Illustration

Irene Prugger

Almgeschichten

lœwenzahn

 

 

 

Internet: www.loewenzahn.at

angegeben

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-7066-2712-2

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.loewenzahn.at.

 

 

Irene Prugger

Almgeschichten

Vom Leben nah am Himmel

lœwenzahn

Inhalt

Auch almdamisch? – Vorwort

 

Almporträts

 

Niedertalalm, Vent

Trainsalm, Thiersee

Durchkaseralm, Waidring

Bodenalm, Brandberg

Einödalm und Hackeralm, Kirchdorf

Bacheralm, Kirchdorf

Walderalm, Gnadenwald

Schachenalm, Jochberg

Trojeralm, St. Jakob i. Defreggen

Burgeralm, Rettenschöss

Oberrainsalm, Obernberg

Kotalm, Achenkirch

Brentenjochalm, Kufstein

Stamser Alm, Stams

Möslalm, Innsbruck

Farnkaseralm, Auffach

Gampernunalm, Flirsch

Falbesoner Ochsenalm, Neustift im Stubaital

Juifenalm, Sellrain

Hundalm, Angerberg

Oberhofer Melkalm, Oberhofen

Eng-Alm, Vomp

Fisser Kuhalm/Frommes Alp, Fiss

Tillfussalm, Wildermieming

Zirmbachalm, Kühtai

Visnitz-Alpe, Kappl

Sessladalpe, Kappl

Bärenbadalm, Jochberg

Reichalm, Umhausen

 

Über die Autorin

 

Interviews

Johann Jenewein über die Tiroler Almwirtschaft

Gunter Bakay über Jodeln und andere Almklischees

Martin Ott über die Kulturgeschichte der Kuh

Bernhard Kathan über die schöne neue Kuhstallwelt

Roman Burgstaller über Forst- und Almwirtschaft

Petra Streng über das Liebesleben auf der Alm

Felix Mitterer über Freiheit und Lebensfülle

Georg Speckbacher über wilde Rinder und mutige Pferde

Gerhard Rampl über die Herkunft von Almnamen

Hans und Franziska Fili über den Sehnsuchtsort Alm

Illustration

Auch almdamisch ?

Illustration

Zum ersten Mal hab ich das Wort auf einer Alm im Tiroler Unterland gehört: „Wir hier heroben sind es alle, musst aufpassen, dass du es nicht auch wirst“, sagte ein Alminger zu mir. Aber da war ich es schon: almdamisch. Was soviel heißt wie almnarrisch. Was soviel heißt wie: süchtig nach der Alm. Nun, es gibt schlimmere Süchte. Wie man weiß, ist das Wandern in moderaten Höhenlagen und damit das Almwandern rundum gesund, es gibt sogar wissenschaftliche Studien darüber. Wenn man mit dem Pulsmesser wandert, kann man seinen zunehmenden Fitnessgrad sogar messen.

Ich hatte nie einen Pulsmesser mit bei meinen Almwanderungen. Ich habe selber gespürt, wie ich konditionsstärker wurde. Da geht es mir gleich wie den Kühen. Wenn sie im Frühling aus dem Stall gelassen werden, sind sie zwar schon almdamisch, aber noch ein wenig lasch in den Beinen, am Ende des Sommers sind sie übermütig und fit und wollen nicht herunter von der Alm. Überhaupt die Kühe: Eine Kuh macht Muh – viele Kühe machen Mühe. Solche Sprüche kennen wir, ansonsten ist es oft nicht weit her mit unserem Wissen über eines unserer genügsamsten und wertvollsten Nutztiere. Ich habe bei meinen Ausflügen viel über sie erfahren und immer tat es mir leid, wenn ich auf einer Alm keine Milchkühe angetroffen habe, weil die Bauern aus Gründen mangelnder Rentabilität die Milchwirtschaft aufgegeben haben.

Es geht in meinen Almreportagen aber nicht nur um Kühe, sondern vor allem um die Menschen, die auf der Alm leben, sie bewirtschaften und ihren Arbeitsplatz zumindest den Sommer über auf der Alm haben. Sie habe ich mit meinen Fragen gelöchert. Ich war und bin ja leider noch immer ein Grünhorn, was die Almwirtschaft betrifft. Die sogenannten „Alminger“ sind ganz unterschiedliche Charaktere mit unterschiedlichen Sichtweisen und Arbeitsmethoden, also keineswegs von „einem Schlag“, wie es das Klischee oft unterstellt. Was diese Menschen eint, ist die Liebe zur Natur, die Fähigkeit zu Bescheidenheit, Selbständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und das Almdamische eben.

In Tirol gibt es über 2000 bewirtschaftete Almen, viele davon eignen sich als Ausflugsziele, auch wenn es dort nicht überall ein Gasthaus gibt. Das vorliegende Buch erfasst meine Almausflüge von zwei Jahren. Es ist eine sehr subjektive und von persönlichen Vorlieben, aber auch von Zeit, Wetter, Empfehlungen und durch spontane Entscheidungen geprägte Auswahl. Während meiner Recherchen bin ich ständig Menschen begegnet, die mir begeistert von ihren Lieblingsalmen erzählt haben, auf denen ich noch nicht gewesen bin und die ich mir unbedingt noch anschauen müsse. Das werde ich auch tun. Denn wie eine Freundin zu mir sagte: „Es gibt sie zum Glück alm no, die Alm und die Sehnsucht danach.“

Irene Prugger

 

 

6. Juni und 13. Juni

Niedertalalm, Vent

 

Schafe im Nebel

Illustration

Mein Almsommer beginnt mit einer Unmenge von Schafen. Am Vorabend habe ich sie noch gezählt, weil ich nicht einschlafen konnte, jetzt ist es drei Uhr morgens und trotzdem Tagwache. Also nichts wie raus aus dem Bett. Wer beim Schafübertrieb vom Südtiroler Schnalstal auf die Niedertalalm von Vent im Ötztal mitgehen möchte, darf nicht zimperlich sein. Noch dazu an einem Tag wie diesem, an dem der Himmel nicht dem Anlass entsprechend Schäfchenwolken zusammentreibt, sondern dunkle Regenwolken auffahren lässt. Schon am frühen Morgen ist klar: Auf dem Weg über den Pass wird eine Saukälte herrschen, oder sollte man besser von Schafskälte sprechen?

