zurückgewiesen. Denn Spott, Häme und bewusste Irreführung waren ein Bestandteil ihres Lebens, und darum war sie äußerst misstrauisch …

Als die Mädchen zur zweiten Unterrichtsstunde in ihre Klassen gegangen und die Schelle abgestellt worden war (einige Schülerinnen hatten sich klammheimlich durch die Hintertür abgesetzt, bevor Miss Desjardin ihre Namen notieren konnte), wandte die Sportlehrerin ihre bewährte Methode bei hysterischen Ausbrüchen an: Sie gab Carrie ein paar Ohrfeigen. Sie hätte wohl kaum zugegeben, dass ihr dies sogar ein gewisses Vergnügen bereitete, und ganz sicher hätte sie abgestritten, dass sie Carrie als fettes, widerliches Pummelchen betrachtete. Als Lehrerin im ersten Berufsjahr glaubte sie noch immer von sich selbst, alle Schüler als grundsätzlich gute Menschen zu betrachten.

Carrie blickte stumpfsinnig zu ihr auf; ihr verweintes Gesicht zuckte noch immer. »M-M-Miss Des …«

»Steh auf«, sagte Miss Desjardin kühl. »Steh auf, und reiß dich zusammen.«

»Ich verblute!« kreischte Carrie, und ihre tastende, suchende Hand hob sich und krampfte sich in Miss Desjardins weiße Shorts. Sie hinterließ einen blutigen Abdruck.

»Ich … du …« Das Gesicht der Sportlehrerin verzog sich zu einer Grimasse des Ekels, und mit einem Ruck zerrte sie Carrie auf die Beine. »Geh da rüber!«

Carrie stand schwankend zwischen den Duschen und dem defekten Münzautomaten für die Monatsbinden, weit vornüber gebeugt; ihre Brüste pendelten leicht; die Arme hingen schlaff herab. Sie sah aus wie ein Affe. Ihre Augen waren glänzend, ihr Blick stumpf und leer.

»Also«, sagte Miss Desjardin mit frostiger Stimme, »du nimmst jetzt eine von diesen … Binden aus dem Automaten … aus dem kaputten Ding da drüben … nein, lass den Münzschlitz, der Apparat funktioniert sowieso nicht mehr … nimm dir einfach eine und … nun mach schon, verdammt noch mal! Du führst dich auf, als hättest du noch nie was von der Periode gehört.«

»Periode?« sagte Carrie.

Ihre Miene, die vollkommenes Nichtbegreifen zeigte, war zu echt, zu aufrichtig, zu sehr voller sprachlosen und hoffnungslosen Entsetzen, als dass man es hätte ignorieren oder verleugnen können. Eine schreckliche und düstere Ahnung stieg in Rita Desjardin auf. Es war unglaublich, es konnte nicht sein. Sie selbst hatte kurz nach ihrem elften Geburtstag ihre erste Periode bekommen, war aufgeregt oben zum Treppenabsatz gestürmt und hatte hinuntergerufen: »He, Mom, mich hat’s erwischt!«

»Carrie?« sagte sie jetzt. Sie trat auf das Mädchen zu. »Carrie?«

Carrie zuckte zurück. Im gleichen Augenblick stürzte in einer Ecke ein Regal mit Softballs um. Die Bälle schossen in allen Richtungen davon; Miss Desjardin musste über einige hinwegspringen.

»Carrie, ist das deine erste Periode?«

Jetzt aber, kaum dass sie diesen Gedanken in Worte gekleidet hatte, brauchte sie Carrie diese Frage kaum mehr zu stellen. Das Blut war dunkel und strömte mit erschreckender Heftigkeit. Carries Beine waren verschmiert und bespritzt, als hätte sie einen Fluss aus Blut durchwatet.

»Es tut weh«, sagte Carrie stöhnend. »Mein Bauch …«

»Das geht vorbei«, sagte Miss Desjardin. Mitleid und Scham überkamen sie, gingen eine Verbindung ein, die ihr Unwohlsein, ja Übelkeit bereitete. »Du musst … äh … den Blutfluss aufhalten. Du –«

Über ihnen blitzte es grell auf, und mit einem Zischen und einem Knall zersplitterte eine Glühbirne. Miss Desjardin stieß einen erschrockenen Schrei aus, und plötzlich glaubte sie zu wissen

(der ganze verdammte Bau bricht zusammen)

als würden solche Dinge immer in Carries Nähe geschehen, wenn sie erregt war, verletzt, verwirrt – als würde das Missgeschick sie auf Schritt und Tritt verfolgen. Miss Desjardin nahm eine Damenbinde aus dem defekten Automaten und entfernte die Verpackung.

