Über den Autor
Akram El-Bahay hat seine Leidenschaft, das Schreiben, zum Beruf gemacht: Er arbeitet als Journalist und Autor. Als Kind eines ägyptischen Vaters und einer deutschen Mutter ist er mit Einflüssen aus zwei Kulturkreisen aufgewachsen. Dies spiegelt sich auch in seiner Flammenwüste-Trilogie wider: klassische Fantasy-Geschichten um Drachen und Magie, die ebenso sehr an den »Herrn der Ringe« wie an orientalische Märchen erinnern. Seine Romane waren für mehrere Preise nominiert, er gewann u.a. den Seraph-Literaturpreis für das beste Fantasy-Debüt des Jahres. Der Autor schreibt zurzeit an einer neuen Trilogie.
AKRAM EL-BAHAY
Flammenwüste
DER FEUERLOSE DRACHE
ROMAN
Aus der Bibliothek
der ungeschriebenen Bücher
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Jan Wielpütz, Bergisch Gladbach
Titelillustration: © Byzwa Dher
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-2331-3
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Lilly
Es war, als blickte Shalia* durch milchiges Glas. Das Bild vor ihren Augen war seltsam verschwommen. Sie gehorchten ihr ebenso wenig wie der Rest ihres Körpers. Shalia schien gefesselt, obwohl es keinen Strick gab, der sie band. Wie lang hatte sie geschlafen? Sie wusste es nicht. Manchmal war es, als träumte sie. Doch wenn ihr Geist wieder erwachte, fühlte sie den Anderen. Den, der von ihrem Körper Besitz ergriffen hatte und mit ihr darum stritt.
Shalia saß auf einem steinernen Thron in einem Raum, groß wie der Audienzsaal eines Palastes. Die Decke war nach oben hin gewölbt, und in ihrer Spitze musste ein Loch klaffen, durch das die Sonne hereinschien. Es musste bereits Abend sein, denn das fahle Licht vermochte die Schatten, die um Shalia herum nisteten, kaum zu vertreiben.
Der Andere blickte sich um, und Shalia sah, was er sah. Kupferne Wände, an denen sich Vorsprünge vom Boden bis hinauf an die Decke zogen. Jeder beherbergte zahlreiche Kammern, und in ihnen standen und lagen mehr Drachen, als sie zählen konnte. Shalia hätte sie selbst dann wahrgenommen, wenn der Andere die Augen geschlossen hätte. Sie kannte Drachen, seit sie ein Kind war, und der Flammengeruch, der ihnen stets am Leib haftete, lag schwer in der Luft. Einige der feuerspeienden Wesen rührten sich nicht, als schliefen sie. Andere aber zuckten ungeduldig in ihren Kammern, scheinbar bereit, sich jeden Moment in die Luft zu schwingen.
Shalia glaubte, die Wut der Drachen wie ein Prickeln auf der Haut zu spüren. Sie wusste, an welchem Ort sie war, ohne dass jemand ihn beim Namen nennen musste. Sie hatte von ihm gehört, auch wenn die Drachen in dieser Erzählung aus Stein gewesen waren. Der Thronsaal von Mât.
»Du bist wach«, hörte sie den Anderen mit ihrer eigenen Stimme sagen. Wie fremd sie klang. So kalt und rau. Als gehörte sie einem Menschen ohne Herz – Nyan, dem dunklen Magier. Der Mann, der die Jahrhunderte als Rachegeist überdauert hatte. Der Mann, der als Ifrit einen tückischen Wunsch hatte erfüllen müssen und so zuletzt wieder einen menschlichen Körper angenommen hatte. Ihren Körper.
Es waren nur wenige Wochen vergangen, seit sie in dieses Abenteuer gezogen worden war. Anûr, der als Chronist mit dem Sultan von Nabija auf Drachenjagd gegangen war, hatte sie in der Wüste vor einer leichenfressenden Ghoula gerettet. Und Shalia hatte ihn im Gegenzug befreit, nachdem die Soldaten des Sultans Anûr zu Unrecht als Verräter festgenommen hatten. Vielleicht hatten sie sich schon in diesem Moment ineinander verliebt, sie wusste es nicht. Ihre Gefühle füreinander hatten sie erst später entdeckt. Sie waren gemeinsam mit dem Magier Fis bis in die sagenhafte Bibliothek der ungeschriebenen Bücher gereist, die im Herzen der Wüste von den Sammlern gehütet wurde, den kleingewachsenen Angehörigen eines seltsamen Wüstenvolks, dessen hauptsächliche Beschäftigungen Horten und Tauschen waren. An diesem Ort hatte Anûr einen Brief aus der Vergangenheit erhalten. Der Magier Schakschuka hatte ihm darin die Aufgabe übertragen, das erste aller Worte, hinter dem der seit Jahrhunderten totgeglaubte Magier Nyan her war, zu schützen. Shalia hatte Anûr daraufhin nach Nabatea, die Stadt der Drachenwächter, gebracht. Sie war als Mensch bei den Drachenwächtern aufgewachsen und hatte das Risiko auf sich genommen, gegen eines der wichtigsten Gesetze der Nori, wie sich die Drachenwächter nannten, zu verstoßen, indem sie Fremde in die geheime Stadt brachte. Dort war Anûr auf Meno, den schwarzen Drachen getroffen. Und zur Überraschung aller hatte sich ausgerechnet der so wenig heldenhafte Geschichtenerzähler als Gefährte des Drachen und derjenige herausgestellt, der Menos stille Stimme verstand. Meno und Anûr hatten einige Zeit gebraucht, um zueinander zu finden. Aber zuletzt hatten sie mit der Hilfe von Shalia, Fis und dem Sammler Hadukaba den Diener Nyans, den verräterischen Drachenwächter Sarraka, aufgehalten, der das erste aller Worte fast in Händen gehalten hätte. Der Ifrit, der an Sarrakas Seite gewesen war, hatte es beinahe ausgesprochen. Danach war es verschwunden, und Anûr hatte sich mit Meno auf die Suche danach gemacht. Sie hatten sich über Umwege in Hambar wiedergetroffen, wo sie das erste aller Worte gefunden hatten, kurz vor Sarrakas Angriff auf die Stadt. Shalia hatte an jenem Tag versuchen wollen, Anûr zu helfen. Doch als sie ihn gefunden hatte, hatte etwas von ihr Besitz ergriffen. Sarrakas Ifrit, das hatte Shalia später erfahren, war niemand anders als der totgeglaubte Magier Nyan gewesen, dessen Geist sich einst so sehr mit dem Wunsch nach Rache verwoben hatte, dass nicht einmal der Tod dieses Band hatte durchtrennen können. Anûr war zum Herrn des Ifriten geworden und hatte dem Geist befohlen, einen menschlichen Körper anzunehmen. Nur so hätte Nyan getötet werden können. Es war ein unglückbringender Wunsch gewesen, denn der Körper, den er gewählt hatte, war der von Shalia gewesen. In einem dramatischen Kampf hatte Nyan das erste aller Worte, das in einer der sagenhaften Schwarzen Perlen steckte, an sich genommen und war auf dem Rücken des mächtigen Drachen Mînthal geflohen. Er war zurückgekehrt in seine Festungsstadt Mât. Und nun bereitete er sich auf den Kampf vor, denn Shalias Verbündete, die Drachen und ihre Wächter, waren offenbar auf dem Weg, Nyan anzugreifen.