Zumindest regnet es nicht, aber es ist stockdunkel, als ich am Stausee von Vernagt ankomme. Still und einsam liegt er da, kein Mensch weit und breit und kein einziges Schaf. Die Sammelkoppeln, wo die Tiere bis zum Aufbruch schon am Tag zuvor zusammengetrieben werden, befinden sich etwas weiter droben auf einer Anhöhe. Josef Götsch, Obmann der Alpinteressenschaft Niedertal, auf dessen Bergbauernhof im Schnalstal ich übernachtet habe, hat mir alles genau erklärt. Allerdings ist im Dunkeln der Weg kaum erkennbar. Zum Glück ist das Blöken der Schafe von fern her zu hören, sodass ich mich zumindest nach dem Gehör orientieren kann.

1500 Schafe und 176 Ziegen von 26 Südtiroler Bauern sollen an diesem Tag wie jedes Jahr in einem siebenstündigen Marsch bis zur Martin-Busch-Hütte im Ötztal und am nächsten Tag weiter zur Niedertalalm gebracht werden, eine Woche später werden von Kurzras aus nochmals ungefähr so viele über das Hochjoch (2850 m) getrieben. Auf der Niedertalalm sind die Schafe verschiedenen Weiden zugeteilt. Damit sie beim Übertrieb nicht durcheinander geraten, ordnet man sie in vier große Gruppen. Als ich bei den Koppeln ankomme, macht sich gerade das zweite Starterfeld auf den Weg und ich schließe mich ihm an. Die erste Gruppe ist eine halbe Stunde früher gestartet, die dritte wird dreißig Minuten nach uns losmarschieren. Gut geplant, aber die Organisatoren haben offenbar nicht damit gerechnet, dass in der zweiten Gruppe die fittesten Schafe mitlaufen. Der führende Treiber Elmar hat ebenfalls ziemlich viel Schmalz in den Beinen und legt ein dementsprechendes Tempo vor.

Der frühe Aufbruch ist nötig, weil bei fortgeschrittener Tageszeit die Schafe auf dem weichen Schnee der Lawinenkegel, die man überschreiten muss, einbrechen würden. Es braucht also erfahrene Männer, die den Weg auch im Dunkeln kennen. Elmar ist so einer, er führt seine Gruppe sicher und zielstrebig bergwärts, als sei es bereits hell. Weil der Morgen noch jung und unverbraucht ist, wählen er und die anderen Treiber – oder doch die Schafe? – meistens die Direttissima. Für die kleinen Lämmer wird der Marsch eine ziemliche Strapaze werden. Das jüngste ist erst eine zarte Woche alt. Aber vorerst halten auch die Kleinen noch gut mit, bleiben in der Nähe der Mutter und versuchen bei jedem kurzen Zwischenstopp an eine stärkende Milchration zu kommen. Später wird das eine oder andere erschöpfte Jungtier dann von den Hirten getragen, was biblische Assoziationen wachruft.

Nach ungefähr einer halben Stunde Gehzeit wird in der Dämmerung der Weg unter den Füßen sichtbar und die Umgebung schält sich aus dem Dunkel. Weit unter uns liegt im blassen Morgenlicht der Vernagt-Stausee. Man sieht jetzt auch, wer noch mitläuft in der Gruppe, und macht sich untereinander bekannt. Dem weitum bekannten Schafübertrieb schließen sich immer auch Bergwanderer an, die einmal beim großen Ereignis dabei sein wollen. Wenn sie sich einigermaßen geschickt anstellen, können sie durchaus gute Hilfe leisten beim Zusammenhalten der Schafe. In unserer Gruppe befinden sich zwei junge Frauen aus Deutschland. Sie gehören bereits zum Team, denn sie sind schon ein paar Tage mit der Herde unterwegs. Viele Schafe haben bis zur Sammelstelle am Vernagt-Stausee ja bereits einen weiten Anreiseweg hinter sich, denn sie kommen nicht nur aus dem Schnalstal, sondern auch aus dem Eisacktal, Passeiertal, vom Tschögglberg und aus dem Vinschgau.

Illustration

Schafskälte statt Schäfchenwolken am Tag des großen Übertriebs.

Schafspelz und Anorak gegen die Kälte

Mit einer Schafherde ist es ähnlich wie mit dem Menschenvolk. Alle, die brav mit der Masse mitlaufen, machen keine Probleme, es sind die Verträumten, die Außenseiter oder jene, die nicht so schnell mithalten können, auf welche die Obrigkeit ein Auge hat. Manchmal schert eine eigensinnige Gruppe aus, wird aber von den aufmerksamen Treibern und vom eifrigen Hirtenhund schnell wieder auf den rechten Weg gebracht.

Damit die Übersicht und Erkennung leichter fällt, wurden die Tiere mit großen bunten Klecksen besprüht, es sind also farbenfrohe Herden, die hier ihrem Sommerrefugium zueilen. Zusätzlich besitzt noch jedes Schaf eine Ohrmarke und hat einen Erkennungsstift mit eingeprägter Nummer im Magen. Der Stift wird mit der Nahrung geschluckt und beim Durchleuchten mit einem speziellen Gerät sichtbar. Nach der Schlachtung eines Schafes muss er an den zuständigen Tierarzt abgegeben werden, sonst könnte es sein, dass plötzlich ein Schaffleisch-Konsument eine Kenn-Nummer im Magen hat.

