Tatsächlich … Vampir
Roman
Ins Deutsche übertragen
von Ralph Sander
Dem Unsterblichen Justin Bricker liegt die Damenwelt zu Füßen. Keine Frau hat es bisher geschafft, sich seinem Charisma zu entziehen. Doch Holly Bosley ist alles andere als hingerissen von ihm – ihre erste Begegnung ist ein ausgemachtes Desaster. Denn als sie eines Nachts noch einmal in das Bestattungsinstitut geht, in dem sie arbeitet, um ein paar Unterlagen zu holen, überrascht Holly den Vampir, der dort die Überreste einiger Rogues beseitigen will. Entsetzt ergreift sie die Flucht, stürzt unglücklich und trägt eine tödliche Wunde davon. Justin sieht nur eine Chance – er muss Holly wandeln, um ihr das Leben zu retten. Zum Glück stellt sich dabei heraus, dass sie seine Seelengefährtin ist und er die eine Wandlung, die ihm gewährt ist, nicht vergeuden musste. Es gibt allerdings einen kleinen Haken: Holly ist bereits glücklich verheiratet und denkt gar nicht daran, einfach in Justins Arme zu sinken und die Ewigkeit mit ihm zu genießen. Und das Gesetz der Unsterblichen verbietet es Justin unter Androhung drakonischer Strafen, einen Bund fürs Leben zu sabotieren. Doch der Vampir ist entschlossen, für seine Gefährtin zu kämpfen, auch wenn es bedeutet, alle Regeln zu brechen …
»Mist«, murmelte Holly, als ihr Blick auf die Papiere fiel, auf denen sie stand. Die kleine Disk, die mit dem Hefter an der obersten Ecke befestigt worden war, verriet ihr, dass es sich um den Papierkram für einen ihrer Kunden handelte. Dazu gehörten die Bestattungserlaubnis, die Dokumente des Rechtsmediziners, der Antrag auf Einäscherung sowie das Deckblatt mit den persönlichen Angaben des Kunden. Und das alles hätte John Byron ausgehändigt bekommen sollen, als er um halb fünf am Nachmittag seine Schicht begonnen hatte. Offenbar war genau das nicht geschehen. Dieser Vorgang musste irgendwann im Lauf des Tages von ihrem Schreibtisch gerutscht und auf dem Boden gelandet sein.
Holly stand sekundenlang nur da und betrachtete die Papiere. Sie nahm nicht mal den Fuß weg, denn sobald sie das machte, würde sie etwas damit anfangen müssen … sie zum Beispiel zum Krematorium bringen … und dazu hatte sie nun wirklich keine Lust. Nicht um diese Uhrzeit. Tagsüber dort hinzugehen war eine andere Sache, aber jetzt war es bereits nach Mitternacht. Sie müsste dafür über den ganzen Friedhof laufen, um zu dem Gebäude zu gelangen, in dem sich die Kapelle befand, außerdem durch die Urnenhallen sowie das Krematorium selbst, wo die Leichen gelagert wurden und darauf warteten, dass sie an der Reihe waren.
Feuerstätte war der Begriff, den Max benutzt hatte, der Eigentümer des Sunnyside Cemetery, als er sie an ihrem ersten Arbeitstag über das Gelände geführt hatte. Er konnte sie nennen, wie er wollte, aber Feuerstätte war nichts anderes als ein beschönigendes Wort für die Öfen, in denen die Leichen verbrannt wurden.
Beim Gedanken an die Särge, die sich im Kühlraum stapelten, lief Holly ein Schauer über den Rücken, und sie musste für Sekunden die Augen zukneifen. Es schien hier ein beliebtes Spiel zu sein, neue Kollegen mit Geschichten über die »Öfen« in Angst und Schrecken zu versetzen. Ob Jerry von der Tagschicht oder John von der Nachtschicht, ob ihr Boss Max oder Sheila vom Empfang – jeder hatte irgendetwas Grausiges zu berichten. Vor allem war ihr im Gedächtnis geblieben, wie John ihr erzählt hatte, dass zuerst die Särge verbrannten und dass sich manchmal die Leichen im Ofen aufrecht hinsetzten, weil sich die Muskeln in der Hitze zusammenzogen. Dabei stand jedem von ihnen der Mund weit aufgerissen, so als würden sie voller Entsetzen über ihr Schicksal zu schreien beginnen. Dieses Bild war ihr im Kopf hängen geblieben, und es hatte Holly davon überzeugt, dass sie niemals eingeäschert werden wollte. Am besten wäre es sogar, sich um jeden Preis vor dem Tod zu drücken.