»Guck mal«, sagte sie, »das macht man so …«

Aus: Als der Schatten explodierte (S. 54):

Carrie Whites Mutter, Margaret White, brachte ihre Tochter am 21. September 1963 unter Begleitumständen zur Welt, die man nur als abnorm bezeichnen kann. In der Tat drängt sich dem aufmerksamen Beobachter bei der Gesamtbetrachtung des Falles Carietta White vor allem eine Erkenntnis auf: dass Carrie der einzige Nachkomme einer der absonderlichsten Familien war, die jemals ins Licht der Öffentlichkeit gerückt worden sind.

Wie bereits erwähnt, kam Ralph White im Februar 1963 in Portland ums Leben, als beim Bau eines Hochhauses ein Stahlträger von einem Gerüst fiel. Mrs. White wohnte fortan allein in ihrem Einfamilienhaus am Stadtrand von Chamberlain.

Aufgrund des beinahe fanatischen, fundamentalistisch geprägten religiösen Glaubens der Whites waren keine Freunde zur Stelle, die Mrs. White über die Trauerzeit hätten hinweghelfen können. Und als sieben Monate später ihre Wehen einsetzten, war sie allein.

Am 21. September gegen 13 Uhr 30 hörten die Nachbarn in der Carlin Street Schreie aus dem Wohnhaus der Whites. Die Polizei wurde jedoch erst nach 18 Uhr verständigt. Somit bieten sich zwei unerquickliche Möglichkeiten an, um diese lange Zeitspanne bis zum Eintreffen der Beamten zu erklären: Entweder wollten Mrs. Whites Nachbarn nicht in polizeiliche Nachforschungen verwickelt werden, oder ihre Abneigung gegen Mrs. White war so groß geworden, dass sie bewusst so lange gewartet haben. Mrs. Georgia McLaughlin, die einzige von den drei noch heute in der Carlin Street wohnenden Nachbarn, die Zeugin der damaligen Vorfälle gewesen ist und die bereit war, mir darüber zu berichten, erklärte, sie habe die Polizei deshalb nicht verständigt, weil sie der Meinung gewesen sei, die Schreie hätten etwas mit »religiöser Ekstase« zu tun.

Als die Polizei um 18 Uhr 22 eintraf, kamen die Schreie in unregelmäßigen Abständen. Mrs. White wurde in ihrem Bett im Obergeschoss aufgefunden. Der leitende Ermittlungsbeamte, Thomas G. Mearton, hatte zuerst den Eindruck, dass ein Mordanschlag auf Mrs. White verübt worden sei. Das Bettzeug war blutdurchtränkt, und auf dem Boden lag ein Schlachtermesser. Erst dann sah er das Neugeborene – dessen Körper sich teilweise noch in der Plazenta befand –, an Mrs. Whites Brust. Offensichtlich hatte sie die Nabelschnur selbst mit dem Messer durchtrennt.

Es übersteigt die Vorstellungskraft des normal Denkenden, wenn an dieser Stelle die Vermutung geäußert werden muss, dass Mrs. White nichts von ihrer Schwangerschaft gewusst hat, ja, möglicherweise nicht einmal gewusst hat, was dieser Begriff beinhaltet. Erst kürzlich haben Wissenschaftler wie J.W. Bankson und George Fielding eine in diesem Zusammenhang vergleichsweise schlüssige Theorie aufgestellt: Mrs. White hatte den Begriff der Schwangerschaft, der nach ihrem Verständnis untrennbar mit der »Sünde« des Geschlechtsverkehrs verbunden war, vollkommen aus ihrer Vorstellungswelt verdrängt. Sie dürfte sich schlichtweg geweigert haben zu glauben, dass ihr so etwas »passieren« könnte.

Uns liegen Abschriften der drei letzten Briefe Mrs. Whites an eine Freundin in Kenosha, Wisconsin, vor, die zweifelsfrei beweisen, dass Mrs. White ab dem fünften Monat ihrer Schwangerschaft glaubte, an einem »Krebsgeschwür an den fraulichen Körperteilen« erkrankt zu sein und bald zu ihrem Mann in den Himmel zu kommen …

Als Miss Desjardin Carrie eine Viertelstunde später zum Büro hinaufführte, waren die Flure gnädigerweise leer. Hinter verschlossenen Türen hörten sie sonore Lehrerstimmen und die monotonen Geräusche des Unterrichts.

Zwar waren Carries schrille Schreie endlich verstummt, doch sie weinte noch immer. Miss Desjardin hatte die Binde schließlich selbst angebracht, das Mädchen mit feuchten Papierhandtüchern gesäubert und ihr den schlichten Baumwollslip übergestreift.