Wir kommen gut voran und alles läuft gut, aber plötzlich ertönen aufgeregte Rufe von den Treibern. Die erste Gruppe ist bereits in Sichtweite, jetzt ist ein geschicktes Überholmanöver gefragt. „Blinker links raus“, meint Elmar, nachdem er sich mit den Treibern der ersten Gruppe abgesprochen hat. In großem Bogen umkreisen wir Gruppe eins, die wir damit auf den zweiten Platz verweisen. Ein bisschen ehrgeiziger Sportsgeist mag dabei sein, aber es geht hier nicht um ein internes Rennen, es geht darum, die Herden gut ans Ziel zu bringen, da ist Trödeln oder höfliches Hintanbleiben nicht gefragt.

Wäre es ein schöner Tag, könnten wir uns jetzt über die ersten Sonnenstrahlen freuen, stattdessen kündigen dicke Regentropfen den Beginn des Schlechtwetters an und dichte Nebelschwaden fallen über uns herein. Regen allein ist nicht so schlimm, wenn nur der gefürchtete Nordwind nicht einsetzt, der vor allem bei Schneefall in den Augen brennt und den Übertrieb besonders schwierig macht, weil dann oft die Schafe der Mut verlässt. Mit Schneefall droben am Ferner ist heute jedenfalls zu rechnen.

Es wird fast mit jedem Höhenmeter kälter. Man spürt es vor allem in den Händen, weil der Körper vom Aufstieg erhitzt ist. Unweit der Ötzi-Fundstelle am Similaun kann man sich jetzt lebhaft vorstellen, dass man hier bis auf die Knochen abfrieren oder in diesem unwirtlichen Gebiet sonst einem Unglück zum Opfer fallen kann. Immerhin leisten unsere Anoraks und Regenponchos gute Dienste. Auch die Vorarbeit dienstbarer Geister kommt uns zugute. Damit es weiter droben im kritischen Bereich keine Komplikationen und unnötige Zeitverzögerungen gibt, haben am Tag zuvor Mitglieder der Alpgemeinschaft zum leichteren Queren der Lawinenkegel in mühsamer Arbeit Wege ausgeschaufelt.

Ein Schlechtwettereinbruch kann in diesen Höhen tödlich sein, der höchste Punkt des Übergangs am Niederjoch bei der Similaunhütte liegt immerhin auf 3019 m. In den vergangenen Jahrzehnten verlief der Übertrieb aber nur einmal tragisch, als die Herden und Treiber in den späten siebziger Jahren in einen Schneesturm gerieten. Damals kamen 70 Schafe um, Menschen wurden zum Glück keine verletzt.

Der schwierigste Streckenabschnitt ist der steile Anstieg zur Similaunhütte, vor allem, wenn er bei Regen und Schneefall schlammig und rutschig wird. Auf Schönwettertage kann man trotzdem nicht warten. Viele der Schafbauern haben keine eigenen Frühweiden, sie geben deshalb die Tiere auf jene Almen, wo früher aufgetrieben wird. Damit sich die Kosten-Nutzen-Rechnung für die Alpinteressenschaft Niedertalalm ausgeht, müssen mindestens 1300 Schafe dort weiden. Außerdem braucht der Schafübertrieb gute organisatorische Vorbereitung, eine Verschiebung um eine Woche kann demnach nur im äußersten Notfall erfolgen.

Im 18. Jahrhundert hat man unter härtesten Bedingungen sogar Ochsen über den Pass getrieben. Wenn sie mit ihrer Masse in den Lawinenkegeln einzubrechen drohten, banden ihnen die Treiber die Vorder- und Hinterbeine zusammen und zogen sie über den Schnee. So entstand eine planierte Bahn, auf der die anderen Tiere folgen konnten. Dagegen ist so ein Schafübertrieb bei einigermaßen guten Bedingungen fast ein Vergnügen. Jedenfalls wenn die Schafe so lammfromm auf den schmalen Steigen zockeln wie eben jetzt, auf dem Anstieg zu den ersten großen Steinmandln, auf halbem Weg zur Similaunhütte.

Stolze Tradition

Die Frage, warum sie die Strapazen auf sich nehmen, stellt sich für viele Schafzüchter nicht. Für die 2176 Hektar große Niedertalalm im Ötztal wurde bereits im Jahr 1415 ein Weiderechtsvertrag zwischen den Bauern von Vent und Schnals abgeschlossen. Obwohl nach dem Ersten Weltkrieg Südtirol und damit auch das Schnalstal zu Italien kamen, blieben die Alprechte erhalten. Man hat sich von den bürokratisch umständlichen Grenzkontrollen nicht abschrecken lassen und wird auch die wirtschaftlich schwierigen Zeiten überstehen. Die Übertriebe gehören zur Tradition, werden mit Stolz durchgeführt und sorgen auch für einen größeren Zusammenhalt unter den Bauern.

Der Herde hinterher trottend kommt man ins Sinnieren, was man mit Schafen alles so machen kann. Das hier sind jedenfalls keine Kandidaten für einen Streichelzoo. Viele der putzigen Lämmer werden zwar nicht als zartes Lammfleisch auf den Tisch kommen, weil sie dafür im Herbst schon zu alt sind, aber als Schaffleisch werden etliche von ihnen im Schlachthof Bozen ihr Ende finden. Andere werden für die Nachzucht und als Wolllieferanten verwendet.

Illustration

Nach und nach schälen sich die ersten Steinmandln aus dem Nebel.

Die Schafwolle war früher ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für Südtiroler Bauern, aber die Produktionsbedingungen sind nicht einfach. Sie muss mehrere Jahre gelagert und in eigenen Waschanlagen gewaschen werden. Die EU-Bestimmungen für solche Waschanlagen sind streng, werden aber nicht in allen Ländern gleich rigoros gehandhabt. Belgien ist so ein Land, wo vorläufig noch Nachsicht gewährt wird. Deshalb schickt man die Wolle zur Waschung dorthin. Danach wird sie entweder an Lodenfabriken geliefert oder als Isoliermaterial verwendet. Die Wertschöpfung für ein Kilo Rohwolle liegt derzeit bei ca. 35 Cent, vor 40 Jahren hat man dafür noch denselben Preis wie für ein Kilo Butter erzielt. Damit erklärt sich auch, warum sie aus landwirtschaftlicher Sicht nur noch einen geringen Stellenwert einnimmt.