Seufzend machte sie die Augen wieder auf und sah weiter auf die Unterlagen vor ihr auf dem Boden. Sie wünschte, sie könnte so tun, als hätte sie diese Papiere nie entdeckt. Immerhin hätte sie sie unter normalen Umständen erst am nächsten Morgen gefunden, denn eigentlich sollte sie jetzt gar nicht mehr hier sein. Angefangen hatte alles damit, dass sie nach der Arbeit nach Hause gefahren war, um das Abendessen zu kochen. Als sie dann nach ihrem Blutzuckermessgerät gesucht hatte, um ihre Werte zu überprüfen, war sie nirgends fündig geworden. Da dieses vermutlich in ihrem Wagen lag und sie nicht wollte, dass deswegen ihr Essen kalt wurde, hatte sie beschlossen, sich anschließend um den Bluttest zu kümmern. Das war dann aber so sehr in Vergessenheit geraten, dass sie erst vor dem Zubettgehen wieder daran dachte, als sie sich die Zähne putzte und damit fast schon fertig war.
Sie zog den Trenchcoat über ihren Pyjama und lief in Schlappen zum Auto, um die Handtasche herauszuholen, doch die befand sich nicht im Wagen. Das verwirrte sie so sehr, dass sie eine Weile in der kalten Garage herumstand und sich zu erinnern versuchte, wann sie die Tasche zum letzten Mal in der Hand gehalten hatte. Das war im Büro gewesen, als sie Sheila Geld fürs Mittagessen gegeben hatte. Als sie sich daran zu erinnern versuchte, wie sie die Tasche über die Schulter gehängt hatte, während sie das Büro verließ, tauchte nicht dieses Bild vor ihrem geistigen Auge auf, sondern eines, das zeigte, wie sie mit beiden Händen einen Stapel Steuerformulare und Belege zum Wagen brachte … aber keine Handtasche. Es war ihr nicht aufgefallen, weil der Schlüssel für ihren Wagen in ihrer Manteltasche gesteckt hatte.
Sie vergeudete weitere Minuten mit der Überlegung, ob sie den Test heute Abend einfach ausfallen lassen sollte, aber letztlich ließ sie resigniert die Schultern sinken und stieg in ihren Wagen, um zurück zum Büro zu fahren. Hin und wieder einen Test zu überspringen war kein Problem, aber gleich zwei hintereinander ausfallen zu lassen, war alles andere als gut. Außerdem waren es bis zum Friedhof nur zehn Minuten, und unter diesen Umständen war es das Risiko, in ein Zuckerkoma zu fallen, nicht wert.
Hätte Holly allerdings gewusst, dass damit die Notwendigkeit verbunden sein würde, den Friedhof zu überqueren, noch dazu im Pyjama, hätte sie vielleicht das Risiko eines Komas in Kauf genommen.
Missmutig verzog sie den Mund, bückte sich und hob die Papiere auf. Es ließ sich nicht umgehen, sie musste die Unterlagen rüberbringen, bevor sie wieder nach Hause fuhr. Ansonsten würde die Einäscherung erst morgen oder sogar übermorgen vorgenommen werden, und das konnte zu Problemen führen, je nachdem wann die Beisetzung stattfinden sollte.
Sie nahm die Papiere in die eine Hand, während sie mit der anderen den Riemen der Handtasche über ihre Schulter schob. Während sie das Büro verließ, fragte sie sich unwillkürlich, ob ihr Leben nicht viel leichter wäre, wenn sie kein ganz so gewissenhafter Mensch wäre. Verantwortungsbewusst zu sein konnte manchmal verdammt lästig sein, dachte sie auf ihrem Weg nach draußen und holte den Schlüsselbund aus der Manteltasche.
Der Schlüssel für das Beerdigungsinstitut war selbst mitten in der Nacht leicht zu finden, weil er am Bund noch einmal an einem eigenen Ring hing. Dass er noch ganz neu war und daher glänzte, half ihr bei diesen Lichtverhältnissen kaum weiter. Den Schlüssel hatte sie letzten Freitag bekommen, jetzt war Montag. Aber wieso wurde einer vorübergehend eingestellten Mitarbeiterin der Generalschlüssel für das ganze Geschäft überlassen? Die Antwort darauf war ziemlich einfach: weil ihre Kolleginnen nicht so gewissenhaft und so verantwortungsbewusst waren wie sie. Während ihrer ersten Woche war Max an keinem Tag auch nur ein paar Minuten vor zwölf ins Büro gekommen, und Empfangsdame Sheila, die zufällig auch noch die Tochter von Max war, hatte sich gleich an drei Tagen verspätet. Bei den beiden fiel der Apfel wirklich nicht weit vom Stamm.