Shalia würde ebenfalls kämpfen und den Anderen aus ihrem Körper vertreiben. Zwei Seelen in einem Körper war eine zuviel.
Shalia versuchte, ihre Zunge unter Kontrolle zu bringen, doch der Andere war stärker. Wieder einmal.
»Siehst du die Drachen?«, hörte sie Nyan fragen. »Sie sind erwacht. Endlich. Jeder Drache, dessen steinerner Körper unversehrt ist, vermag aufgeweckt zu werden. Doch es bedarf einer großen Anstrengung. Und des richtigen Feuers. Du weißt, wie deine Nori-Freunde sie nennen?«
Woher wusste er, dass sie zu den Drachenwächtern gehörte? Shalia fühlte, wie der Andere den Mund zu einem Lächeln verzog, ihren Mund, während zwei der Drachen aus dem untersten Vorsprung auf den steinernen Boden des Thronsaals traten und einander anfauchten.
»Deine Erinnerungen sind leicht zu lesen, wenn du schläfst«, hörte sie den Anderen sagen, als hätte der ihr auch die Frage aus dem Kopf gelesen. »Menschen-Kind und Nori-Tochter. In welche Welt gehörst du? In beide oder keine? Wie nennen die Nori also meine Drachen?«
»Die Gefallenen«, antwortete Shalia, als Nyan ihr gestattete, die eigene Zunge wieder zu nutzen.
»Die Gefallenen«, wiederholte Nyan. »Kein passender Name, wie ich finde. Und wie heißen die Drachenwächter, die auf meiner Seite stehen?«
Wieder gab Nyan ihre Zunge frei. »Die Verlorenen«, sagte sie. Sie wollte ihm nicht antworten, doch sie musste das Gefühl für ihren Körper zurückerlangen, und wollte jede Gelegenheit dazu nutzen, die Nyan ihr bot. Den Namen hatten die Nori aus Nabatea ihren Brüdern und Schwestern gegeben, die sich vor vielen Jahrhunderten Nyan angeschlossen hatten. Für Shalia hatten die Verlorenen immer nur in Geschichten existiert. Doch die Nori wurden alt. Sehr alt. Und viele von ihnen erinnerten sich noch an jeden, den sie an den dunklen Magier verloren hatten.
Sie hörte ihr eigenes, fremdes Lachen. »Gefallen und verloren. So also sehen deine Nori-Freunde die Dinge. Du weißt, dass sie alle einmal auf meiner Seite standen. Damals, vor vielen Jahrhunderten. Heute gehen diejenigen fehl, die gegen mich stehen. Denn wir sind es, die die neue Ordnung schaffen, und sie sind die eigentlich Verlorenen.«
Auf seinen Wink hin wichen die beiden Drachen voneinander zurück. Sie waren verhältnismäßig klein, kaum doppelt so groß wie ein Mensch. Doch weniger tödlich als die großen Exemplare waren sie deswegen nicht. Ein Stoß des Feuers, das in ihnen loderte, konnte leicht dutzenden Männern das Leben aus dem Körper brennen.
»Die Nori, die meinem Ruf gefolgt sind, glauben, dass die Drachen herrschen sollten«, fuhr Nyan fort. »Sie wissen jedoch, dass dies nur in einer Welt möglich ist, die meinem Willen gehorcht.« Der Andere senkte seine Stimme, als wollte er nicht, dass die Drachen ihn hörten. »Sie sind nützlich. Mächtige Waffen in einem Krieg. Ihr Feuer wird die Welt reinigen. Doch herrschen werde nur ich.«
Es gelang Shalia für einen kurzen Moment den Mund angewidert zu verziehen. Nyan nutzte die Drachen ebenso wie ihre Wächter nur aus. Wenn sie doch nur sprechen könnte. Vielleicht könnte sie seine unwissenden Diener so gegen ihn aufbringen. Doch dazu reichte ihre Kraft nicht. Wenigstens noch nicht.
Am anderen Ende des Thronsaals öffnete sich ein Tor, und der Andere wandte den Kopf. Das Wesen, das hindurchschlüpfte, war gestaltgewordene Dunkelheit. Sein Körper floss an den Drachen entlang, und die Woge aus Kälte, die es vor sich her trieb, durchdrang Shalia wie der Wind in einer eisigen Wüstennacht. Selbst die Drachen, die bislang so unruhig gewesen waren, hielten mit einem Mal inne und blickten dem Wesen angespannt nach.
