Axel Kruse
Derolia
Ich mag Kapitän Kors. Er ist so, wie Helden sein müssen, ein bisschen chaotisch, ein bisschen rebellisch und ziemlich schlau. Dazu hat er die Qualität, die man nicht nur bei Helden schätzt: Er ist loyal und im Grunde seiner Seele integer in einem Universum, in dem es verflixt schwerfällt, genau dies zu sein. Diese beiden Eigenschaften erwartet man nicht unwillkürlich von einem Mann, der im eher nicht staatlich gebilligten Freihandel tätig ist und dessen Tätigkeit bei unfreundlicher Auslegung durchaus auch als Schmuggelei bezeichnet werden könnte.
Schmuggler haben oft diesen Robin-Hood-Nimbus, und wenngleich Kapitän Kors nicht von den Reichen nimmt, um den Armen zu geben – er ist schon froh, wenn er sich und seine adoptierte Familie durchbringt –, umgibt auch ihn diese nicht ganz freiwillig ertragene Aura des edlen Rebellen. Das macht ihn und seine »Crew« sympathisch, denn er ist ein Held alter Schule, nicht nur ein Draufgänger, sondern auch ein Drunter- und Drüber- und irgendwie Seitwärtsvorbeigänger.
In Derolia nimmt er einen schwierigen Auftrag an. Er tut es aus Loyalität, nicht etwa, weil er das Erbfolgesystem einer Dynastie mit extremer Klassengesellschaft für besonders großartig hält. Im Vergleich mit den anderen Herrschaftssystemen irdischer Exkolonien und sogar der Erde selbst geben die Regierungsformen durchweg kein Bild von quietscherosa Freundlichkeit und idealtypischer Demokratie ab. Getragen von oligarchischem Kastendenken, von Machtgeilheit und schlunzschleimiger Gier, bilden die Damen und Herren Gegenspieler einen gefährlichen, aber durchaus auch lukrativ erscheinenden Sumpf an Gewalt und Verrat. Und Möglichkeiten – für Menschen, die ein bisschen chaotisch, ein bisschen rebellisch und ziemlich schlau sind.
Weit in der Zukunft und doch so nah an der Wirklichkeit. Menschen. Durch die Geschichte bis zu den Sternen von der gleichen Lust zu herrschen getrieben. Man würde sich wünschen, die Evolution würde uns in der Zukunft philosophischer machen, gerechter, gelassener und ganz einfach netter. Verlassen würde ich mich nicht darauf, dass es so kommt.
Wie gesagt, ich mag Kapitän Kors. Ich mag sein sperriges Wertesystem, auch wenn es mit keinem der Planeten, die er ansteuert, übereinstimmt. Er erkennt die Nazis auf der Erde als das, was sie sind, was sie stets und immer waren, egal auf welchem Planeten: Mörder und Unterdrücker und opportunistische Diebe, Räuber und Rassisten. Er erkennt auch das nepotistische Gewölle der machthungrigen Oberkaste eines überkommenen, wirr-monarchischen Systems, in dem einer so unsympathisch sein mag wie der Nächste.
Wem bleibt er also treu, der Herr Kors?
Sich selbst. Sich und den Seinen. Das tut er klug, vorsichtig und doch auch wagemutig und entschlossen. Ein Held, wie man ihn von den ersten Abenteuergeschichten an findet, die man in der Kindheit gelesen hat, bis zu der Literatur, mit der man als Erwachsene*r seine Freizeit mit Spannung und Hoffnung würzt. Das Buch ist ein All-Ager, knackig und sympathisch – wie sein Held.
Ju Honisch
Aber Ihr könnt doch nicht behaupten, Ihr hättet die Macht, nur weil Euch so eine wässrige Schlampe ein Zepter in die Hand gedrückt hat!