Nachdem sie am Freitag zum dritten Mal in dieser Woche über eineinhalb Stunden auf dem Firmenparkplatz damit hatte zubringen müssen, auf Sheila zu warten, hatte sie sich ihre Verärgerung anmerken lassen. Und sie hatte vorgeschlagen, doch besser erst später am Tag anzufangen, damit sie nicht ihre Zeit und ihr Geld damit vergeuden musste, auf Sheilas Eintreffen zu warten. Sheila hatte dann eine aus ihrer Sicht bessere Lösung gefunden – sie hatte für Holly einen Schlüssel nachmachen lassen, damit sie ins Büro konnte, sobald sie da war.
Zu gern hätte Holly sich selbst weisgemacht, dass ihre verantwortungsvolle Art für Sheila ausschlaggebend gewesen war, ihr den Schlüssel zu überlassen. Doch sie wusste genau, dass es von Sheila nur Faulheit gepaart mit Bequemlichkeit war. Solange Holly den Schlüssel hatte und rechtzeitig im Büro war, konnte Sheila sich morgens so viel Zeit lassen, wie sie nur wollte. Den Beweis hatte sie gleich am heutigen Tag geliefert, als sie erst zur Mittagszeit im Büro auftauchte – und dann auch noch für sie beide etwas zu essen mitgebracht hatte, was Holly gar nicht gewollt, wofür sie aber dennoch bezahlt hatte.
Sie schloss die Tür ab und drehte sich zum Krematorium um, stutzte dann aber, als sie das Gebäude gar nicht sehen konnte. Es lag am Nebel, der schon diese nächtliche Fahrt zum Büro so unangenehm gemacht hatte. Im Gebäude selbst hatte sie den Nebel dann jedoch völlig vergessen, und nun sah sie sich wieder ringsum mit der trüben Dunkelheit konfrontiert. Ein ängstlicher Schauer kroch über ihre Wirbelsäule nach oben.
Sie hielt sich mitten in einer nebligen, mondlosen Nacht auf einem Friedhof auf, was sie viel zu sehr an eine Szene aus einem Horrorfilm erinnerte. Jeden Moment würden verwesende Leichen sich den Weg aus ihrem Grab freikämpfen, um sich in Hollys Richtung zu schleppen, weil der Geruch nach frischem Fleisch sie antrieb.
»Reiß dich endlich zusammen«, ermahnte sie sich.
Den Klang ihrer eigenen Stimme in der Nacht zu hören machte ihr ein wenig Mut, aber der genügte längst nicht, um sie in Richtung des Krematoriums gehen zu lassen.
Sie trat einen Moment lang unschlüssig auf der Stelle, seufzte und drehte sich wieder zur Tür um. Vielleicht lag ja im Büro ein Regenschirm oder etwas Ähnliches rum, das sie bei sich tragen konnte. Eine Waffe – auch wenn sie noch so nutzlos sein mochte – in der Hand zu haben würde ihr womöglich Mut machen, um den Weg in Richtung Krematorium in Angriff zu nehmen.
Als eine flüchtige Suche weder zu einem Regenschirm noch zu einem Spazierstock führte und sie auch keinen Flammenwerfer finden konnte, um diese eingebildeten Zombies abzuwehren, begnügte sich Holly schließlich mit einer großen Papierschere, die aus dem Stifthalter am Empfang herausragte. Sie nahm die Schere in die Hand, um ein Gefühl für die Größe zu bekommen, und kam zu dem Schluss, dass sie damit gut bedient war. Wahrscheinlich würde sie die Schere sowieso nicht benutzen müssen, aber weil sie so ein Feigling war, fühlte sie sich mit diesem Teil in der Hand gleich viel wohler, als sie wieder nach draußen ging.
Leider war in der Zwischenzeit kein Wind aufgekommen, der den Nebel hätte vertreiben können. Stattdessen kam es ihr so vor, als wäre der Nebel nur noch dichter geworden, doch das konnte sie sich auch einbilden, weil sie solche Angst hatte. Wenn sie wenigstens eine Taschenlampe hätte …
Der Gedanke ließ sie zum Parkplatz sehen. Im Handschuhfach ihres Wagens hatte sie für Notfälle eine Taschenlampe deponiert. Sie lief zum Auto, schloss auf und setzte sich auf den Beifahrersitz, dann durchsuchte sie das Handschuhfach, konnte aber keine Lampe finden. Seufzend ließ sie sich gegen die Rückenlehne sinken, nahm wieder die Papiere und die Schere an sich und stieg aus. Die Handtasche ließ sie allerdings im Wagen, um so das Risiko auszuschließen, dass sie die Tasche versehentlich im Krematorium vergaß.