Sie hatte noch zweimal versucht, Carrie die völlig normale Alltäglichkeit der Menstruation zu erklären, doch das Mädchen hatte die Hände vor die Ohren geschlagen und wieder zu schreien angefangen.

Mr. Morton, der stellvertretende Schulleiter, kam aus seinem Büro gestürmt, als die beiden das Vorzimmer betraten. Billy deLois und Henry Trennant, zwei Jungen, die auf ihre Standpauke warteten, weil sie den Grundkurs Französisch geschwänzt hatten, hockten auf ihren Stühlen und glotzten sie an.

»Kommen Sie herein«, sagte Mr. Morton forsch. »Kommen Sie gleich herein.« Er spähte über Desjardins Schulter auf die Jungen, die den blutigen Abdruck der Hand auf den Shorts der Lehrerin anstarrten. »Auf was gafft ihr denn da?«

»Blut«, sagte Henry und lächelte mit einem Ausdruck dümmlicher Verblüffung.

»Zwei Tage Nachsitzen«, sagte Mr. Morton scharf. Er warf einen raschen Blick auf den blutigen Handabdruck und blinzelte.

Er schloss die Tür hinter Carrie und der Lehrerin und begann in der obersten Schublade seines Aktenschranks nach dem Formblatt für schulische Unfälle zu wühlen.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen, äh …«

»Carrie«, half Miss Desjardin ihm auf die Sprünge. »Carrie White.« Mr. Morton hatte endlich ein Unfallformular entdeckt. Es war ein großer Kaffeefleck darauf. »Das brauchen Sie nicht, Mr. Morton.«

»Ich nehme an, es war das Trampolin, nicht wahr? Wir haben gerade … Ich brauche es nicht?«

»Nein. Aber ich glaube, wir sollten Carrie für den Rest des Tages nach Hause schicken. Sie hat eine ziemlich erschreckende Erfahrung machen müssen.« Ihre Augen schickten Mr. Morton eine stumme Botschaft zu, die er zwar aufnehmen, nicht aber begreifen konnte.

»Ja, gut, wenn Sie meinen. Gut. In Ordnung.« Morton stopfte das Formular in den Aktenschrank zurück und knallte die Schublade zu, wobei er sich den Daumen quetschte und ein grunzendes Geräusch von sich gab. Dann eilte er zur Tür, riss sie auf, starrte Billy und Henry an und rief: »Miss Fish, könnten wir bitte ein Entschuldigungsformular haben? Carrie Wright.«

»White«, sagte Miss Desjardin.

»White«, wiederholte Morton.

Billy deLois kicherte.

»Eine Woche Nachsitzen!« brüllte Morton. Unter seinem Daumennagel bildete sich eine Blutblase. Tat teuflisch weh. Carrie weinte und weinte monoton vor sich hin.

Miss Fish brachte das gelbe Entschuldigungsformular, und Morton kritzelte mit seinem silbernen Füllfederhalter seine Unterschrift darauf, wobei er wegen des Drucks, den der Füller auf seinen verletzten Daumen ausübte, zusammenzuckte.

»Soll jemand Sie nach Hause fahren, Cassie?« fragte er. »Wir könnten Ihnen ein Taxi bestellen, wenn Sie eins möchten.«

Sie schüttelte den Kopf. Morton bemerkte voller Ekel die große grüne Schleimblase, die sich vor einem Nasenloch gebildet hatte. Er blickte über Carries Kopf hinweg auf Miss Desjardin.

»Ich bin sicher, es geht ihr bald wieder besser«, sagte sie. »Carrie muss nur bis zur Carlin Street. Die frische Luft wird ihr gut tun.«

Morton reichte dem Mädchen das gelbe Formular. »Dann können Sie jetzt gehen, Cassie«, sagte er großmütig.

»So heiße ich nicht!« schrie sie plötzlich.

Morton zuckte zusammen, und Miss Desjardin sprang in die Höhe, als hätte ihr jemand in den Hintern getreten. Der schwere Keramikaschenbecher auf Mortons Schreibtisch (er war Rodins Denker nachgebildet; auf dem Kopf der Figur konnte man die Zigaretten ablegen) plumpste plötzlich auf den Teppich, als wollte er vor der Wucht von Carries Ausbruch in Deckung gehen. Zigarettenkippen und Krümel von Mortons Pfeifentabak verstreuten sich über den blassgrünen Nylonteppich.