(Monty Python, Die Ritter der Kokosnuss)
Kirkasant: Samuel Kors, Frachtführer, Eigner und Kapitän des Raumschiffes Lahme Ente kommt nach Jahren zurück nach Kirkasant, um sein Schiff dort reparieren zu lassen. Er wird in die Wirren, die sich im Vorfeld des dort anstehenden Referendums entwickelten, hineingezogen. Die Bewohner Kirkasants müssen sich entscheiden. Wollen sie unter den Schutzschirm Terras kriechen oder sich dem Königreich Derolia anvertrauen? Eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Die faschistische Erdregierung möchte den Planeten als Aufmarschgebiet gen Derolia nutzen, die dortigen Royalisten möchten eine Pufferzone. Vor diesem politisch brisanten Hintergrund nimmt Kapitän Kors den Auftrag seiner Exfrau an, eine Touristengruppe zu den Sehenswürdigkeiten des Planeten zu fliegen. Wie sich herausstellt, sind sowohl Vertreter Terras als auch Derolias mit an Bord. Es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen, in deren Folge man sich durch den Urwald Kirkasants schlagen muss, bis Kors zusammen mit seiner Exfrau Lysange van der Meer, mittlerweile schwanger, und Jorge, dem Kronprinzen von Derolia, die Flucht gelingt. Man setzt den Kurs gen Sylvej, eine derolianische Kolonie.
Sylvej: Es stellt sich heraus, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Das vermeintlich geringere Übel, die Royalisten, stellen sich als ebenso lebensbedrohend heraus, wie es die Faschisten auf Kirkasant waren. Der Vizekönig Derolias, der auf Sylvej residiert, putscht und schließt sich den Terranern an. Jorge, der Kronprinz, wird ermordet. Das Kind, das Lysange in einem Gefangenenlager zur Welt bringt, ist nicht die genetische Tochter Jorges. Samuel Kors, Lysange und diversen anderen Gefangenen gelingt die Flucht aus dem Lager. Sie versuchen sich zum Raumhafen durchzuschlagen, um von dort mit der Lahmen Ente starten zu können. Hoffnung setzen sie in den Kaperkapitän Simon Piggott, da sich zwei seiner Besatzungsmitglieder ebenfalls in der Gruppe befinden. Die Gruppe wird vervollständigt durch eine auf dem Planeten eingeborene Frau, Nadarja. Die auf dem Planeten Sylvej eingeborene Spezies ist menschenähnlich, allerdings am ganzen Körper von einem weißen Pelz bedeckt. Außerdem weist sie je sechs Finger beziehungsweise Zehen an den Extremitäten auf. Die Flucht gelingt nicht, die Gruppe wird erneut inhaftiert und zur Hauptstadt Sylvejs zurückgebracht. Der Vizekönig, mittlerweile stark unter Druck stehend durch eine militärische Allianz der Derolianer und »freischaffender« Kaperfahrer, will Lysanges Kind als Geisel nutzen, um die Derolianer zum Abzug zu bewegen, unterstellt er doch, dass es sich bei dem Mädchen um die letztendliche Thronfolgerin Derolias handelt. Die Terraner haben mittlerweile ihre Truppen abgezogen, da die alles entscheidende Schlacht in einem anderen Sternsystem, dem von Arcole, stattfindet. Die Mannschaft des Kaperkapitäns Simon Piggott befreit die Geiseln in einem Handstreich in letzter Minute. Die Königin Derolias erklärt Carla, Lysanges Tochter, zu ihrer Erbin, da sie unterstellt, dass ihr Sohn das ungeborene Kind adoptiert hatte. Sie zwingt Lysange dazu, zusammen mit Carla ins Deroliansche Reich zu kommen, um das Mädchen dort auf ihre zukünftige Rolle vorzubereiten. Samuel Kors und Nadarja fliegen auf der Lahmen Ente neuen Abenteuern entgegen.
Die Zeitanzeige über der Bartheke, eigentlich fast von den dort auf einem Regal deponierten Flaschen verdeckt, sprang unerbittlich voran.
Ich saß schon viel zu lange hier. Mein Geschäftspartner hatte mich versetzt, er hätte bereits vor einer geschlagenen Viertelstunde hier sein müssen.
Ich versuchte locker zu bleiben, versuchte mir nichts anmerken zu lassen. Wie zufällig berührte ich mit der Hand mein Ohr. Sofort erklang ihre Stimme.