Während sie versuchte, auf keinen Fall an Filme wie The Fog – Nebel des Grauens oder Die Nacht der lebenden Toten zu denken, ging sie entschlossenen Schrittes in Richtung Krematorium. Und zwar so schnell, wie es nur eben ging. Dabei strengte sie ihre Ohren an, um jedes Geräusch wahrzunehmen, das darauf hindeutete, dass sie nicht allein war. Nachdem sie sich dazu durchgerungen hatte, die Papiere rüberzubringen, zählte für sie nur noch, genau das zu erledigen und dann endlich nach Hause zu fahren. Es war immer am besten, unangenehme Aufgaben so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
Ironischerweise hatte es jedoch oft den Anschein, als würden gerade diese unangenehmen Aufgaben übermäßig viel Zeit in Anspruch nehmen. Sie wusste, es konnte nur mit ihrer Angst zu tun haben, dass ihr die Strecke zum Krematorium viel länger vorkam als üblich. Holly war in Sorge, dass sie in die falsche Richtung gegangen sein könnte und nun bis zum Morgen über den Friedhof irren würde, bis die Sonne stark genug war, um den Nebel aufzulösen.
Plötzlich sah sie vor sich einen schwachen Lichtschein, der von der Lampe über dem Eingang zum Gebäude stammen musste. Sofort ging sie zügig und zielstrebig weiter und atmete erleichtert auf, als sie nahe genug war, um die Tür zu erkennen.
Sie hatte es geschafft! Sie hatte das Krematorium lebend und unverletzt erreicht, und von verwesenden Zombies war sie auch nicht belästigt worden.
»Super«, sagte sie, als sie das Gebäude betrat, und verzog den Mund, als sie hörte, wie schwach ihre Stimme klang. Sie schüttelte sich einmal kurz, dann ging sie zügig an den Türen vorbei, die zu den beiden Kapellen führten, und durchquerte die Urnenhalle. Einige Urnen befanden sich gut erkennbar hinter Glas, andere hingegen waren hinter Messingtafeln verborgen, auf denen der jeweilige Name und alle wichtigen Daten standen. Bei vielen steckten gleich daneben Blumen und alle möglichen anderen Dinge in speziellen Halterungen. Holly hatte Blumen immer gemocht, doch nachdem sie zwei Wochen hier gearbeitet hatte, war es mit ihrer Vorliebe vorbei, und sie verband Blumen nur noch mit dem Tod.
Sie hätte viel entspannter sein sollen, als sie sich tief in ihrem Inneren fühlte. Immerhin enthielten die Urnen nur die Asche der Verstorbenen, und die konnte nicht spontan irgendwelche Formen annehmen, die in der Lage waren, sie zu verfolgen und ihr das Gehirn aus dem Schädel zu reißen. Trotzdem war Holly nervös und schreckhaft, aber der Grund dafür war allzu offensichtlich, denn sie war auf dem Weg ins Krematorium, wo die Särge mit den unlängst Verstorbenen darauf warteten, eingeäschert zu werden.
Während ihrer Führung durch das Unternehmen gleich an ihrem ersten Arbeitstag war ihr der Prozess der Einäscherung erklärt worden, und zwar viel detaillierter, als sie es eigentlich hatte wissen wollen. Trotz der Tatsache, dass sie nur als Aushilfe eingestellt worden war, die sich um die Buchhaltung zu kümmern hatte, ohne in Kontakt mit Kunden zu treten, schloss das offenbar nicht die Möglichkeit aus, genau in dieser Funktion einspringen zu müssen, wenn mal Not am Mann war. Holly betete inständig, dass es dazu niemals kommen möge, denn den Hinterbliebenen im Detail zu schildern, was den Verstorbenen hier alles erwartete, war das Letzte, was sie wollte. Das alles kam ihr sehr grausig vor.
Bis zu diesem Job hatte sich Holly nie allzu viel Gedanken über Einäscherungen gemacht, und wenn es doch einmal vorgekommen wäre, dann hätte sie angenommen, dass der Sarg in die Feuerstätte geschoben wurde, wo dann Flammen hochschossen und kurz darauf am anderen Ende eine hübsche Urne voll mit Asche herauskam. Weit gefehlt. Das alles dauerte sehr viel länger, als sie vermutet hatte. Obwohl Temperaturen von bis zu 1700 Grad Celsius erreicht wurden, konnte die Einäscherung zwei bis drei Stunden in Anspruch nehmen, und dabei kam am anderen Ende auch keine hübsche kleine, mit Asche gefüllte Urne heraus. Die Asche, die nicht nur aus Asche bestand, blieb in der Feuerstätte, um zunächst einmal abzukühlen. Dann kam ein Magnet zum Einsatz, der alles Metall herausholte, von Zahnfüllungen bis hin zu Stiften. War die Asche erst mal abgekühlt, wurde sie mit einem Besen auf ein Blech gefegt, so als wären die sterblichen Überreste nur ein Haufen Staub auf dem Boden, der zusammengefegt werden musste. Die Überreste ließ man dann noch weiter abkühlen, ehe sie in einen Aufbereiter gegeben wurden, der auf Holly mehr wie eine Art Müllschlucker gewirkt hatte. Dort wurde alles – auch Knochen, die die Verbrennung mehr oder weniger heil überstanden hatten – zu einem feinen Staub zermahlen, der dann in die Urne gefüllt wurde, sofern eine bereitstand. Andernfalls wurde sie in eine Tüte gefüllt und in einen Karton gepackt, den die Familie abholen konnte.