»Also, jetzt hören Sie mal«, sagte Morton und versuchte, streng zu wirken. »Ich weiß, Sie sind aufgewühlt, aber das bedeutet nicht, dass ich dafür …«

»Bitte«, sagte Miss Desjardin leise.

Morton blinzelte sie an; dann nickte er kurz. Er versuchte immer, eine Art liebenswerten John Wayne herauszukehren, wenn er Disziplinarstrafen und ähnliches verhängte – seine Hauptbeschäftigung als stellvertretender Schulleiter –, aber es gelang ihm diesmal nicht sonderlich gut. Die Schulleitung (die in der Regel von Rektor Henry Grayle verkörpert wurde – beim Arbeitsessen mit Mitgliedern der Vereinigung junger Unternehmer, bei Versammlungen des Elternbeirats oder Feierlichkeiten der Vereinigung der Kriegsveteranen) nannte ihn für gewöhnlich den »liebenswerten Mort«. Die Schüler neigten eher zu der Bezeichnung »der bekloppte Quassler aus dem Büro«. Da jedoch nur wenige Schüler, wie Billy deLois und Henry Trennant, bei Sitzungen des Elternbeirats oder Bürgerversammlungen das Wort ergriffen, trug die Version des Rektors zumeist den Sieg davon.

Jetzt lächelte der liebenswerte Mort, der immer noch heimlich seinen gequetschten Daumen rieb, Carrie an und sagte: »Dann gehen Sie jetzt, wenn Sie möchten, Miss Wright. Oder wollen Sie sich ein Weilchen hinsetzen, bis Sie ein wenig zur Ruhe gekommen sind?«

»Ich gehe«, murmelte sie und strich sich übers Haar. Sie erhob sich und wandte sich zu Miss Desjardin um. Ihre Augen waren weit aufgerissen und dunkel vor Erkenntnis. »Die anderen haben mich ausgelacht. Mich beworfen. Die haben schon immer gelacht.«

Miss Desjardin konnte sie nur hilflos anblicken.

Carrie ging.

Für einen Moment herrschte Schweigen; Morton und Desjardin beobachteten, wie Carrie das Büro verließ. Dann, mit einem verlegenen Räuspern, kniete Morton sich vorsichtig auf den Boden und begann, mit einem Blatt Papier den Inhalt seines Aschenbechers zusammenzukehren.

»Um was ging es eigentlich?«

Sie seufzte und blickte angewidert auf den allmählich eintrocknenden, rotbraunen Handabdruck auf ihren Shorts. »Sie hat ihre Periode bekommen. Ihre erste. Unter der Dusche.«

Morton räusperte sich wieder, und seine Wangen wurden rot. Das Blatt Papier, mit dem er Zigarettenstummel und Asche zusammenfegte, bewegte sich noch schneller. »Ist sie nicht ein bisschen … äh …«

»Alt fürs erste Mal? Ja. Darum ist es ja so schrecklich für sie gewesen. Ich kann allerdings nicht verstehen, warum ihre Mutter …« Der Gedanke verblasste, war für den Augenblick vergessen. »Ich fürchte, ich hab’ mich ziemlich dumm angestellt, Morty, aber ich wusste ja nicht, was los war. Sie hatte Angst, sie würde verbluten.«

Er blickte zu ihr auf, sah sie bestürzt an.

»Ich glaube, bis vor einer halben Stunde hat sie noch gar nicht gewusst, dass es so etwas wie Menstruation überhaupt gibt.«

»Reichen Sie mir doch mal den Handfeger da drüben, Miss Desjardin. Ja, genau den.« Sie gab ihm den kleinen Besen mit der Aufschrift Die Chamberlain Hardware Company fegt alles weg, nur SIE nicht auf dem Handgriff. Morton fegte einen Haufen Asche auf das Blatt. »Ich nehme an, da bleibt noch ganz schön was für den Staubsauger übrig. Dieser langflorige Teppich ist widerlich. Ich dachte, ich hätte den Ascher weit genug nach hinten auf den Schreibtisch gestellt. Komisch, wie Sachen einfach so runterfallen.« Er stieß mit dem Kopf gegen den Schreibtisch und richtete sich ruckartig auf. »Ich kann es kaum glauben, dass ein Mädchen drei Jahre lang diese oder eine andere High School besucht und von Menstruation keinen blassen Schimmer hat, Miss Desjardin.«

»Für mich ist es noch schwieriger zu begreifen«, sagte sie. »Aber ihrem Verhalten nach zu urteilen, gibt es keine andere Erklärung für mich. Und sie ist für die anderen Mädchen schon immer der Hampelmann gewesen.«