Die Schattenkönigin war zweigestalt. Frau und Geist. Albtraum und Wirklichkeit. Ihr Gesicht war das einer Alten, in dem zu viele Jahre ihre Spuren hinterlassen hatten. Doch ihr Leib war nichts anderes als Furcht. Wie alle Schatten war sie ein Wesen, das aus der Angst der Menschen selbst heraus geboren war. Eine Armlänge vor Nyan blieb sie stehen und beugte ihr Haupt.
»Sprich«, hörte Shalia den Anderen befehlen.
»Sie sind bereit«, zischte das Wesen mit einer Stimme, die Shalia so schrecklich bekannt war. Sie war der Schattenkönigin bereits zuvor begegnet. Mehr als einmal.
»Die Schatten warten, Herr. Und die Nori haben Schwierigkeiten, die Jäger in den Kammern in der Erde ruhig zu halten.«
Nyan nickte. »Es ist erstaunlich, wie ähnlich sie den echten Drachen sind. Meine Züchtungen spüren, dass der Feind kommt. Was ist mit meiner neuen Schöpfung?« Seine Stimme war mit einem Mal beinahe zärtlich geworden.
Die Schattenkönigin zögerte für einen kurzen Augenblick. »Es muss noch geboren werden, Herr«, antwortete sie dann. »Die Nori haben die erste Muwallad zu früh aus der Haut gezogen, in der sie gewachsen ist. Ihre eigene war noch nicht hart genug.« Die Schattenkönigin hatte ihren Blick wieder erhoben, und Shalia sah in Augen, in denen sich Angst und Wahnsinn mischten.
Wovon sprach sie? Shalia hatte noch nie von einer Muwallad gehört. Ein neuer Drache? Nyan hatte es den Geschichten nach, die sie kannte, bereits vor Jahrhunderten während des ersten großen Drachenkriegs geschafft, Wesen zu züchten, die den echten Drachen glichen. Jäger und Späher. Shalia selbst hatte gegen einige von ihnen gekämpft. Im Gegensatz zu den wahren Drachen mussten diese Wesen eine Klinge oder einen Pfeil fürchten. Das war aber auch das einzig Gute an ihnen.
Nyan lachte. »Drachenzucht ist eine blutige Angelegenheit. Es braucht viel Magie, um Fleisch und Feuer aneinander zu binden. Noch einen Rückschlag toleriere ich nicht. Ich brauche eine Muwallad, wenn der Feind kommt.«
»Wann erwartet Ihr den Angriff, Herr?« Die Augen der Schattenkönigin suchten in Nyans Gesicht, in Shalias Gesicht, nach der Antwort.
Shalia hätte sich am liebsten abgewandt. Sie glaubte, mit jeder Sekunde einen Teil ihres Verstandes in den tiefschwarzen Augen zu verlieren. Doch der Andere hielt dem entsetzlichen Blick mühelos stand.
»Zu früh.« Nyan erhob sich, und der Schmerz in ihrer Brust traf Shalia unvorbereitet. Seit der Flucht aus Hambar hatte sie meist geschlafen, und die wenigen wachen Momente waren ihr wie ein böser Traum vorgekommen. Doch sie erinnerte sich noch gut an die letzten Augenblicke, ehe sie zum ersten Mal eingeschlafen war, nachdem der Andere ihren Körper in Besitz genommen hatte. Und an den Moment, in dem das Schwert eines der Nori Nyan und damit auch sie beinahe getötet hätte. Erst später hatte sie von dem dunklen Magier erfahren, dass Anûr seinen tückischen Wunsch nicht nur ausgesprochen hatte, um seinen Gegner töten zu können. Er hatte ihn auch aus Eifersucht ausgesprochen, um den Sultan von Hambar loszuwerden, der versucht hatte, Shalia zu verführen. Denn es war der Sultan gewesen, in dessen Körper Anûr seinen Feind hatte sperren wollen. Dabei hätte Anûr niemals fürchten müssen, sie zu verlieren. Die Liebe, die sie aneinanderband, war zu stark. Sie sah ihn noch immer vor sich. Wie verloren er dagestanden hatte. Fast glaubte sie noch einmal auf der Spitze des Turms von Hambar zu stehen. Das Auge des Wassergeists, das sie ihm zugeworfen, und der Hieb, der beinahe ihr Herz zerschnitten hatte.
Für einen Moment hatte sie ein wenig Kontrolle über den gemeinsamen Körper. Vielleicht war Nyan abgelenkt und dachte an die Schlacht, die kommen würde. Shalia senkte den Blick. Die Wunde, die ihr den Schmerz bereitete, wurde von dem Gewand verdeckt, das sie schon in Hambar getragen hatte. Ihr eigenes Blut hatte ein Muster darauf hinterlassen. Shalia strich über den Stoff und tastete über die Schwarze Perle auf ihrer Haut, die an einer Kette um ihren Hals hing. Das Auge eines Marids. Nach dem Tod eines Wassergeistes wurden sie hart wie Stein. Das Gegenstück dieses bestimmten Auges besaß Anûr. Sie selbst hatte es ihm im letzten Moment ihres Zusammenseins gegeben, damit er sie finden konnte. Die Schwarzen Perlen umgab ein einzigartiger Zauber. Zwei Augen desselben Marids waren miteinander verbunden. Derjenige, der in eines von ihnen sah, erkannte, was das andere erblickte. Wenigstens einmal. Es hieß, die Schwarzen Perlen würden ihre Magie verlieren, sobald jemand den Zauber nutzte und in das Marid-Auge hineinsah. Doch an dem dunklen Stein, den sie um den Hals trug, war noch weit mehr als nur der Zauber eines Marids. In ihm befand sich das erste aller Worte. Der Ursprung aller Magie. Das Wort, das die Welt selbst erschaffen hatte und dessen Echo allen Magiern die Fähigkeit verlieh, Zauber wirken zu lassen. Schon seit Jahrhunderten suchte Nyan nach diesem Wort, um es auszusprechen und der mächtigste Magier zu werden. In Hambar hatte Nyan das Marid-Auge, in dem es steckte, in seinen Besitz gebracht und eingesteckt. Doch zurück in Mât hatte er es sich um den Hals gehängt, als wollte er das erste aller Worte ständig auf der Haut fühlen.