Illustration

Kultiger Türschmuck an der alten steinernen Sennhütte.

Auf dem Anstieg zur Similaunhütte beginnt es leicht zu schneien, die Kälte kriecht in die Glieder und die Treiber sind nass bis auf die Knochen, aber es kommt zumindest kein Schneesturm auf. An diesem Tag geht alles gut und der Hirte kann alle 1500 Schafe – es ist in diesem Jahr zufällig diese runde Zahl – auf der Niedertalalm in Empfang nehmen. Für mich ist es auf halbem Weg Zeit umzudrehen, denn ich habe das Auto im Schnalstal beim Vernagt-Stausee geparkt. Aber ich mache mich eine Woche später von Vent aus auf den Weg zur Niedertalalm, um nach den Tieren und nach dem Hirten Rainer Philip zu sehen, der als Alleinverantwortlicher die Aufsicht über so viele Schafe hat.

Als ich ankomme, liegt die alte steinerne Sennhütte, die geduckt in den Berghang gebaut ist, einsam und verlassen da. Die Nebel haben sich verzogen, es ist schönes Wetter und Rainer Philip ist gerade unterwegs, drei Ausreißerschafe zurückzuholen, die ein Schneefeld zum Queren des Baches benützt haben und sich nun auf der falschen Talseite herumtreiben. Zeit für mich, der Stille zu lauschen und die herbe Schönheit dieser kargen, baumlosen Gegend in mich aufzunehmen. Auf den ersten Blick eine Gegend bloß für Schafe und sehr genügsame Menschen, beim zweiten Hinspüren ein kolossaler Ort der Kraft. Im inneren Ötztal, vor allem rund um Vent, finden sich viele alte Kultstätten mit Steinkreisen, Altären und Schalensteinen. Gleich neben der alten Sennhütte steht ein großer Stein in Form eines Widderkopfes, auch er gilt – wenn auch noch nicht wissenschaftlich nachgewiesen – als Kultstein.

Wie der sprichwörtliche gute Hirte taucht dann auch Rainer Philip inmitten einer Gruppe von Schafen und Ziegen auf. Wie schafft man das, allein auf so viele Tiere aufzupassen? „Viel schaun“, sagt er, „und viel laufen.“ Dann eilt er schon wieder davon, er muss noch dringend einen Absperrzaun flicken. Sehr gesprächig ist er nicht, was verständlich ist. Wenn die meiste Zeit nur das Echo einer Felswand, das Heulen des Windes oder das Blöken der Schafe Antwort gibt, erübrigt sich jede Geschwätzigkeit.

Erst im August bekommt der Hirte Unterstützung durch einen zweiten Hirten, der die Schafe abfängt, die ansonsten vorzeitig wieder über den Pass nach Südtirol zurücklaufen würden. Sie lassen sich im Sog von Wandergruppen mittreiben und folgen dabei auch ihrem Instinkt, der genau weiß, wo es nach Hause geht und dass es nicht mehr allzu lang dauern kann, bis es soweit ist. Mitte September muss der anstrengende Marsch übers Niederjoch in die andere Richtung angetreten werden. Wenn den Sommer über nichts passiert ist und auch beim Herbstübertrieb bis zur „Schôfschoad“ (das Trennen der Schafe) alles gut läuft, herrscht große Erleichterung bei allen Verantwortlichen. In Vernagt und Kurzras werden die Hirten und Treiber dementsprechend mit einem großen Volksfest empfangen. Dabei geben sie sich dann auch nicht mehr so wortkarg, sondern richtiggehend gesellig. Trotzdem fordert der lange Marsch seinen Tribut, große Erschöpfung erfasst irgendwann alle Beteiligten, auch die Tiere.

Wenn die Schafe müde sind, hat ein Dichter einmal gesagt, dann zählen sie ihren Schäfer und schlafen ganz schnell ein.

Illustration

Jetzt sind die Gräser im Almgebiet oberhalb von Vent besonders saftig.

Informationen

Lage: Die 2176 ha große Niedertalalm liegt auf 2247 m Seehöhe und beginnt gleich nach der Brücke von Vent. Die alte steinerne Sennhütte ist von Vent aus in ca. 2 Stunden Fußmarsch auf einem guten Forstweg bequem zu erreichen.

Besonderheiten: In diesem Gebiet hat sich eine mehr als 6000 Jahre alte, halbnomadische Hirtenkultur erhalten, wie sie sonst kaum noch in den Alpen zu finden ist. Vom Südtiroler Schnalstal werden die Schafe über bis zu 3200 Meter hohe, teils vergletscherte Jöcher getrieben (Transhumanz). Wer mehr darüber erfahren möchte, liest am besten in den Büchern des bekannten Ötztaler Volkskundlers Hans Haid nach („Wege der Schafe“).

Verpflegung: Die Sennhütte der Niedertalalm ist nur für die Hirten reserviert, die nächste Einkehrmöglichkeit ist die Martin-Busch-Hütte auf 2501 m, ½ Stunde Gehzeit entfernt. Von der Martin-Busch-Hütte bis zur Similaunhütte sind es dann nochmals 2 Stunden Gehzeit. Gute Bergausrüstung und die Abfrage des Wetterberichtes ist dabei unbedingt vonnöten.