»Gruselig«, dachte Holly, während sie durch die nächste Tür in einen kurzen Flur gelangte. Anstelle von gedämpfter Beleuchtung sorgten hier grelle Neonröhren für gleißendes Licht, das von den blass cremefarben gestrichenen Wänden zurückgeworfen wurde. Durch das Fehlen anderer Farben wirkte der Gang fast schon steril.
Holly blieb stehen und hielt beim Blick auf die Tür vor ihr inne, während das Summen der Neonröhren in ihren Ohren dröhnte. John Byron hatte die Schicht von 16:30 Uhr bis 00:30 Uhr und sollte jetzt noch anwesend sein, überlegte sie, als sie auf die Armbanduhr sah. Sie war ihm schon ein paar Mal begegnet, und auch wenn er etwas von einem Zyniker hatte und sich gern auf sarkastische Weise über sich selbst lustig machte, kam er ihr dennoch wie ein ganz netter Kerl vor. Sie rechnete nicht damit, dass er sich zu sehr über sie lustig machen würde, dennoch würde er von ihr bestimmt eine Erklärung erwarten, was sie so spät am Abend noch hier zu suchen hatte. Sie konnte nur hoffen, dass sie ihn allein antraf und dass Rick Mexler nicht schon seine Schicht begonnen hatte, die erst um 00:30 Uhr anfing. Da er somit um halb neun am Morgen Feierabend machte und sie nicht vor neun ins Büro kam, hatte sie ihn bislang noch nicht kennengelernt. Ihr war allerdings zu Ohren gekommen, dass er angeblich ein mürrischer Zeitgenosse war, der andere Leute nicht leiden konnte. Mit so jemandem wollte sie sich jetzt nun wirklich nicht herumschlagen müssen, deshalb erschrak sie, als sie die Tür zum Krematorium öffnete und zwei Männerstimmen hörte.
Das Krematorium an sich war ein langer rechteckiger Raum, der jedoch eine L-Form aufwies, weil sich links von der Tür der Kühlraum befand, der eine Fläche von gut zehn mal zehn Metern einnahm. Die Feuerstätten entlang der linken Wand waren durch den Kühlraum verdeckt, sodass sie auch nicht sehen konnte, mit wem sich John unterhielt, da die Stimmen der beiden von den Feuerstätten kamen. Holly ging aber davon aus, dass es sich um Rick handelte.
Als sie weiterging, sah sie, dass das Rolltor zum Kühlraum offen stand, das in etwa so groß war wie ein Garagentor. Im Kühlraum standen verschiedene Särge in den breiten Regalen. Zwei Särge waren aus stabilem Karton, zwei weitere Särge waren aus billigem Holz, daneben fanden sich aber auch drei teure Eichensärge. Holly fiel auf, dass der kleine Gabelstapler vor dem offenen Tor stand, so als hätte John einen Sarg herausholen wollen, wäre dann aber durch Ricks Ankunft davon abgehalten worden.
Holly wandte den Blick vom Kühlraum ab und versuchte, nicht über die Menschen nachzudenken, die dort in ihren Särgen lagen … und auch nicht darüber, was mit jedem von ihnen geschehen würde. Sie hatte fast die Ecke erreicht, da fiel ihr auf, dass keine von beiden Stimmen nach der von John Byron klang. War er schon nach Hause gegangen? Und falls ja, mit wem unterhielt sich dann Rick Mexler? Sie ging langsamer und blieb so vor der Ecke stehen, dass sie die Unterhaltung belauschen konnte, ohne von den Männern gesehen zu werden.
Justin Bricker schob die Trage, auf der tote Abtrünnige gestapelt lagen, vor die Feuerstätte. Nachdem er die Räder blockiert hatte, um ein Wegrollen der Trage zu verhindern, sah er zu Anders, der heute Nacht sein Partner war.
Mit den dunklen Haaren, der dunklen Haut und der schwarzen Lederkleidung wirkte er in dem fast schneeweißen Raum wie ein Schatten. Er beugte sich gerade über den Krematoriumsmitarbeiter, der in einer Ecke stand. Der Sterbliche, der ihnen auf ihr Klopfen hin die Hintertür zum Gebäude geöffnet hatte, wirkte in diesem Augenblick wie ein ungezogener Schuljunge, der von seinem erzürnten Lehrer bestraft worden war. Es fehlte nur das trotzige Gesicht eines Kindes, stattdessen starrte der Mann völlig ausdruckslos vor sich hin, während Anders damit befasst war, ihm die Erinnerung an ihren Besuch zu nehmen und dafür zu sorgen, dass er in der Ecke blieb und ihnen nicht im Weg stand.