Dass er noch nicht versucht hatte, es auszusprechen, lag vermutlich allein daran, dass er noch zu geschwächt war, seit er Shalias Körper in Besitz genommen hatte.
Shalia griff die Kette um ihren Hals. Die Schwarze Perle durfte nicht unter dem Kleid verborgen bleiben, wenn Anûr sehen sollte, wo sie war. Denn er würde hineinsehen. Das wusste sie. Wenn er nicht sogar längst ahnte, wo sie war. Shalia nahm alle Kraft, über die ihr Geist verfügte, zusammen und zwang ihre Finger an der Kette um ihren Hals zu ziehen. Mit einem Ruck holte sie das Auge des Marids hervor. Der Stein schabte über verkrustetes Blut und berührte den Schnitt, der noch nicht wieder verheilt war. Der Schmerz ließ sie beide zusammenzucken. Sie und Nyan.
»Du bist stark«, hörte sie ihn sagen, während er die Hand fort von der Schwarzen Perle zwang. Plötzlich trübte sich ihr Blick, als wäre Nebel aufgezogen, und sie wurde müde. So entsetzlich müde.
»Das erste aller Worte sollte dich nicht interessieren. Es ist zu mächtig für einfache Menschen.«
Das Wort. Als ob es ihr darum ging, einen Blick in die Schwarze Perle zu werfen, um das Wort darin zu sehen. Sie wollte doch nur, dass Anûr sie fand. Dass das Schmuckstück um ihren Hals zwei Geheimnisse barg, schien Nyan nicht zu begreifen. Vielleicht wusste er nichts vom Geheimnis der sehenden Augen. Oder er dachte in diesem Moment nicht daran, da all seine Gedanken sich nur um Krieg und Tod drehten.
Nyan übernahm wieder die Kontrolle. Er hob den Kopf, und Shalia sah ein Loch in der Decke, während sie versuchte, den Schlaf von sich fernzuhalten. Aus den Erzählungen von Sultan Masul wusste Shalia, dass der Thronsaal im Herzen eines ausgehöhlten Berges lag. Der Abendhimmel, der hindurchlugte, war grau von der Nacht, die sich bereits in ihn hineinmischte. Nyan schien zu lauschen, während Shalia gegen die Müdigkeit ankämpfte.
»Sie sind auf dem Weg«, hörte sie den Anderen sagen. »Macht alles bereit.« Und an Shalia gewandt flüsterte er: »Schlaf. Ich habe viel zu tun, Nori-Tochter.«
* Glossar am Ende des Buchs
Du sollst schlafen.
Schlafen. Anûr wusste nicht, wie oft Meno ihm das schon geraten hatte, seit sie aufgebrochen waren. Doch wie sollte er schlafen? Er hatte alles verloren. Und nun war er auf dem Weg, um sich alles zurückzuholen. Später haben wir genug Zeit, um uns auszuruhen, erwiderte er in der stillen Stimme, die nur Drachen und die verstanden, die mit ihnen verbunden waren.
Der Drachenrücken war nicht der angenehmste Platz für eine Reise, doch Anûr war schon so oft mit Meno geflogen, dass sich sein Körper längst daran gewöhnt hatte, über Stunden zwischen den Stacheln zu verharren. Anders als Fis. Für den Magier war es der erste Flug auf einem der feuerspeienden Wesen. Anûr hörte seinen Freund einmal mehr stöhnen, als er sich hinter ihm aufrichtete.
»Wie lange dauert es denn noch?«, fragte Fis müde, ohne die Augen zu öffnen. »Wir fliegen schon seit einer Ewigkeit. Wenn wir nicht aufpassen, verpassen wir unser Ziel und überqueren noch die Schneeberge.«
»Wir sind gerade einmal einen Tag unterwegs, und wenn ich mich nicht täusche, ist das dort erst Aleesch«, erwiderte Anûr. »Von den Schneebergen sind wir also noch weit entfernt.«
»Was? Wir sind zuhause?« Fis riss die Augen auf und beugte sich an Menos Seite hinunter.
Unter ihnen lag Fis’ Heimat. Im Licht der untergehenden Sonne schimmerte der Palmenwald, der die Stadt der Sa’alin umgab, inmitten der Wüste grün wie Jade, eingefasst in Sandstein. Die Menschen, die dort lebten, wurden die Wüstengärtner genannt. Es hieß, dass es kaum einen Flecken Wüste gab, den sie nicht begrünen konnten, wenn sie es wünschten.
Anûr erinnerte sich gerne daran, wie er das erste Mal ihre Stadt betreten hatte. Es waren lediglich wenige Wochen seither vergangen, doch es schien das Leben eines Anderen gewesen zu sein. Seines hatte sich längst in eine Geschichte verwandelt, in der er, der Erzähler, nun steckte. Er war zum Hüter eines uralten Zaubers geworden. Des ersten aller Worte. Obendrein war er nun der Gefährte eines Drachen und Besitzer eines Zauberstabs. Wie immer, wenn ihm seine eigene Geschichte wie eines der Märchen vorkam, die er und sein Großvater Nûr üblicherweise erzählten, strich er über die warme Drachenhaut. Es war einfacher, an alles zu glauben, wenn seine Finger es fühlten.
»Wir könnten dich kurz absetzen«, meinte Anûr leichthin und gähnte. Müde war er wirklich.