 

 

16., 17., 18., 19. Juni

Trainsalm, Thiersee

 

Kleiner Almkurs bei Klara und Marei

Illustration

Eigentlich hatte ich mir das so vorgestellt: Ich befrage Almleute über ihr Leben auf der Alm und schreibe nieder, was sie erzählen. Aber da gerate ich bei der temperamentvollen Sennerin Klara Marksteiner aus Thiersee an die Falsche. Oder vielmehr an die Richtige. „Über Almarbeit kannst du nur schreiben, wenn du selber hineingeschmeckt hast“, meint sie und schaut mich erwartungsvoll an. Klara ist so almbegeistert, dass sie fast in jedem Urlaub als Sennerin gearbeitet hat, seit ihrer Pensionierung ist sie den ganzen Sommer über auf der Alm. Außerdem ist sie sympathisch und herzlich, hat Witz und ein hinreißendes Lachen. Es könnte funktionieren mit uns beiden. Also melde ich mich Mitte Juni für ein paar Tage bei ihr als Hilfssennerin.

Die Trainsalm ist ein hübsches Almdorf aus sieben Hütten mit einer kleinen urigen Jausenstation und liegt geborgen in einem Kessel auf ca. 1300 m Seehöhe, umgeben von sanften Wiesenmatten. Die größeren Bauern halten hier über zwanzig Stück Vieh, Klaras Team ist klein, aber fein: sechs prächtige Milchkühe und Henne Jolanda. Sie sorgt für das tägliche Frühstücksei und dient außerdem als Wetterfrosch, denn wie Klara sagt: „Hühner sind intelligente und sensible Tiere. Wenn das Wetter schlecht wird oder ein Unwetter droht, wollen sie abends nicht in die Steige vor Aufregung, wenn das Wetter hingegen schön bleibt, gehen sie anstandslos schlafen.“ Die Tiere und die Almwirtschaft, für die Klara zuständig ist, gehören einer Bäuerin aus Thiersee. Unsere Hütte ist von oben gesehen die zweite und ein hervorragender Logenplatz, wenn man bei schönem Wetter auf der kleinen Terrasse sitzt und alles überblickt. Aber ich bin ja zum Arbeiten gekommen.

Erste Talentprobe

Ich mag Almen, ich mag Kühe, ich habe keine Berührungsängste, wenn es ums Ausmisten geht, so schwierig kann es also nicht sein. Dann jedoch gleich zum Auftakt die erste Talentprobe: Wir machen Käse und ich bin vorübergehend allein dafür verantwortlich, weil Klara im Stall zu tun hat, wo eine Kuh an einer Verletzung am Bein krankt. Das Rezept habe ich vor mir liegen und die mit Lab geimpfte und bereits gestockte Milch steht in einem großen Kessel auf dem Feuerherd. Nach dem Rühren muss der potenzielle Käse auf 34 Grad erhitzt werden, dann wird nochmals zehn Minuten gerührt. Das Rühren ist kein Problem – man hat ja Zeit auf der Alm. Für die Gradmessung gibt es ein Thermometer, das man in die Milchmasse hält. Das Erhitzen auf dem Feuerherd in dem großen Kessel geht ziemlich langsam, das heißt, man braucht Geduld. Bei 25 Grad (gemessene Milchtemperatur und geschätzte Außenlufttemperatur) mache ich es mir auf der Terrasse gemütlich und schaue, was die Nachbarn so treiben.

Kühe zum Beispiel? Nein, die sind auf den Unterländer Almen tagsüber im Stall wegen der lästigen Mücken und Bremen. Jene Bauern, die nur morgens und abends zum Melken auf die Alm kommen, sind drunten im Tal und Nachbarin Marei – sie ist 84 Jahre alt und betreut als Hirtin vier Kühe – ist auch nicht zu sehen. Also einfach die Aussicht genießen und die munteren Murmeltiere beobachten, die hier manchmal sogar am Forstweg spazieren laufen.

Ein paarmal sehe ich nach der Käsemasse, aber der Thermometerzeiger hat sich noch nicht wesentlich nach oben bewegt. Die Zivilisationshektik noch in den Gliedern, beginne ich schließlich eine andere Arbeit, räume ein bisschen in der Hütte herum, schaue wieder nach dem Topf und ... 34,5 Grad! Verflucht. Da geht man auf die Alm in der Meinung, das sei ein Leben fürs Grobe und dann scheitert man an ein paar Zehntelgraden?

Genau das ist es, was ich als erstes lerne: Das Leben auf der Alm bewegt sich zwischen gemütlichem Laissez Faire und eiserner Disziplin. Wo so viel Mist ist, muss viel Sauberkeit herrschen, vor allem, wenn man Milchkühe zu versorgen und einwandfreie Milch abzuliefern hat. Die Geräte und Milchbehälter müssen zweimal täglich blitzblank geputzt werden und wer etwas auf sich hält, vermeidet es, dass sich der Stallgeruch in der Hütte breitmacht. Klara wechselt jedesmal das Gewand, wenn sie in den Stall geht, die Schuhe sowieso.

Misstrauisch beäuge ich die Käsemasse, die in der Molke schwimmt. Körnig soll sie werden und sie wird es auch. Möglicherweise doch noch gut gegangen, mal schauen, wie er sich weiter entwickelt, mein Käse. Jetzt kann ich einstweilen sowieso nichts mehr für ihn tun. Er muss rasten. Ich gehe zu Klara in den Stall. Die sechs Kühe, stolz gehornt, wie man sie nur noch selten findet, flößen mir Respekt ein. Ich ihnen nicht, sie ignorieren mich einfach. Ich tue es ihnen gleich. Ignorieren geht über studieren, wenn man noch unsicher ist.

Später habe ich Gelegenheit, den Klauenpfleger oder „Kuaschnoater“ beim Verarzten der verletzten Kuh zu beobachten. Sie hat sich einen Stein eingetreten, die Wunde ist bereits geschwollen. „Reden wie mit einer kranken Kuh“ – jetzt weiß ich, wie sich das anhört: verständnisvoll und forsch zugleich. Die Kuh ist trotz ihrer Schmerzen beeindruckt von der Kompetenz des Klauenpflegers, sie scheint zu ahnen, dass er ihr helfen wird, und verhält sich deshalb nicht übermäßig empfindlich. Trotzdem hat dieser Job, um den sich kein Tierarzt besonders bemüht, seine Tücken. Eine tiefe Narbe am Fuß des Klauenpflegers gibt Zeugnis, dass die Kommunikation mit einer gepeinigten Kuh nicht immer so tadellos funktioniert.