»Mhm.« Er schüttete die Asche und die Zigarettenkippen in den Papierkorb und klopfte sich den Staub von den Händen. »Ich glaube, ich weiß jetzt, wer sie ist. White. Margaret Whites Tochter. Kann nicht anders sein. Dann fällt es ein wenig leichter, das alles zu glauben.« Er nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und lächelte entschuldigend. »Es sind so viele. Nach … sagen wir mal, fünf Jahren verschmelzen sie alle zu einem einzigen Gesicht. Dann redet man Jungen mit den Namen ihrer Brüder an und so was alles. Es ist nicht einfach.«

»Sicher nicht.«

»Warten Sie, bis Sie erst mal zwanzig Jahre bei diesem Verein auf dem Buckel haben wie ich«, sagte er mürrisch und blickte auf seine Blutblase hinunter. »Dann werden Sie Kinder unterrichten, die Ihnen bekannt vorkommen, und es stellt sich heraus, dass ihr Daddy in dem Jahr, als Sie hier angefangen haben, einer Ihrer Schüler war. Margaret White hat diese Schule vor meiner Zeit besucht, und ich bin zutiefst dankbar dafür. Sie hat mal zu Mrs. Bicente – Gott hab’ sie selig –, gesagt, dass der Satan in der Hölle einen besonders heißen Bratenrost für sie reserviert habe, weil Mrs. Bicente den Kindern einen Abriss der Darwinschen Evolutionstheorie gegeben hat. Margaret White wurde zweimal vom Unterricht ausgeschlossen – einmal, weil sie eine Klassenkameradin mit ihrem Ranzen verprügelt hat. Angeblich hat Margaret die Ärmste eine Zigarette rauchen sehen. Seltsame religiöse Ansichten. Sehr seltsam.« Plötzlich erschien wieder der John-Wayne Ausdruck auf seinem Gesicht. »Die anderen Mädchen. Haben sie die kleine White wirklich ausgelacht?«

»Schlimmer. Sie haben herumgeschrien und Carrie mit Monatsbinden beworfen, als ich in den Duschraum kam. Sie haben die Dinger wie … wie Erdnüsse geworfen.«

»Oh. O je.« John Wayne machte sich aus dem Staub. Mr. Mortons Gesicht lief dunkelrot an. »Können Sie mir Namen nennen?«

»Ja. Nicht alle, aber ich kann mir die restlichen zusammenreimen. Christine Hargensen schien die Anführerin zu sein … wie üblich.«

»Chris und ihre Clique«, murmelte Morton.

»Ja. Tina Blake, Rachel Spies, Helen Shyres, Donna Thibodeau und ihre Schwester Fern, Lila Grace, Jessica Upshaw. Und Sue Snell.« Sie runzelte die Stirn. »Von Sue hätte ich so was eigentlich nicht erwartet. Sie schien mir nie der Typ für diese Art von … Späßen zu sein.«

»Haben Sie mit den betreffenden Mädchen gesprochen?«

Miss Desjardin kicherte unglücklich. »Die sind aus dem Duschraum geflitzt wie die Verrückten. Und ich war zu durcheinander. Außerdem hatte Carrie einen hysterischen Anfall.«

»Mhm.« Er trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. »Haben Sie die Absicht, mit den Mädchen zu reden?«

»Ja.« Doch in ihrer Stimme lag Widerwille.

»Höre ich da einen Anflug von …«

»Ja, kann sein«, sagte sie mürrisch. »Ich sitze im Glashaus, verstehen Sie. Ich kann mir vorstellen, wie den Mädchen zumute war. Als ich gesehen habe, was passiert ist, hätte ich Carrie am liebsten gepackt und durchgeschüttelt. Vielleicht erwacht in jeder Frau eine Art Instinkt, was die Menstruation betrifft, ein Mechanismus, der sie aggressiv werden lässt. Ich weiß es nicht. Ich muss immer an Sue Snell denken, und wie sie geguckt hat.«

»Mhm«, war Mr. Mortons weiser Kommentar. Er konnte Frauen nicht begreifen und hatte absolut nicht das Bedürfnis, sich über das Thema Menstruation zu unterhalten.

»Ich werde morgen mit den Mädchen reden«, versprach sie und erhob sich. »Ich werde sie mir kräftig zur Brust nehmen.«

»Gut. Sorgen Sie dafür, dass die Strafe dem Vergehen angemessen ist. Und sollten Sie der Meinung sein, Sie müssten eine von ihnen, äh, zu mir schicken, tun Sie sich keinen Zwang an.«

»In Ordnung«, sagte sie freundlich. »Übrigens, als ich versucht habe, Carrie zu beruhigen, ist eine Lampe geplatzt. Das hat mir den Rest gegeben.«

»Ich werde einen Elektriker runterschicken«, versprach er. »Und danke für alles, was Sie getan haben, Miss Desjardin. Würden Sie bitte Miss Fish sagen, sie soll Billy und Henry hereinschicken?«

»Sicher.« Sie ging.