»Eine gute Idee«, meinte Fis. »Holt mich einfach ab, wenn ihr fertig mit Nyan seid. Ich hätte nichts dagegen. Obwohl ihr es ohne mich vermutlich nicht einmal in seine Nähe schaffen würdet.«
Anûr lächelte, trotz der Gefahr, in die sie sich begaben. Trotz der Niederlage, die sie erst kurze Zeit zuvor erlitten hatten. Das würden sie wohl tatsächlich nicht. Sie waren im Begriff, sich in die Höhle des Löwen zu wagen.
Anûr sah sich um. Hinter ihm flogen einige der anderen Drachen aus Nabatea, der Stadt der Drachenwächter, die gemeinsam mit ihnen aufgebrochen waren. Fünf Flügelpaare zerschnitten die Luft. Wenn sie sich mit denen zusammenschließen würden, die nicht weit von hier auf sie warteten, waren es fast vierzig. Kein Heer der Menschen könnte gegen sie bestehen. Doch ihr Feind war von anderer Art, gemacht aus Angst und Feuer.
Das Ziel ihres Fluges lag im Norden. Mât, die alte Festungsstadt, die sich um den Berg Kaf zog. Dort würden sie den dunklen Magier Nyan finden. Inmitten des ausgehöhlten Berges. Anûr hätte beinahe in die Schwarze Perle geblickt, um zu erkennen, wo sich Shalia befand.
Doch Meno hatte ihm abgeraten. Wohin sonst, außer nach Mât, sollte er gehen?, hatte der Drache gesagt. Nyan kennt keinen anderen Ort, an dem er gegen uns bestehen kann. Und tatsächlich hatte ein Drache, der ausgeschickt worden war, die alte Festungsstadt auszukundschaften, dort das Feuer des Drachen gerochen, auf dem Nyan in Shalias Körper entkommen war – das Feuer von Mînthal, Menos Bruder.
Nun also kam alles zu einem Ende, dachte Anûr. In Mât würden Drachen auf Drachen und Nori auf Nori treffen. Und drei Menschen würden versuchen Shalia zu retten. Anûr, Fis und der Sultan von Nabija. Anûr sah zu ihm hinüber. Masul ritt auf der Drachin Esna. Sie glitzerte wie ein Saphir in der aufziehenden Nacht. Masul war der Einzige unter ihnen, der je in Mât gewesen war. Er hatte darauf bestanden mitzukommen, obwohl er noch vor wenigen Tagen zu schwach gewesen war, um Hambar, die Stadt auf dem Roten See, eigenständig zu verlassen. Doch wenn sie heute versagten, würde es für sie alle kein Morgen geben. Dann war es gleich, ob sie kraftlos in die Schlacht gezogen waren oder nicht.
Neben Masul erkannte Anûr den Nori der Drachin. Es war der, der Nyan während der Schlacht über Hambar sein Schwert in den Leib geworfen hatte. In Shalias Leib. Sein Gewand war so schwarz wie Menos Haut. Hondo hieß er, soweit Anûr wusste. Der Name bedeutete bei den Nori Krieg. Wie passend. Der Drachenwächter gehörte ihrem Rat an. Noch jetzt war Anûr verblüfft darüber, wie selbstverständlich er in Hambar versucht hatte, Shalia zu töten. Er hatte nicht einmal gezögert, obwohl sie eine von ihnen war. Die Adoptivtochter des Nori-Oberhaupts Nonda. Doch Hondo hat nur den Feind in ihr gesehen, sagte sich Anûr. Nicht die, die gerettet werden muss. Der Nori würde Shalia töten, wenn er die Gelegenheit dazu bekam. Wenn Anûr sie retten wollte, musste er sie finden, ehe Esnas Nori oder einer der anderen die Gelegenheit bekam, Nyan vorzeitig ein Ende zu bereiten.
»Dort kann man die Häuser erkennen.« Fis riss Anûr aus seinen Gedanken.
Anûr folgte seinem Blick. Unter ihnen erstreckten sich die Zelthäuser der Wüstengärtner wie Blüten in einem Jasminstrauch. Es gab keinen friedlicheren Ort auf der Welt. Anûr versuchte diesen Moment in seinen Gedanken zu bewahren, doch nur einen Augenblick später hatten sie die Stadt Aleesch schon passiert, und die Wüste breitete sich unter ihnen aufs Neue aus. Anûr sah zu seinem Freund hinüber, der seiner Heimat wehmütig hinterherblickte und in seinem magischen goldenen Gewand wie der oberste Würdenträger eines fernen Landes aussah. Der Junge, der wie Anûr kaum neunzehn Jahre alt war, galt als der einzige Magier der Wüste. Nein, verbesserte sich Anûr. Es gab zwei. Fis und Nyan.
Die Sonne sank bald hinab, und in ihrem Licht schimmerte die Wüste so rot, als wären Rubinsplitter in den Sand gemischt. Oder als ob dort unten Feuer im Boden steckte.
Der schwarze Drache, wie Meno auch genannt wurde, schlug einige Male mit den Flügeln, und sie stiegen höher. Hoch genug, damit die Augen und Ohren ihrer Feinde sie nicht zu früh bemerkten. Es wurde schnell kalt, und Anûr zog sich sein braunes Gewand eng um den Körper. Hinter ihm begann Fis zu zittern.
Der Mond zeigte sich blass am Himmel und mischte den Drachen, die ihnen folgten, Silber auf die Körper. Jeder Drache und jeder Nori aus Nabatea war hier. Anûr erkannte mehr als nur einen Drachenwächter auf den Rücken der feuerspeienden Wesen. Doch immer nur einer von ihnen war der Gefährte des jeweiligen Drachen. Diese besondere Verbindung, die die Gefährten mit ihren Drachen eingehen konnten, galt als ein Geschenk in ihrem Volk. Keiner vermochte zu sagen, woher einige Nori diese Fähigkeit besaßen, ihre Gedanken mit denen der Drachen zu verknüpfen. Die Verbindung. Sie existiert mit der Geburt von beiden und endet mit dem Tod von einem. Esna, die Drachin, hatte Anûr einmal in diesen Worten erklärt, was es mit dem Band auf sich hatte, das zwischen Drachen und Gefährten bestand. Anûr war nach dem Magier Schakschuka, Menos erstem Gefährten, der zweite Mensch, der neben den Nori diese besondere Verbindung erfahren hatte.