Als Anders sich entspannte und auf Justin zukam, zog der die Augenbrauen hoch. »Alles in Ordnung?«
Anders nickte. »Aber wir müssen uns beeilen. Seine Schicht endet in einer Viertelstunde, also dürfte seine Ablösung in Kürze hier auftauchen.«
»Kein Problem. Bis dahin sind wir längst wieder hier raus. So leicht entflammbar, wie wir es nun mal sind, werden diese Typen innerhalb von Minuten zu Staub zerfallen.« Justin öffnete die Tür zur Feuerstätte und stieß einen anerkennenden Pfiff aus, als ihm ein Schwall heißer Luft entgegenkam. Er schaute zu Anders, der sich soeben zu ihm stellte. »Und? Womit hast du dir Lucians Zorn zugezogen?«
Anstatt zu antworten, fragte Anders: »Wie kommst du auf die Idee, ich könnte ihn verärgert haben?«
Justin grinste ihn breit an. »Weil ich das gemacht habe und zur Strafe jetzt den Müll hier wegschaffen darf. Also nehme ich an, dass wir beide im selben Boot sitzen.«
Anders brummte nur vage und zog den obersten Leichnam vom Stapel, um ihn in die Feuerstätte zu schieben.
»Na, komm schon«, hakte Justin nach, während die Flammen in der Feuerstätte den toten Abtrünnigen erfassten, der so schnell zu lodern begann, als wäre er aus trockenem Stroh. »Irgendwas musst du angestellt haben.«
Anders sah ihm zu, wie er den nächsten Toten folgen ließ. Schließlich gestand er. »Könnte sein, dass ich ihn damit aufgezogen habe, dass er zu Hause so viele Mahlzeiten verpasst, seit Leigh zur Vegetarierin geworden ist.«
»Darüber dürfte er sich eigentlich nicht aufregen«, meinte Justin verwundert. »Es sei denn … Leigh war dabei.«
Er verzog den Mund und griff nach dem nächsten Leichnam. »Dummerweise betrat Leigh gerade das Zimmer, als ich das zu ihm sagte. Ich fürchte, sie hat es mitbekommen.«
»Oh«, bemerkte Justin mitfühlend. Er wusste, Anders hätte so was nicht gesagt, um der Frau vorsätzlich wehzutun. Keiner der Jäger würde das tun, denn Leigh war eine gute Frau, die von allen gemocht wurde. »Ja, ich möchte wetten … Pass auf, der Kopf!«
Anders erstarrte mitten in der Bewegung und hielt den Toten fest, den er erst halb von der Bahre gezogen hatte, doch es war schon zu spät. Der Kopf hatte sich gelöst und rollte über die Kante. Justin versuchte noch, danach zu greifen, aber er war nicht schnell genug. Der Kopf landete mit einem schmatzenden Geräusch auf dem Boden.
Beide Männer standen da und sahen sich die Bescherung an, schließlich deutete Anders mit einem Nicken auf den Angestellten und murmelte: »Ich schätze, wir können ihn wohl nicht dazu kriegen, das wegzumachen, wie?«
»Das schätzt du ganz richtig. Es wäre schwierig, das so aus seiner Erinnerung zu löschen, dass es auch gelöscht bleibt«, bestätigte Justin amüsiert und sah zu, wie Anders den Kopf an den langen Haaren packte und in die Feuerstätte schleuderte. Er rollte wie eine Bowlingkugel mit Schlagseite, bis er vom Feuer erfasst wurde und explosionsartig in Flammen aufging. »Trocken wie Zunder«, murmelte er.
»Ja, wir sind schon verdammt leicht entflammbar«, stimmte Anders ihm zu.
»Wahrscheinlich macht uns das zu so heißen Typen«, kommentierte Justin und lachte über seinen eigenen Witz. Er brachte sogar Anders zum Lachen, der den nächsten Toten in die Feuerstätte schob. Anders war nicht gerade als humorvoll verschrien, daher war ein Lächeln von ihm gleichzusetzen mit dem schallenden Gelächter, in das jeder andere ausgebrochen wäre.