Er lehnte sich zurück und verbannte die ganze Angelegenheit aus seinen Gedanken. Als Billy deLois und Henry Trennant, Schulschwänzer erster Güte, ins Büro geschlichen kamen, blickte er sie fröhlich an und bereitete sich darauf vor, ein sehr ernstes Wort mit ihnen zu reden.

Schulschwänzer verspeiste er zu Mittag, wie er es Henry Grayle gegenüber oft auszudrücken pflegte.

Eingeritzt in ein Pult in der Junior High School in Chamberlain:

Rosen sind rot, Veilchen sind blau, Zucker ist weiß, doch Carrie White frisst Scheiß.

Sie ging die Erwin Avenue hinunter und überquerte sie bei der Ampel an der Ecke Carlin Street. Sie hielt den Kopf gesenkt und versuchte, an gar nichts zu denken. Krämpfe kamen und gingen in heftigen, schmerzhaften Wogen, so dass sie ihr Tempo mal verlangsamte, dann wieder beschleunigte, wie ein Auto mit defektem Vergaser.

Sie starrte auf den Gehsteig. Quarz glitzerte im Beton. Kreidestriche für ein Hüpfspiel in geisterhafter, vom Regen verwaschener Farbe. Plattgetretener Kaugummi. Schnipsel von Alufolie und Bonbonpapier. Sie alle hassen mich, und sie werden es immer tun. Sie werden es nie müde. Ein Centstück, in einer Ritze verklemmt. Sie kickte es weg. Stell dir Chris Hargensen vor, blutüberströmt, schreiend, um Gnade winselnd. Und Ratten kriechen ihr übers Gesicht. Gut. Gut. Das wäre gut. Ein Haufen Hundekot; mittendrauf der Abdruck einer Schuhsohle. Ein Plastikstreifen geschwärzter Zündhütchen, die ein Kind mit einem Stein zum Platzen gebracht hatte. Zigarettenkippen. Schlag ihr den Schädel mit einem Stein ein, mit einem Felsbrocken. Zerschmettere all ihre Herzen. Gut. Gut.

(Heiland Jesus sanft und rein)

Das wäre gut für Momma, und es wäre zu schön für sie selbst. Momma war ja kein hilfloses Lamm, das sich jeden Tag eines jeden Jahres unter ein Wolfsrudel mischen musste. Sie brauchte sich nicht in einen verrückten Karneval von Lachern und Witzereißern zu begeben, die mit dem Finger auf einen zeigten und hämisch grinsten. Aber sagte Momma nicht immer, bald käme der Tag des Jüngsten Gerichts

(der Name des Sterns wird Bitterkeit sein, und sie werden gequält von Skorpionen)

und was von einem Engel mit einem Schwert?

Wäre dieser Tag doch schon heute, und käme Jesus nicht mit einem Lamm und einem Hirtenstab, sondern mit Felsbrocken in den Händen, um die Lacher und Grinser zu zerschmettern, um das Böse zu vertilgen, es schreien und wimmern zu lassen und auszurotten – ein schrecklicher Jesus des Blutes und der Gerechtigkeit.

Und wenn sie doch nur sein Schwert und sein Arm sein könnte.

Sie hatte versucht, sich anzupassen. Sie hatte Momma zaghaft herausgefordert, auf hunderterlei Weise. Sie hatte versucht, den Pestkreis zu durchbrechen, der seit jenem Tag um sie herum gezogen worden war, als sie die behütete Umgebung des kleinen Hauses in der Carlin Street zum ersten Mal verlassen hatte und mit ihrer Bibel unter dem Arm zur Barker-Street-Grundschule gegangen war. Sie konnte sich noch immer an diesen Tag erinnern, an die starrenden Augen und die plötzliche, schreckliche Stille, als sie vor dem Mittagessen im Speisesaal der Schule niedergekniet war – an jenem Tag hatte das Gelächter angefangen und war seitdem über all die Jahre hinweg nicht mehr verstummt.

Der Pestkreis war wie aus Blut – man konnte schrubben und schrubben und schrubben, und er war immer noch da, nicht ausgelöscht, nicht sauber, nicht einmal verblasst. Sie hatte sich nie wieder an öffentlichen Orten niedergekniet, hatte Momma allerdings nichts davon gesagt. Doch die Erinnerung war haften geblieben, bei ihr und bei ihnen.