Duell mit einer Kuh

Marei, unsere 84-jährige, sehr agile Nachbarin, lerne ich am Abend meines ersten Almtages kennen. Sobald sie die Glocke der kleinen Almkapelle läutet, machen sich die Sennerinnen von ringsum zum Rosenkranzgebet auf, um für den guten Almtag zu danken. Mir ist eigentlich nicht nach Litaneien Beten zumute, aber ich gehe mit Klara zur Kapelle. Mareis sanfte Stimme gibt den Rhythmus vor, das Denken zerfließt und macht einem Gefühl der Zufriedenheit Platz – es ist beste Meditation. Auch Bescheidenheit ist jetzt angebracht, es müssen ja keine großen Dinge sein, für die man Danke sagt. Man kann sich zum Beispiel dafür bedanken, dass der Käse letztendlich doch noch sehr gut geworden ist.

Illustration

Alle da und bereit zum Melken? Dann kann’s losgehen!

Ich habe grundsätzlich Mühe, mir bei einem Gebet die richtigen Ansprechpartner vorzustellen, also behalte ich den Engel an der Kapellenwand im Auge, der so kitschig schön gemalt ist wie aus einem Superman-Comic. Wir bitten darum, dass auch der nächste Tag gut werden möge. Für mich könnte das so aussehen, dass ich einen hübschen Ausflug mache und das Trainsjoch besteige. Von der Alm ist man in ca. einer dreiviertel Stunde auf dem Gipfel und hat einen sagenhaften Ausblick nach Tirol und Bayern. Aber dann zeigt Marei seufzend auf die Weidefläche vor ihrer Hütte. Sie ist voll von lästigen Nachtschattengewächsen, die das saftige Gras überwuchern. Also melde ich mich zum freiwilligen Unkrautvernichtungseinsatz, das heißt, ich verbringe den nächsten Vormittag damit, das Übel bei den Wurzeln zu packen.

Illustration

Bohnensuppe und ausgezogene Nudeln – da kann auch Klara nicht widerstehen.

Ich arbeite im Schweiße meines Angesichts, den Kopf zu Boden gesenkt, und merke nicht, dass ich von glotzenden Kühen eingekreist werde. Am Morgen, wenn es nicht so heiß ist, dürfen sie nach dem Melken noch ein bisschen weiden, bevor es in den Stall geht. Eine Kuh mit Hörnern, hat mir Klara erklärt, sei im Prinzip nicht gefährlicher als eine hornlose Kuh, im Gegenteil, sie fühle sich sicherer und verhalte sich deshalb oft weniger aggressiv. Solange jene, die sich mir jetzt in den Weg stellt, nur schaut, will ich das gern glauben. Außerdem hat mir Marei zur Stärkung selbstgebackene Hildegard-Kekse verabreicht, die schmecken nicht nur ausgezeichnet, sondern gelten auch als erprobte Nervennahrung. Ich spüre schon die Wirkung. Kleiner Machtkampf gefällig? Die Klügere gibt schließlich nach, die Kuh trottet davon.

Aber dann sieht es doch noch so aus, als wolle mich eine auf die Hörner nehmen. Knapp neben Mareis Hütte trabt sie mit ihrer wuchtigen Größe auf mich zu, hält kurz inne, geht wieder los. Ermutigt von meinem kleinen Sieg denke ich nicht daran, umzudrehen. Doch diese Gegnerin lässt sich nicht so schnell einschüchtern, ich trete den Rückzug an, was kuhpsychologisch ein schwerer Fehler ist. Ich sollte ihr die Schneid abkaufen, aber dazu müsste ich selber eine haben. Mein Rückzug ermuntert sie noch mehr, sie nimmt Anlauf. In meiner Not erscheint Marei auf dem Balkon und kippt dem angriffslustigen Tier einen Kübel Wasser über den Kopf, die Kuh türmt, ich bin gerettet. „Danke Marei!“ Sie lächelt bloß. Ich weiß, was das heißt: Nichts für ungut. Eine Hand wäscht die andere. Und manchmal muss einer auch der Kopf gewaschen werden.

Köstliche Kiachl am Nudeltag

Zu Mittag ist alle Aufregung vergessen. Marei, Klara und ich sind bei Grete Perktold in der kleinen Jausenstation eingeladen. Jeden Donnerstag gibt es dort ausgezogene Nudeln, so auch heute. Dort, wo ich herkomme, nämlich aus dem Bezirk Innsbruck Land, sagt man dazu Kiachl. Grete serviert dazu entweder Bohnen- oder Gerstensuppe, Sauerkraut oder Apfelmus. Auch Klara hat bereits als Kind die Herstellung dieser Spezialität gelernt, dabei herrschten sehr strenge Regeln. Wenn ihre Schwestern und sie bei der Zubereitung lackierte Fingernägel hatten, dann weigerte sich ihr Vater, die Nudeln zu essen. Er fand das schlichtweg „grauslich“.

Gretes Nudeln sind rundum appetitlich und man muss aufpassen, dass man nicht zu oft zulangt. Auch die Stimmung ist ausgezeichnet, Gretes Mann spielt Volksmusik auf der Harfe und Klara erzählt lustige Episoden aus dem Almleben. Dabei kommt sie ins Philosophieren: „Eine Alm“, sagt sie, „ist kein Vier-Sterne-Unternehmen, aber das Leben ist ohnedies viel spannender, wenn man sich mit Wenigem bescheiden muss. Wenn man alles jederzeit kaufen kann, ist das ja keine Herausforderung.“ Ich denke zufrieden daran, dass wir beide als gestandene Frauen heute schon die Dachrinne der Hütte repariert haben. Na ja, um bei der Wahrheit zu bleiben: Sie hat repariert und ich habe mit Handlangerdiensten assistiert. Aber immerhin!