»Noch nichts in Sicht, Sam«, sagte sie. »Genieß dein Bier und warte noch ein wenig. Er hat sich halt verspätet.«
Sie hatte leicht reden. Ich saß hier wie auf dem Präsentierteller. Jedem in der Taverne musste mittlerweile klar geworden sein, dass ich auf jemanden wartete. Jedem musste darüber hinaus klar sein, dass der Grund dafür eine Transaktion war. Und jedem war klar, dass bei einer Transaktion, die hier vor sich ging, nicht alles mit rechten Dingen zugehen konnte. Es musste demnach jeder hier mitbekommen haben, dass das, was ich zu verkaufen hatte, eine auch für andere interessante Fracht darstellte.
Fracht, die mittels Konnossement übergeben wurde.
Fracht, die mittels dieses einfachen Dokuments aus den Lagerhallen des Freihafens abgeholt und verladen werden konnte.
Fracht, die dem gehörte, der das Konnossement vorlegte.
Langsam führte ich meine Hand zu der Innentasche meiner Jacke, fühlte die dort steckende Datenkarte und legte meine Hand wieder auf den Tisch, neben mein Bierglas. Dann besann ich mich eines Besseren, ergriff das Glas, trank es aus und bedeutete dem Wirt, mir ein neues zu bringen.
Ein Bier noch, sagte ich mir, dann würde ich aufstehen und gehen. Das Risiko, dass man mir die Frachtpapiere hier stahl, wurde mit jeder Minute größer. Trotz meiner Rückversicherung.
»Beruhige dich«, flüsterte Nadarjas Stimme wieder in meinem Ohr. »Alles in Ordnung. Er kommt.«
Mein Blick wandte sich zur Eingangstür, just in dem Moment, in dem sie von außen geöffnet wurde. Glück gehabt, es musste für die anderen Anwesenden so wirken, als ob die sich öffnende Tür meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte und ich nicht bereits vorher gewusst hatte, dass sie sich öffnen würde.
Der Mann, es war ein Mensch, sah sich kurz um und steuerte dann zielstrebig auf meinen Tisch zu, der sich am hinteren Ende des Gastraums befand. Seine vor Fett – oder war es Gel? – triefenden Haare hingen ihm auf die Schultern. Er trug ein schäbiges altes Jackett und dazu eine Hose, deren Beine viel zu kurz waren. Seine spitz auslaufenden weißen Schuhe, taten ein Übriges dazu, ihn wie eine Lachnummer aussehen zu lassen.
»Kapitän Kors«, begann er. »Es tut mir leid, dass ich Sie warten ließ. Ich wurde aufgehalten.«
Das war offensichtlich ein Allgemeinplatz. Er hätte für meine Begriffe ruhig etwas konkreter sein können.
Wortlos nickte ich ihm zu und deutete auf den Stuhl mir gegenüber. Er verstand den Wink und setzte sich.
»Sie haben die Ware analysiert?«, fragte ich.
Er nickte. »Erstaunlich. Genau, wie Sie sagten. Eine keimfähige Nuss. Woher …?« Ich schnitt ihm das Wort im Munde ab.
»Damit hätte ich meinen Part unserer Vereinbarung erfüllt«, sagte ich. »Wo ist der Wechsel?«
»Woher soll ich wissen, dass in dem Container die versprochene Ware ist?«, fasste mein Gegenüber nach. »Woher haben Sie eine solche Menge keimfähiger Boranüsse? Wie kommen Sie überhaupt an eine einzige keimfähige Nuss?«
Ich stand auf. Für mein Bier warf ich ein Zehnkreditstück auf den Tisch, mehr als doppelt so viel, wie der Wirt als Preis aufgerufen hatte.
»Ich muss nicht an Sie verkaufen«, antwortete ich und schickte mich an zu gehen.
»Fünf Leute vor der Tür«, warnte mich Nadarja. »Drei Menschen, ein Hilo und ein Bortsu. Sehen nicht vertrauenserweckend aus. Lungern da plötzlich rum. Könnte sich um eine Eskorte handeln.«
»Mist!«, entfuhr es mir.