Sie hatte mit Zähnen und Klauen gekämpft, dass Momma ihr erlaubte, am Sommerzeltlager der christlichen Jugend teilnehmen zu dürfen, und das Geld dafür hatte sie sich selbst mit Nähen verdient. Momma hatte ihr düster verkündet, dass es Sünde sei, dass dort Methodisten und Baptisten und Kongregationalisten seien und dass es Sünde sei und Abtrünnigkeit. Sie hatte Carrie das Schwimmen im Camp verboten, und trotzdem hatte sie geschwommen und hatte gelacht, als die anderen sie unter Wasser tauchten (bis sie keine Luft mehr bekam und die anderen immer weiter- und weitermachten und sie in Panik geriet und wild zu strampeln anfing); und sie hatte versucht, bei den Spielen und Wettkämpfen im Lager mitzumachen, und die anderen hatten mit der alten Betschwester Carrie Tausende von derben Späßen getrieben, und sie war mit dem Bus eine Woche früher nach Hause gekommen, die Augen rot und verquollen vom Weinen, und sich von Momma an der Haltestelle abholen lassen, und Momma hatte ihr wütend gesagt, sie solle die Erinnerung an ihre Bestrafung wie einen Schatz bewahren, als Beweis, dass Momma es besser wusste, dass Momma recht hatte, dass die einzige Hoffnung auf Geborgenheit und Errettung sich im Innern des Pestkreises befand. »Denn eng ist die Pforte«, sagte Momma mit böser Stimme, als sie im Taxi saßen, und zu Hause hatte sie Carrie sechs Stunden in die Besenkammer eingesperrt.

Natürlich hatte Momma ihr auch verboten, mit den anderen Mädchen zu duschen, doch Carrie hatte ihr Duschzeug in ihrem Schließfach in der Schule versteckt und duschte trotzdem mit den anderen, nahm teil an einem Ritual der Nacktheit, das sie immer wieder mit Scham erfüllte und ihr peinlich war – und alles in der Hoffnung, dass der Pestkreis um sie herum ein bisschen verblassen würde, nur ein kleines bisschen –

(aber heute o heute)

Der fünfjährige Tommy Erbter kam ihr auf der anderen Straßenseite mit dem Fahrrad entgegen. Er war ein schmächtiger, aufgeweckter Junge auf einem zwanzigzölligen Schwinn-Rad mit leuchtend roten Rennreifen. Er summte »Scoobie Doo, wo bist du?« vor sich hin. Er sah Carrie, strahlte übers ganze Gesicht und streckte ihr die Zunge heraus.

»He, olles Furzgesicht! Olle Betschwester Carrie!«

Carrie starrte ihn an; eine heiße Woge stieg plötzlich in ihr auf. Das Fahrrad begann auf seinen Rennreifen zu schwanken und kippte plötzlich um. Tommy schrie. Das Fahrrad lag auf ihm. Tommys Weinen und Wimmern war süße, misstönende Musik in ihren Ohren.

Würde sie so etwas doch immer dann geschehen lassen können, wenn sie es wollte.

(hast du doch gerade)

Sie blieb abrupt stehen, sieben Häuser von dem Mommas entfernt, und starrte mit leerem Blick ins Nichts. Hinter ihr stieg Tommy mit tränennassem Gesicht auf sein Rad und hielt sich das aufgescheuerte Knie. Er rief ihr irgendetwas zu, doch sie hörte gar nicht hin. Sie war es gewöhnt, dass Spitzenkönner ihr etwas zuriefen.

Vorhin hatte sie gedacht:

(fall vom Rad Kleiner wirf dich vom Rad und schlag dir den dreckigen Schädel ein)

und irgendwie war es passiert.

In ihrem Kopf hatte es … hatte es … sie suchte nach einem Wort. Hatte es gezuckt. Nein, das traf es nicht richtig, kam der Sache aber schon sehr nahe. Da war eine seltsame mentale Krümmung im Kopf gewesen, eine Spannung, die sich blitzschnell gelöst hatte, beinahe so, als würde ein Arm einen Bogen spannen und die Sehne loslassen. Nein, auch dieser Vergleich stimmte nicht ganz, aber ein besserer fiel ihr dazu nicht ein. Ein Arm ohne Kraft. Ein schwacher Baby-Muskel.

Zucken.