Illustration

Nachbarin Marei in der gemütlichen kleinen Küche ihrer Hütte.

An diesem Tag fällt mir beim Rosenkranz schon viel mehr ein, für das ich danken kann. Ich spüre die körperliche Arbeit in den Gliedern und bin richtig bettschwer, aber die anschließende Kartenrunde mit Klara und Marei bei selbstgemachtem Hollerlikör lasse ich mir nicht entgehen. Während wir übermütig unsere Trümpfe auf den Tisch klopfen, fällt mir ein Zitat aus H.D. Thoreaus Buch „Walden“ ein, das ich mit auf die Alm genommen habe und das ich hier nicht weiterlesen werde, weil die philosophische Naturlektüre inmitten von soviel Natur nicht richtig zur Geltung kommt. Aber bis zur zwanzigsten Seite bin ich gekommen und dort steht: „Man denke nur auch an die Damen des Landes, die bis zum letzten Tag Zierkissen sticken, um ja nicht ein zu lebhaftes Interesse an ihrer Bestimmung zu verraten! Als ob man die Zeit totschlagen könnte, ohne die Ewigkeit zu verletzen.“

Nein, die Menschen hier auf der Alm sticken keine Zierkissen und verraten auch nicht ihre Bestimmung, sie schlagen die Zeit nicht tot und verletzen nicht die Ewigkeit. Es ist ein gutes Gefühl, bei ihnen zu sein und von ihnen akzeptiert zu werden.

Mein letzter Tag bei Klara auf der Alm kommt viel zu schnell. Mit ein wenig Wehmut packe ich meinen Rucksack ins Auto des Nachbarbauern, der mich mit ins Tal nimmt. Als ich mich nach ein paar Kehren auf der Forststraße noch einmal umdrehe, winkt Klara mit einem leintuchgroßen Stück Stoff vom Balkon der Hütte. Es ist ein herzlicher Abschiedsgruß, der mich rührt, und gleichzeitig der Auftakt für einen wunderschönen Almsommer.

Informationen

Lage: Die Trainsalmen liegen auf ca. 1300 m Seehöhe am Südhang des Trainsjoch (deutsch-bayrisches Grenzgebiet), dem Eckpfeiler von Ursprungtal und Thierseetal. Ausgangspunkt Parkplatz Ursprungpass Landl, nach ca. 1 ½ Stunden erreicht man die sonnig gelegene Jausenstation Mariandlalm. Danach geht es weiter hinauf zur Trainsalm (immer der Beschilderung nach). Gesamtgehzeit hin und zurück ca. 4 Stunden.

Besonderheiten: Hübsches kleines Almdorf mit Jausenstation und Almkapelle und sehr sympathischen Sennerinnen.

Verpflegung: Einkehrmöglichkeit in der kleinen urigen Jausenstation der Trainsalm von Juli bis September; jeweils am Donnerstag ist bei Grete Perktold „Nudeltag“, das heißt, sie serviert hervorragend schmeckende Kiachl mit Sauerkraut, Bohnen- und Gerstensuppe oder Apfelmus. Ihr Mann spielt dazu bei Gelegenheit auf der Harfe Volksmusik.

 

 

20. Juni

Durchkaseralm, Waidring

 

Die Geschichte der tauben Sennerin

Illustration

Gibt es eine Alm, die nicht urig ist? Kaum. Jeder Tourismusverband bewirbt seine Almen mit diesem Attribut. Urige Almhütten und Gasthäuser überziehen das ganze Land. Oft wird mit einem urigen Anstrich nachgeholfen: Aus neu mach alt, aus alt mach urig.

Auf der Steinplatte bei Waidring hat „urig“ eine andere Dimension. Sie ist eines der schönsten fossilen Riffe der Nördlichen Kalkalpen (die anderen sind großteils durch Deckenüberstülpungen und Faltungen verschwunden), entstanden aus einem Korallenmeer der Triaszeit, und zeigt besonders schön den Übergang zwischen steilem Riffhang und Becken. Sie ging deshalb sogar in die geologische Weltliteratur ein. Wo man damals Richtung Kammerköhr hätte schnorcheln können, verläuft heute eine planierte Skipiste, aber im Gipfelbereich kann man noch versteinerte Korallen bewundern und sich vorstellen, wie es hier im Jahr 200 Millionen vor Christus ausgesehen hat: weit und breit nichts als Wasser. Jetzt sieht man ringsum ein Meer von Bergen. Wenn man Richtung Osttirol und Hohe Tauern blickt, scheint das Meer sogar Wellen zu schlagen. Angesichts dieser Aussicht ist es besonders angenehm, dass das Riff, auf dem man steht, trocken ist und man die Gegend in Wanderschuhen erkunden kann.

Heute bin ich mit Margit und Angelika unterwegs, zwei hervorragenden Kennerinnen der Region. Der „Triassic Park“, den man hier errichtet hat, mit „Triassic-Center“ als Fossilien-Museum, dem „Triassic-Beach“ und einem „Forscher-Zentrum“ für „erlebnishungrige Trek-Führer“ interessiert uns weniger, wir halten uns auf jenen Wegen, wo statt 3D-Animation einfache Täfelchen als Wissensvermittlung genügen, denn wir wollen auf die Durchkaseralm zur Ambachhütte.

Zuerst geht es vom Parkplatz Steinplatte auf einem Naturlehrpfad Richtung „Brennhütte“. Nach einer zweiwöchigen Regenphase präsentieren sie sich an diesem ersten vollen Sonnentag herrlich erfrischt: Enziane, Trollblumen, weißer Hahnenfuß und weiße Anemonen (auch Milchröschen genannt), die seltenen Zwergalpenrosen (für die Blüte der herkömmlichen Alpen- oder Steinrosen ist es noch zu früh), Bergmargeriten und Hornklee überbieten sich in Farbkraft, dazwischen lilafarbene Felder aus Kugelblumen und Mehlprimeln. Für letztere hat der Volksmund einen wenig schmeichelnden Ausdruck parat: Soachblüamelen. Sie riechen tatsächlich ein wenig nach Pisse, aber nur, wenn man sie unmittelbar vor die Nase hält – und davon kann man ja Abstand nehmen.