Ein leises Rascheln und ein Stöhnen lenkte plötzlich Justins Aufmerksamkeit auf eine kleine, rundliche Frau, die an der Ecke des Kühlraums stand. Ihr pechschwarzes Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel, bildete einen deutlichen Kontrast zu ihrem beigefarbenen Trenchcoat. Mit einer Hand stützte sie sich an der Wand des Kühlraums ab, als müsse sie irgendwo Halt finden, um nicht zu Boden zu sinken. Ihr Gesicht wies einen deutlichen Grünton auf, während ihr Blick auf die Lache gerichtet war, die von dem runtergefallenen Kopf verursacht worden war. Justin war sich sicher, dass sie den ganzen Vorfall mit angesehen hatte – zweifelsohne ein erschreckender Anblick für jeden, der den Umgang mit Toten nicht gewöhnt war. Er selbst musste in unregelmäßigen Abständen diesen Job hier erledigen, und sogar er konnte das nicht völlig auf die leichte Schulter nehmen.
Langsam wanderte ihr Blick zu ihm und Anders weiter, und Justin fiel auf, dass die Frau wunderschöne, blassblaue Augen hatte, dazu sinnliche, volle Lippen, die förmlich danach schrien, geküsst zu werden, sowie eine absolut süße Stupsnase. Erst dann wurde ihm bewusst, dass sie ihn und Anders voller Entsetzen anstarrte.
»Ich muss den Boden wischen, also kümmer du dich um unsere Zuschauerin«, sagte Anders mürrisch.
»Herzlichen Dank«, gab Justin sarkastisch zurück, aber in Wahrheit hatte er nichts dagegen. Er mochte Frauen, er hatte sie schon immer gemocht, und die hier war ein besonders reizendes Exemplar. Nur schade, dass er mit ihr nicht mehr anfangen konnte, als ihr Gedächtnis zu löschen. Wenn er sie erst einmal kontrolliert und ihre Erinnerungen an den Vorfall hier ausradiert hatte, musste er jeden weiteren Kontakt mit ihr vermeiden, da sonst diese Erinnerungen wieder an die Oberfläche kommen konnten. Na ja, es gab noch genügend andere Frauen, sagte er sich und richtete den Blick auf ihre Stirn, um in ihre Gedanken einzudringen.
»Und?«, fragte Anders nach ein paar Sekunden. »Worauf wartest du? Nun kontrollier sie schon.«
Justin kniff die Augen zusammen. Verwirrung überkam ihn, und er antwortete leise: »Ich kann nicht.«
»Was?« Anders sah ihn verdutzt an.
»Ich kann sie nicht lesen«, erklärte er und konnte selbst kaum glauben, was er da sagte. Ihre Gedanken waren für ihn überhaupt nicht existent.
»Im Ernst?«
»Im Ernst«, versicherte Justin ihm und bemerkte, dass seine Stimme genauso benommen klang, wie er sich fühlte. Verdammt, er konnte sie nicht lesen. Das hieß …
»Tja, dann würde ich an deiner Stelle dafür sorgen, dass sie dir nicht entwischt«, schlug Anders vor. Als Bricker ihn nur entgeistert anstarrte, zeigte er auf die Stelle, an der die Frau gerade eben noch gestanden hatte. »Sie hat die Flucht angetreten«, machte er ihm klar.
Das Geräusch einer zufallenden Tür verriet ihm, dass Anders recht hatte, noch bevor er sich selbst davon überzeugen konnte, dass sie sich nicht länger in diesem Raum befand. Fluchend rannte Justin los. Es sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn er zuließ, dass die Frau ihm entwischte … und das nicht nur wegen der Dinge, die sie beobachtet hatte. Er konnte sie nicht lesen, also war sie möglicherweise seine Lebensgefährtin. In so jungen Jahren eine Lebensgefährtin zu finden kam extrem selten vor. Wenn er sie aus den Augen verlor, würde es wahrscheinlich einige Jahrhunderte dauern, ehe ihm die nächste mögliche Lebensgefährtin über den Weg lief. Vielleicht sogar Jahrtausende, und so lange wollte Justin nun wirklich nicht warten, um die Erfahrungen zu machen, die man nur mit einer Lebensgefährtin machen konnte.
Sie war schnell, wie er voller Bewunderung bemerkte, als er den Flur erreichte und sah, wie sie bereits durch die nächste Tür entwischte. Allerdings war Panik auch eine verdammt wirkungsvolle Motivation, und es gab keinen Zweifel daran, dass sie über das in Panik geraten war, was sie beobachtet hatte.
Diese Erkenntnis brachte ihn zum Grübeln, während er weiter hinter ihr herlief. Wenn er sie einholte, würde er vieles erklären müssen. Und er würde sie beruhigen müssen, ehe er ihr klarmachen konnte, dass er kein Mörder war, der hier seine Opfer entsorgte. Und das alles würde er tun müssen, ohne ihre Gedanken kontrollieren zu können. Das dürfte interessant werden, überlegte er missmutig. Diese Bedenken bewirkten, dass er nicht annähernd so schnell lief, wie es ihm eigentlich möglich gewesen wäre. Er wollte in dem Moment eine Erklärung liefern können, wenn er sie einholte. Er wollte es gleich beim ersten Anlauf richtig machen, sie schnell besänftigen und ihr Vertrauen gewinnen. Wenn sie vor ihm Angst hatte oder ihm misstraute, konnte er sie nicht davon überzeugen, dass sie seine Lebensgefährtin war. Die richtigen Worte waren hier von entscheidender Bedeutung.