»Wie meinen?«, fragte mein Geschäftspartner irritiert.
»Nichts«, entgegnete ich.
»Sie wollen nicht mehr verkaufen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie wollen nicht kaufen«, sagte ich.
Jetzt hatte ich ihn da, wo ich ihn haben wollte. Ich konnte die Gier in seinen Augen deutlich sehen. Wahrscheinlich überlegte er gerade, was denn einfacher für ihn sei: mir draußen die Frachtpapiere abnehmen zu lassen oder lieber hier drinnen den Vertrag zu erfüllen, mich in Sicherheit zu wiegen und dann draußen den Wechsel wieder einzukassieren.
Ich würde mir die Frucht der Arbeit der letzten fünfeinhalb Jahre nicht so einfach nehmen lassen.
»Geben Sie mir noch eine Chance!«, flehte er mich an.
»Sie hatten sie vorhin«, sagte ich und machte den ersten Schritt, der mich in Richtung der Toilettentür brachte.
Der Mann überlegte schnell, griff in seine Jackentasche und holte eine Datenfolie hervor.
»Der Wechsel«, sagte er. Er hatte sich entschieden. Er wollte es nicht riskieren, dass ich eventuell einen Fluchtweg hatte, den er und seine Kumpane übersehen haben könnten. Da war es ihm lieber, den Preis zu zahlen. Im schlimmsten Fall machte er damit immer noch einen wahnsinnig guten Deal – und wer sagte denn, dass er mir den Wechsel nicht wieder würde abjagen können?
Ich warf beiläufig einen Blick auf die Folie, die nun auf dem Tisch lag.
»Wer sagt mir, dass der gedeckt ist?«, fragte ich.
»Vertrauen gegen Vertrauen«, war seine Antwort.
Wir hatten das vorher bis zum Erbrechen durchdiskutiert, Nadarja und ich. Wir waren zu dem Ergebnis gelangt, dass wir das Risiko würden eingehen müssen. Einhunderttausend Kredits waren kein Pappenstiel, aber eben auch nicht die Welt. Einen Wechsel zu fälschen, das sollte in der heutigen Zeit unmöglich sein, so versicherten es die Banken. Ich konnte ihn prüfen, indem ich ihn mit meinem Pad analysierte. Wenn sich dabei keine Unregelmäßigkeiten zeigten, würde ich ihn akzeptieren.
Wenn er sich dann doch als ungedeckt herausstellen sollte, nun, dann hatten wir ein Zehntel unserer Ware verspielt. Viel, aber eben nicht alles. Und in spätestens einem Jahr hatten wir erneut so viel an Ware und ein Jahr weiter und noch eines …
Sicher, irgendwann während dieser Zeit würden die Preise verfallen. Ich rechnete allerdings erst mit einem extremen Preisverfall nach fünf Jahren. So lange brauchten die Pflanzen, bis sie zum ersten Mal Früchte trugen.
Ich griff nach der Folie, fuhr mit meinem Pad darüber. Echt, bestätigte die Anzeige. Ausgestellt und bezogen auf die Besoer Star Bank. Keine terranische Bank. Das war gut. Sogar keine Bank einer menschlichen Kolonie, das war noch besser. Beso, sinnierte ich. Das System lag nicht weit von hier. Maximal drei Sprünge. Mir waren die wirtschaftlichen Daten nicht bekannt, aber wenn sie in Schwierigkeiten gewesen wären, die Besoer meinte ich, hätte ich es sicherlich erfahren.
»Fällig in drei Wochen«, sinnierte ich.
»Wie besprochen. Er ist gedeckt«, fügte der Mann hinzu. »Die Bank hat sich verbürgt«, sagte er unnötigerweise.
Ich nickte. »In Ordnung.« Ich griff in die Innentasche meiner Jacke, zog das Konnossement hervor, warf es auf den Tisch und ergriff den Wechsel. »Es war schön, mit Ihnen Geschäfte zu machen«, sagte ich und wandte mich dem Ausgang zu.
»Sechs weitere Leute, Menschen«, warnte mich Nadarja. »Sind ganz plötzlich aufgetaucht, Sam. Sam, das sind zu viele, ich kann sie nicht alle …«
»Wo stehen sie?«, fragte ich.