Das Drachenheer erschien Anûr wie ein Schwarm riesiger Fische in einem nachtschwarzen Meer. Anûr hatte die anderen Drachen alle schon einmal gesehen. Doch nur wenige kannte er beim Namen. Gazira, der aufgeschlossen hatte und nun direkt neben ihnen flog, war einer von ihnen. Bis vor Kurzem hatte der rote Wüstendrache den Nori Usul getragen, ehe dieser auf einer Mission gegen Nyan gestorben war. Ein anderer Drachenwächter saß nun auf Gaziras Rücken. War der Drache dadurch geschwächt?
Er ist auch ohne seinen Gefährten ein guter Kämpfer, meinte Meno. Wie schon so oft schien er Anûrs Gedanken erraten zu haben. Das Band zwischen ihnen war offenbar noch enger als es sonst zwischen Drache und Gefährte der Fall war. Aber am stärksten ist ein Drache nur mit seinem Gefährten. Die Verbindung zwischen beiden geht über das hinaus, was wir beide bisher erfahren haben. Nach vielen gemeinsamen Jahren vermögen Drache und Gefährte diese Verbindung im Kampf zu vertiefen, bis der eine sieht, was der andere sieht. Der eine weiß, was der andere denkt. Der Wächter wird das Feuer des Drachen in sich fühlen, heiß genug ihn zu verbrennen. Und der Drache erfährt den Mut und die Besonnenheit seines Wächters, der damit das Feuer des Drachen zähmt, ehe es sie beide verschlingt. Kein Drache ist alleine so stark wie mit dem Nori, der mit ihm verbunden ist.
Anûr blickte den Schwarm der Drachen nachdenklich an, der ihnen folgte. »Wird es bei uns auch so sein, wenn wir gegen Nyans Drachen kämpfen?«, fragte er Meno.
Vielleicht. Mit Schakschuka, dem Magier, mit dem ich vor eintausend Jahren verbunden war, habe ich diesen Moment nie erlebt. Doch unsere Verbindung ist anders.
Ja, das war sie. Anûr wusste, wovon Meno sprach. Seit eine Ghoula, eine Leichenfresserin, einen verhängnisvollen Zauber gesprochen hatte, teilten sich beide Anûrs Leben. Wenn er starb, würde auch das Feuer des Drachen, dessen Jahre einst endlos waren, erlöschen. Es mochte sein, dass dieser Zauber das Band, das ohnehin zwischen ihnen bestand, noch einmal enger gezogen hatte.
»So oder so. Wir werden Nyans Drachen besiegen«, sagte Anûr entschieden, obwohl er keine Ahnung hatte, wie viele Gegner auf sie warteten. Nyan verfügte sicherlich über zahlreiche Jäger. Gezüchtete Drachen, die er schnell und in großer Zahl heranzog, um ihre vermeintliche Schwäche durch die Fülle wieder auszugleichen. Echten Drachen hatten Meno und Anûr bislang kaum gegenübergestanden. In Mât aber hatten viele der Drachen, die sich einst auf Nyans Seite geschlagen hatte, die Jahrhunderte versteinert überdauert. Und Anûr fürchtete, dass sie wieder erweckt worden waren.
*
Die Nacht war längst angebrochen, als weit entfernt der Schein vieler Feuer die Dunkelheit färbte.
Mât.
Der Name sprang in der stillen Stimme von einem zum anderen. Anûr spürte die Anspannung, die sich plötzlich über die Drachen und ihre Reiter legte, als wäre es seine eigene. »Sind wir da?«, fragte er Meno.
Ja, kam die knappe Antwort. Es geht los. Bist du bereit?
Was sollte Anûr antworten? Er würde sich gleich mitten in einem Drachenkampf wiederfinden und versuchen, das Mädchen, das er liebte, von dem Geist eines dunklen Magiers zu befreien. Und nebenbei musste er den Ursprung aller Magie an sich bringen, um die Welt zu retten. »Klar«, meinte er und sah Fis an.
Der Magier war, nachdem sie Aleesch hinter sich gelassen hatten, in angespanntes Schweigen verfallen. Nun rutschte er ein wenig nach vorne auf Anûr zu. »Was geschieht jetzt?«
»Wir fliegen voraus und sehen uns einmal um«, antwortete Meno. »Ein schwarzer Drache ist schwer in der Nacht zu erkennen. Selbst für die Augen eines anderen.« Meno wandte seinen Kopf nach hinten und musterte Fis nachdenklich aus den Augenwinkeln. »Aber du solltest nun besser dein Gewand verdecken. Gold ist allzu verräterisch.«
»Verstehe«, sagte Fis so eilfertig, als habe er nur darauf gewartet. Der magische Stoff, der ihn wenigstens so gut zu schützen vermochte wie ein Hemd aus Ketten, war selbst im fahlen Mondlicht gut auszumachen.
Anûr sah, wie er über das Gewand strich und es sich dunkel färbte.
»Ich habe geübt«, meinte Fis auf Anûrs anerkennenden Blick hin.
Für einen Moment schob sich eine dünne Wolke vor den Mond, und Meno verschmolz so vollständig mit der Dunkelheit, dass Anûr glaubte, er würde auf dem Rücken der Nacht reiten. Er horchte angestrengt in die Finsternis, doch mehr als das gleichmäßige Rauschen des Windes vermochte er nicht zu hören. Sie sanken eine kurze Weile tiefer, und kaum waren sie der Wüste wieder näher, umfing Anûr die Wärme des Tages, die noch im Sand steckte. Über ihnen befreite sich der Mond von der Wolke, und in seinem silbernen Licht erkannte Anûr die Drachen wie einen Schwarm Vögel. Unter ihnen aber wuchs der Schein der Feuer mit jedem Augenblick, den sie sich ihm näherten. Flammende Linien zogen sich durch den Boden, als würden dort Flüsse aus Feuer auf einen Punkt zusammenlaufen.