Nur hatte Justin nicht die geringste Ahnung, welche Worte die richtigen waren. Gleichzeitig lief ihm die Zeit davon. Es erschien ihm ratsam, sie aufzuhalten, noch bevor sie das Gebäude verlassen konnte. Sie rannte bereits durch den letzten Korridor vor dem Ausgang, vorbei an den Kapellen und den Urnenhallen. Er gab es auf, sich weiter Gedanken zu machen, legte einen Sprint ein und bekam die Frau am Arm zu fassen, gerade als sie die letzte Tür erreichte. Als er sie zu sich umdrehte, holte sie mit der freien Hand aus. Justin rechnete mit schwächlicher, mädchenhafter Gegenwehr, deshalb reagierte er zuerst nicht. Die Schere, die sie in ihrer Hand hielt, bemerkte er dadurch erst in dem Augenblick, als sie dazu ansetzte, ihm die Kehle aufzuschlitzen.
Justin schnappte nach Luft und ließ den Arm der Frau los, als er einen stechenden Schmerz spürte. Blut spritzte auf ihren Trenchcoat und lief ihm über den Hals, doch die geringe Menge machte sofort deutlich, dass es keine tiefe Wunde war. Die Attacke hatte ihn genau genommen auch mehr überrascht als ernsthaft verletzt. Dennoch hielt seine Verwunderung lange genug an, um ihr Gelegenheit zu geben, die Tür aufzureißen und nach draußen zu laufen. Fluchend nahm er die Verfolgung auf und ignorierte das Brennen am Hals.
Die Frau – seine Frau – schaute über die Schulter, als sie hörte, wie hinter ihr die Tür aufging. Justin kniff die Lippen zusammen, als er ihre vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen sah. So viel zu dem Thema, ihr Vertrauen zu gewinnen. Ungewollt kam ihm ein Aufschrei über die Lippen, als er sie stolpern und das Gleichgewicht verlieren sah. Sie hatte nicht darauf geachtet, wohin sie lief, und dadurch hatte sie die Stufe übersehen, wodurch sie den Halt verlor und auf dem Gesicht landete. Es war kein schwerer Sturz, deshalb rechnete Justin damit, dass sie gleich wieder aufspringen und weiterrennen würde. Doch sie blieb reglos liegen und rührte sich auch dann noch nicht, als er neben ihr stand.
Besorgt darüber, dass sie keinerlei Regung zeigte, hockte er sich hin und drehte sie um. An der Stirn entdeckte er eine Platzwunde, also musste sie beim Hinfallen auf die Steinplatten aufgeschlagen sein. Es war keine ernsthafte Platzwunde, wie er erleichtert zur Kenntnis nahm. Aber gleich darauf verwandelte sich seine Erleichterung in Entsetzen, als er sah, dass sich die Schere in ihre Brust gebohrt hatte. Noch während er zu erkennen versuchte, wie tief die Schere eingedrungen war, schlug die Frau die Augen auf und sah ihn voller Schmerz und Angst an. Aber es war nicht länger Angst vor ihm, sondern eine andere Art von Angst: Angst um ihr Leben. Das Schlimmste daran war, dass Justin genauso um ihr Leben fürchtete wie sie selbst. Es sah gar nicht gut aus.
»Hat deine Mutter dir nie gesagt, dass man nicht mit einer Schere in der Hand durch die Gegend rennt?«, raunte er ihr zu und öffnete ihren Mantel, unter dem ein rosa Pyjama mit weißen Häschen darauf zum Vorschein kam. Dieser Anblick war so unerwartet, dass er sie einen Moment lang nur anstarrte. Dann aber fiel ihm auf, dass sich um die Einstichstelle herum immer mehr weiße Hasen blutrot verfärbten. So schnell, wie das Blut aus der Wunde austrat, war er sich sicher, dass allein die Schere verhinderte, dass eine regelrechte Fontäne aus ihr herausschoss. Es sah nach einer tödlichen Verletzung aus. Er würde seine Lebensgefährtin verlieren, noch bevor er auch nur ihren Namen erfahren hatte.
»Zum Teufel«, murmelte er, schob seinen Ärmel hoch und trieb die Fangzähne, die soeben zum Vorschein gekommen waren, in sein Handgelenk. Nein, er würde sie nicht verlieren.