Der Handelsagent blickte mich entgeistert an. Er begann zu verstehen, dass ich mit jemand anderem sprach.
»Sie haben sich auf der Plaza verteilt, lungern herum. Durchtrainierte Kerle. Drei Männer, drei Frauen. Mit keinem von denen möchtest du zu tun haben, wenn du mich fragst. – Sam, ich kann die nicht alle ausschalten.«
»Nimm die aufs Korn, die am nächsten an der Tür sind. Um den Rest kümmern wir uns danach«, sagte ich, eilte zur Tür und stieß sie auf. Der Blick meines Geschäftspartners brannte geradezu auf meinem Rücken.
Draußen erwartete mich das Halbdunkel der Gänge hier auf Lardanur, einem ehemaligen Bergbauasteroiden im Gerdala-System. Es war der Hauptwarenumschlagplatz. Fast jedes Frachtschiff, das dieses System besuchte, lief ihn an, löschte hier seine Ladung, nahm neue auf und legte wieder ab. Für die wirklich großen Schiffe war es wirtschaftlich unrentabel, weiter systemeinwärts bis zur habitablen Zone zu fliegen und die Ladung dort zu löschen. Das konnten kleinere Einheiten übernehmen. Hier draußen war man fast auf Sprungdistanz, konnte somit Treibstoff sparen und schnell wieder im interstellaren Raum sein.
Rechts von der Tür, von mir aus gesehen, standen die Typen, die Nadarja mir zuerst angekündigt hatte. Die anderen konnte ich auf der Plaza nicht wirklich ausmachen. Da standen viele Gruppen von Leuten herum. Menschen und Nichtmenschen. Unterhielten sich, tranken, lachten. Es war der zentrale Punkt, der Treffpunkt auf Lardanur. Der Ort, an dem sich jeden Abend die Bevölkerung zusammenfand. Wir hatten geglaubt, dass es hier, in der Menge, für uns am sichersten sein würde.
Nadarja stand irgendwo drüben, am anderen Ende der Plaza. Wir hatten ausgemacht, dass sie mir in gebührendem Abstand folgen würde.
Ich machte mich auf den Weg. Nach links, weg von den Typen. Ich war ja nicht lebensmüde.
»Sie folgen dir, Sam«, flüsterte ihre Stimme in meinem Ohr. »Jetzt setzen sich auch die anderen in Bewegung. Die folgen in etwas größerem Abstand. Ich könnte wetten, dass das zwei verschiedene Gruppierungen sind«, sagte sie. »Ich gehe jetzt auch los. Sam«, sagte sie noch. »Sam, das sind zu viele. Wirf ihnen den Wechsel vor die Füße und lass uns abhauen.«
»Auf keinen Fall!«, erwiderte ich und beschleunigte meine Schritte.
Hundert Meter trennten mich vom Ausgang der Plaza. In hundert Metern musste ich in einen der engeren, höchstens zehn Meter breiten Gänge einbiegen. Spätestens dort würde mich die Menge der Leute, durch die ich mich hier noch hindurchwand, nicht mehr schützen können. Einfach aus dem Grunde, weil keine Menge mehr da war.
Die letzten zehn Meter begann ich zu laufen. Hier standen kaum noch Leute herum. Ich hatte freies Feld. Sozusagen.
Die anderen auch.
Sie liefen mir nach. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, dass mindestens zwei von ihnen irgendetwas in den Händen hielten. Waffen?
»Gib ihnen den Wechsel, Sam«, hörte ich Nadarjas Stimme in meinem Ohr. »Ich bin zu weit hinten, ich kann nicht eingreifen.«
»Scheiße!«, entfuhr es mir.
Ich stoppte, drehte mich um. Ich war etwa hundert Meter in den Gang hinein gekommen. Mich trennte noch gut ein Kilometer von den Andockbuchten. Nadarja hatte recht, es war unmöglich zu schaffen.