Durch ein Blumenmeer zur Alm

Die gemütliche Brennhütte, die einen Abstecher lohnt, ist ein beliebtes Ausflugsziel. Sie befindet sich in einem Taleinschnitt ca. 150 Meter unterhalb des Almplateaus neben einer ergiebigen Trinkwasserquelle. Deshalb durfte in früherer Zeit hier auch das Brennrecht ausgeübt werden, was sonst auf karstigen Almen wegen der Wasserknappheit unüblich war. Für die Schnapsbrennerei wurden neben den Vogelbeeren und verschiedenen Wurzelarten wie Enzian-, Blut-und Meisterwurz auch die wohlriechenden Wacholderbeeren (in der Mundart „Kranebitt“) verwendet.

Schon in grauer Vorzeit war die Hütte gern besucht, insbesondere von den Bayern, die über Winklmoos und Seegatterl im Sommer und Winter zu Fuß über die angrenzenden Almen kamen. Nicht einmal die Tausendmarksperre konnte sie aufhalten. Sie waren ohne die verbotenen Zahlungsmittel unterwegs, das Geld wurde auf der Winklmoosalm hinterlegt. Der Hüttenwirt holte bei Nacht und Nebel sein Geld dort ab und es ist nicht bekannt, dass er jemals um die Zeche geprellt wurde. Die Wirtsleute waren damals auch im Winter auf der Hütte und mussten sich mit Ausnahme der Milch von ein paar Ziegen alles aus dem Tal beschaffen – zu Fuß, die Lasten am Rücken tragend. Inzwischen ist die Hütte mit einem Fahrweg erschlossen und kann, wenn nötig, auch mit dem Auto erreicht werden.

Illustration

Wenn die Nebel sich lichten, sieht man hier weit.

Wenig später treffen wir bei der Ambachhütte ein. Sie ist tatsächlich urig: eine alte Steinhütte, 1752 erbaut, also zu Zeiten Maria Theresias. Die winzige Stube ist bei schlechtem Wetter schnell aufgeheizt und so richtig zum Einkuscheln und der kleine Raum, der sich Küche nennt, hat noch eine alte Feuerstelle. Der Ruß an den Wänden ist echt. Die Sennerin, Waltraud Zelger, ist auch eine Urige, mit langer Sennerinnentradition in der Familie. Ihre Großmutter hat 70 Sommer auf der Ambachhütte verbracht. Sie war taub, was die Arbeit einer Sennerin naturgemäß erschwert. Allerdings war sie nicht von Geburt an taub, man träufelte ihr als Kind bei einer Mittelohrentzündung zu heißes Schweinefett in die Ohren. So schnell kann aus einem alten Heilmittel ein Unheilmittel werden.

Im Alter von vierzehn Jahren wurde die taube Sennerin bei einem Schlechtwettereinbruch ausgeschickt, die Kühe heimzutreiben, aber sie konnte sie nicht finden, weil sie das Glockengebimmel nicht hörte. Schließlich fand sie im dichter werdenden Nebel nicht einmal mehr den Weg zurück und musste die kalte Nacht im Freien verbringen. Am Morgen, als der Nebel verschwunden war, sah sie, dass es nicht mehr weit bis zur Hütte gewesen wäre. Die Kühe waren inzwischen allein zurückgekehrt. Das Mädchen lernte daraufhin, aus den Spuren der Huftritte und aus den Kuhfladen die Kühe der ihr anvertrauten Herde zu erkennen. Der Nebel war nun kein so großes Problem mehr für sie.

Viel Nebel, wenig Wasser

Neben dem Nebel, der häufig über die 350 Hektar große Alm im Karstgebiet hereinbricht, war bis zur Verlegung der Wasserleitung vor allem die Wasserknappheit ein Problem. Das weiß Hans Steiner aus Waidring zu berichten, der sich gut mit der Almchronik auskennt. Es gab ein paar kleinere Quellen, die mitunter zur Versorgung von Mensch und Tier nicht ausreichten. Deshalb waren die Quellen und Wassertröge jeweils einer bestimmten Hütte zugeteilt. Für Futterreserven bei längeren Schlechtwettereinbrüchen war die „Tret“ zuständig, das war das Gebiet um die Hütten. Dort durfte sich kein Vieh aufhalten, damit die Weideflächen nicht vorzeitig abgegrast wurden und der Bereich sauber blieb.

Die meiste Zeit war die Alm auf zehn Besitzer aufgeteilt und die Almleute waren eine verschworene Gemeinschaft, allerdings gab es auch manchmal Auseinandersetzungen, vor allem wegen der Wasserzuteilung. Den Streit zu schlichten, dafür war der Alpmeister da. Jedes Jahr wurde für diese Aufgabe ein neuer Vertreter der Almgemeinschaft gewählt. Er hatte auch noch viele andere Aufgaben, zum Beispiel für den Stier zu sorgen, der einen schönen Almsommer verbringen und die Kühe beglücken durfte.

Illustration

Gruppenbild mit Trollblumen, auch Goldköpfchen oder Butterblumen genannt.

Heute ist die Ambachsennerin die einzige hier oben, die noch Milchkühe hält, die anderen Hütten werden zum Großteil als Privathütten genützt. Wir bestellen also frische Milch und trinken auf die Ambachsennerin, die den köstlichen „Energydrink Almmilch“ in großen Schalen serviert. Der Körper erhält durch die Milch einen kräftigen Calciumschub gegen Osteoporose. Wollten wir die gleiche Menge Calcium mit pflanzlicher Nahrung aufnehmen, müssten wir Unmengen von Grünzeug verdrücken und könnten uns gleich zu den Kühen auf die Weide stellen.