Anûrs Herz schlug mit einem Mal schnell in seiner Brust. Seine Finger schlossen sich um den Stab, den er neben sich auf den Rücken des Drachen gelegt hatte. Er hatte einmal dem Magier Schakschuka gehört. Einen Zauber vermochte Anûr mit ihm natürlich nicht zu bewirken, doch mit seiner Hilfe konnte er besser kämpfen als der erfahrenste Soldat. Mehrmals hatte die Waffe sein Leben gerettet. Heute musste sie ein weiteres bewahren. Shalias.
Es war trügerisch ruhig um sie, und Anûr hätte glauben können, sie flogen bloß auf eines jener Dörfer in der Nacht zu, die man zuweilen in der Wüste fand und deren Bewohner Lampen und Fackeln entzündet hatten, um die Dunkelheit und deren Geister aus ihren Häusern auszusperren. Dort unter ihnen zogen sich die Dünen entlang, und der Schein der Feuer strich sanft über sie hinweg. Der Umriss des Berges Kaf, in dessen Herz Nyans Drachenhort lag, zeichnete sich vor ihnen in den Nachthimmel. Die Festungsstadt selbst zog sich wie eine Kette um den Berg herum.
Der Drache Gazira hatte vor nicht allzu langer Zeit versucht, sich der Stadt zu nähern. Damals war sie von einem Sandsturm umgeben gewesen, der Gaziras Gefährten Usul vom Rücken des Drachen gerissen hatte. Heute aber lagen Stadt und Berg so friedlich und ungeschützt vor ihnen, als rechnete niemand mit einem Angriff. Vielleicht war Nyan nach der Schlacht über Hambar noch so geschwächt, dass er einen Sturm nicht heraufbeschwören konnte. Anûr hoffte es. Es war eine Sache, gegen einen Gegner zu kämpfen, der eine echte Waffe führte. Aber eine völlig andere, wenn diese Waffe magische Worte waren. Doch dafür hatten sie Fis an ihrer Seite. Seine Fähigkeiten waren im Lauf ihrer Abenteuer immer weiter gewachsen, und er hatte sich gegen Nyan bereits beachtlich geschlagen.
»Was sind das für Flammenspuren im Boden?«, fragte Fis. Auf dem Gesicht des Magiers mischten sich Mondlicht und Feuerschein und ließen es seltsam unwirklich erscheinen.
»Beim letzten Mal, da ich diesen verfluchten Ort sah, brannten in der Erde die Feuer, mit denen Nyan seine Züchtungen nährt«, antwortete Meno so, dass es auch Fis hören konnte. »Die Kreaturen, die er uns nachempfunden hat, müssen sich mit den Flammen vollsaugen, um existieren zu können. Sicher brennt die Erde seit der Schlacht um Nabija wie nie zuvor. Nyan braucht viele Geschöpfe, die er uns entgegenstellen kann. Doch nun sollten wir keine Worte mehr in die Nacht mischen. Sie sind ebenso verräterisch wie eine zu helle Haut.«
»Es sieht nicht so aus, als sei irgendjemand hier, dem das auffallen könnte«, bemerkte Fis.
Anûr blickte sich um, doch niemand zeigte sich. Weder Drachen noch Schatten. Nur die Feuer unter der Erde gaben einen Hinweis darauf, dass dieser Ort bewohnt war.
Meno glitt lautlos durch die Nacht und umflog die Festungsstadt in sicherer Entfernung, ohne dass sie auch nur eine feindliche Drachenschwinge sahen. Mât lag so verführerisch unbewacht da, dass Anûr den Köder beinahe schmecken konnte. Er klopfte Meno auf den Hals, und sein Gefährte verstand. Nyans Heer würde sich offenbar erst zeigen, wenn der Angriff begann. Es war Zeit, die anderen zu holen.
Meno drehte ab. Der Nachtwind wehte ihnen sanft entgegen, und die ersten Sandkörner bemerkte Anûr kaum, doch es wurden rasch mehr; sie stachen Anûr in die Haut wie ein Schwarm Insekten. Auch Fis schien sie zu spüren. Er wandte neben Anûr den Kopf hin und her, vermutlich auf der Suche nach einem Grund für den unerwarteten Sandregen. Anûr wischte sich übers Gesicht und versuchte sein wild schlagendes Herz zu beruhigen. In wenigen Augenblicken würde der Kampf beginnen. Doch es war nicht nur die eigene Anspannung, die er fühlte. Da war noch etwas Anderes. Menos Misstrauen. Anûr spürte es, als würde es in ihm selbst wachsen. So nah hatte er sich dem schwarzen Drachen noch nie gefühlt. War das die besondere Verbindung zwischen Drache und Gefährte, von der Meno gesprochen hatte? Unwillkürlich schloss er seine Hände fester um seinen Stab.
Meno gab alle Vorsicht auf und schlug kräftig mit den Flügeln. Als würde die Wüste merken, was er tat, frischte der Wind plötzlich auf. Ein Sandsturm stob ihnen wütend entgegen, und Anûr musste die Augen schließen. Er fühlte, wie sich Menos Misstrauen in Wut wandelte. Der Drache schlug schneller mit den Flügeln, doch es gelang ihm kaum, sich weiter durch die Luft zu kämpfen. Um sie herum wirbelte der Wind noch mehr Sand auf, und der Sturm griff mit unsichtbaren Fingern nach ihnen. Die Festungsstadt lag noch immer trügerisch ruhig unter ihnen. Wie ein Köder in der Falle. Es machte keinen Sinn mehr zu schweigen. »Wir müssen die anderen warnen.« Anûr musste schreien, um das Tosen des Windes zu übertönen.