Plötzlich starrte sie mit verbissener Konzentration auf Mrs. Yorratys großes Aussichtsfenster. Sie dachte:

(blöde alte Schachtel schlag dieses Fenster ein)

Nichts. Mrs. Yorratys Aussichtsfenster glänzte friedlich im klaren Morgenlicht. Wieder erfasste ein Krampf Carries Unterleib, und sie ging weiter.

Aber …

Die Lampe im Duschraum. Und der Aschenbecher; vergiss den Aschenbecher nicht.

Sie blickte

(alte Hexe hasst meine Momma)

über die Schulter zurück. Wieder hatte sie das Gefühl, als würde sich in ihrem Kopf etwas spannen … aber sehr schwach. Ihre Gedanken gerieten in heillose Unordnung, als wäre tief in ihrem Innern plötzlich eine Fontäne in die Höhe geschossen.

Über das Aussichtsfenster schienen Wellen zu laufen. Mehr nicht. Es konnte auch an ihren Augen gelegen haben. Konnte.

Ihr Hirn war müde und wirr, und in ihrem Schädel kündete ein schmerzhaftes Hämmern Kopfschmerzen an. Ihre Augen waren heiß, als hätte sie soeben die Offenbarung des Johannes in einem Zuge durchgelesen.

Sie ging weiter die Straße hinunter, auf das kleine weiße Haus mit den blauen Fensterläden zu. Das altvertraute Hass-Liebe-Angst-Gefühl wühlte stärker und stärker in ihrem Innern. An der Westfassade des Hauses rankte sich Efeu empor (Momma nannte das Haus immer den »Bungalow«, denn »White House« hätte sich wie ein politischer Witz angehört, und Momma sagte, alle Politiker wären Gauner und Sünder und würden das Land irgendwann den gottlosen Roten überlassen, die dann alle Menschen, die an Jesus glaubten – sogar die Katholiken –, an die Wand stellten), und der Efeu sah malerisch aus, aber manchmal hasste sie ihn. Manchmal, wie in diesem Moment, sah der Efeu aus wie eine bizarre, von gewaltigen Adern durchzogene riesige Hand, die aus dem Boden hervorgebrochen war, um das Haus zu packen. Sie näherte sich mit langsamen, schlurfenden Schritten.

Natürlich, da waren die Steine gewesen.

Wieder blieb sie stehen, blinzelte träge in den Morgen. Die Steine. Momma hatte nie darüber geredet; Carrie wusste nicht einmal, ob Momma sich noch an den Tag der Steine erinnern konnte. Es war fast ein Wunder, dass sie selbst sich daran erinnern konnte.

Damals war sie ein sehr kleines Mädchen gewesen. Wie alt? Drei? Vier? Da war das Mädchen vom Nachbarhaus gewesen, in dem weißen Badeanzug, und dann kamen die Steine. Und im Haus waren Möbel und andere Gegenstände herumgeflogen. Plötzlich war die Erinnerung wieder da, klar und deutlich. Als hätte sie die ganze Zeit über geschlummert, dicht unter der Oberfläche, und hätte auf eine Art geistige Pubertät gewartet.

Gewartet. Vielleicht auf den heutigen Tag.

Aus: Carrie. Die Götterdämmerung der T.K. (Esquire, 12. September 1980), von Jack Gaver:

Estelle Horan lebt seit zwölf Jahren in Parrish, einer hübschen Vorstadt von San Diego. Vom Äußeren her ist sie die typische Mrs. Kalifornien: Sie trägt bunt bedruckte Hemdkleider in leuchtenden Farben und Sonnenbrillen aus bernsteinfarbenem Rauchglas; ihr Haar ist blond mit dunklen Strähnen; sie fährt einen gepflegten Volkswagen Formel V mit einem Smiley-Abziehbild auf dem Tankverschluss und einem Greenpeace-Aufkleber auf dem Heckfenster. Ihr Mann ist leitender Angestellter bei der Zweigstelle der Bank of America in Parrish; ihr Sohn und ihre Tochter sind typische südkalifornische Sun-’n-Fun-Teenies – braungebrannte Strandgeschöpfe. Auf dem kleinen, wundervoll gepflegten Hinterhof steht ein großer Gartengrill, einem japanischen Teehäuschen nachempfunden, und die Türglocke spielt ein paar Takte des Refrains aus »Hey, Jude«.

Doch Mrs. Horan ist irgendwo in ihrem Innern noch immer der dünnen, spröden Scholle Neuenglands verhaftet, und wenn sie über Carrie White redet, nimmt ihr Gesicht einen seltsamen, bedrückten Ausdruck an, der mehr an H.P. Lovecraft im düsteren Arkham erinnert als an Jack Kerouac im sonnigen Südkalifornien.

 unheimlich