Wir müssen überleben, entgegnete Meno. Der schwarze Drache stemmte sich mit aller Kraft gegen den Sturm, doch es schien, dass der Wind jedes Mal stärker wurde, wenn Meno mehr Kraft einsetzte, um ihm zu entkommen.
Anûr glaubte, Hände zu spüren, die ihn umschlossen und von Menos Rücken zerren wollten. Das Ende von Gaziras Gefährte Usul kam Anûr in den Sinn. Doch anders als dieser hatten Meno und Anûr sich auf einen möglichen Sandsturm vorbereitet. Fis würde sich um Nyans Zauber kümmern. Anûr wollte ihm ein Zeichen geben, doch er kam nicht mehr dazu. Er wurde so plötzlich in die Luft gezogen, als hätte ihn ein anderer Drache gepackt. Verdammt, dachte er, während er sich hilflos an seinen Stab klammerte. So stark hatte er den Sturm nicht eingeschätzt. Er zwang sich die Augen zu öffnen, blinzelte den Sand fort und sah Fis schemenhaft neben sich. Der Magier wirbelte ebenfalls hilflos durch die Luft wie ein Blatt, und seine Schreie mischten sich in das Fauchen des Windes.
Halte durch, hörte Anûr Meno in der stillen Stimme rufen, während der schwarze Drache mit der Nacht verschmolz. Der Feuerschein aus Mât drang nur schwach durch die Sandmassen, die die Nacht erfüllten.
Das Atmen fiel Anûr immer schwerer. Mit Mühe zog er sich sein Gewand über Mund und Nase. Etwas streifte ihn. Anûr glaubte, eine Gestalt zu erkennen, und streckte die Hand nach ihr aus. Für einen Moment fanden seine Finger die einer anderen Hand. Fis! Doch dann riss der Sturm sie wieder auseinander, als wollte er mit ihnen spielen.
Wir werden sterben, dachte Anûr. Offenbar kam nicht einmal Meno gegen den Sturm an. Anûr wusste nicht, wo oben und unten war, und in seinem Kopf begann sich alles zu drehen. Er klammerte sich an seinen Stab, als könnte der ihm Halt geben, wo es keinen Halt gab. Es gab kaum einen Gegner, den er mit ihm nicht hatte besiegen können. Doch hier gab es keine Klinge, die er abwehren konnte. Keinen Körper, auf den er zielen konnte. Nur einen magischen Sturm, der sie nach Belieben durch die Luft tanzen ließ. Dies war eine Aufgabe für einen Magier. Doch der wirbelte ebenso hilflos wie er selbst durch die Luft. Anûr sah ihn aus den Augenwinkeln, kaum zu erkennen in seinem durch Magie dunkel gefärbten Gewand.
Mehr und mehr Sand umfing sie, und es wurde so finster, dass Anûr kaum noch etwas erkennen konnte. Er hielt seinen Blick starr auf Fis’ Umrisse geheftet. Sie waren nicht weit voneinander entfernt. Nur wenige Armlängen trennten sie. »Hier«, schrie Anûr durch den Stoff seines Gewands, doch er wusste nicht, ob sein Freund ihn hören konnte.
Fis ruderte mit den Armen, und Anûr versuchte sich in seine Richtung zu strecken. Der Sturm trug sie für einen Moment wieder näher zueinander. Nur ein kleines Stück noch, dachte Anûr, obwohl er nicht wusste, was es ihnen bringen sollte, wenn es ihnen gelang, sich inmitten dieses Chaos zu umschlingen. Vielleicht war es einfacher, gemeinsam zu sterben. Ihre Finger fanden sich noch einmal für die Länge eines Lidschlags, dann wurden sie wieder voneinander getrennt.
»Fis«, schrie Anûr und reckte ihm den Stab entgegen. Der Sturm riss ihm die Waffe fast aus den Händen. Er konnte nicht erkennen, ob Fis nach dem Holz griff. Doch dann fühlte er den Zug an der Waffe. Für einen Moment waren sie durch sie verbunden. Der Stab flammte auf, als wollte er den Magier begrüßen. Anûr versuchte, sich zu seinem Freund zu ziehen. Doch der Sturm zerrte an Fis, und der Stab entglitt zuletzt Anûrs Griff. Er sah Fis vage vor sich in der Luft, einen dunklen Körper auf schwarzem Papier gemalt, erleuchtet im Licht des Stabs. Anûr ruderte mit den Armen in der Luft. Wie seltsam nackt er sich ohne seine Waffe fühlte, obwohl nicht einmal sie ihn vor Nyans Zauber hatte schützen können.
Fis schien mit dem Stab in die Luft zu schlagen, als könnte er einen Gegner ausmachen, den er bekämpfen konnte. Der Stab flammte noch heller auf. Und zu Anûrs Überraschung wich der Sturm plötzlich zurück. Fis schaffte es, Nyans Zauber zu bezwingen. Der Sturm wurde immer schwächer, und Anûr sackte ab. Über ihm schlug der Magier mit dem Stab weiter um sich.
Der Sand zog sich zurück, und der Schein aus Mât mischte sich wieder in die Nacht. Das Brüllen des Windes ebbte ab, bis es schließlich ganz verklang. Die unsichtbaren Finger verloren den Halt an Anûrs Leib. Er fiel und schrie Menos Namen in die Nacht. Panisch sah er sich um. Auch im Schein der Feuer von Mât konnte er seinen Gefährten nicht erkennen, während er dem Boden entgegenstürzte. Fis schimmerte noch immer in der Dunkelheit, doch auch er fiel. Dann aber setzte sich ein gewaltiger Körper unter ihn, so schwarz, als hätte die Nacht ihn geboren. Er nahm Fis mit sich und hielt auf Anûr zu. Nur einen Augenblick später schälte sich auch unter ihm der Leib aus der Nacht. Ein Drachenleib.