Da waren sie. Die fünf Typen hatten mich erreicht, standen gerade mal sechs Meter vor mir. Jetzt hielten sie alle etwas in der Hand. Keine Schusswaffen, das waren kurze kleine Stöcke, zum Zuschlagen gedacht – eine kleine Betäubungspistole wäre mir lieber gewesen.
Ich griff in meine Jackentasche. In die andere!
Der Kolben meiner kleinen Betäubungspistole lag beruhigend in meiner Hand, als ich sie wieder hervorholte.
Der Hilo glotzte mich überrascht mit seinen drei Augen an. Er hatte augenscheinlich nicht mit Gegenwehr gerechnet. Der Bortsu und die Menschen grinsten nur.
»Wen von uns willst du denn ins Reich der Träume schicken?«, fragte der Bortsu mit einer an Donnergrollen erinnernden Stimme. »Einen schaffst du, vielleicht zwei, die anderen machen dann Mus aus dir!« Sein Grinsen zog sich siegesgewiss über sein breites Gesicht.
Ich nahm mir vor, dass er der Erste sein würde, den ich ins Reich der Träume schicken würde. – Und, er kannte mich nicht. Ich würde noch seine beiden Kumpane, die links von ihm standen, ebenfalls versorgen. Die drei würden mindestens eine Woche lang mit heftigen Kopfschmerzen zu kämpfen haben. Was leider nichts an dem Endergebnis, was meine Person betraf, ändern würde. Nadarja war einfach noch zu weit entfernt.
Der Bortsu machte einen Schritt auf mich zu. »Überleg es dir. Rück den Wechsel raus, dann schlagen wir vielleicht nicht ganz so heftig zu«, sagte er.
Es war das Letzte, was er an diesem Abend sagte. Übergangslos stürzte er nach vorne und blieb bewegungslos liegen. Seine Kameraden glotzten ungläubig, dann fielen auch sie.
Völlig überrascht, starrte ich auf die vor mir liegenden Gestalten, ich hatte keinen Schuss abgegeben.
Zehn Menschen standen nunmehr vor mir. Durchtrainiert waren sie, damit hatte Nadarja recht gehabt. Sie schien sich lediglich verzählt zu haben.
»Kapitän Kors?«, fragte eine Frau, etwa Anfang dreißig, die den Trupp zu kommandieren schien.
Ich nickte. »Mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Leutnant Rogorna«, erwiderte sie. »Derolianische Abwehr«, ergänzte sie dann.
Ich starrte ungläubig vor mich hin. Hatten sie fünfeinhalb Jahre gewartet, um mich in flagranti bei meinem ersten Deal mit den Nüssen zu erwischen? Das hätten sie zwischenzeitlich doch einfacher haben können. Sie hätten mich auf unserer Plantage hochnehmen können oder auf einem der zahlreichen Frachtflüge, die ich durchgeführt hatte, um uns zu ernähren. Warum erst jetzt?
»Reicht Ihnen das oder soll ich mich ausweisen?«, fragte sie überflüssigerweise.
»Danke, das reicht mir«, entgegnete ich. »Derolianische Abwehr«, rief ich Nadarja zu, die mittlerweile mit gezogener Betäubungspistole hinter den Derolianern aufgetaucht war.
Die Derolianer fuhren herum, nahmen Nadarja ins Visier.
»Ihre Partnerin?«, fragte Rogorna.
»Ja. Wir werden keinen Widerstand leisten«, sagte ich und bedeutete Nadarja, die Waffe wegzustecken. Gegen eine solche Übermacht hatten wir keine Chance.
»Sie verkennen die Lage«, sagte Rogorna, griff in ihre Jackentasche und holte ein Pad hervor. »Wir haben einen anderen Auftrag. Sagt Ihnen der Name Lysange van der Meer etwas?« Mit diesen Worten fuhr sie mit ihrem Daumen über das Pad und übergangslos erschien ein mir nur allzu bekanntes Gesicht auf dem Display.
»Sam«, sagte sie mit ihrer mir immer noch durch Mark und Bein gehenden Stimme. »Sam, Leutnant Rogorna kannst du vertrauen, sie gehört zu meiner persönlichen Leibwache.« Dann machte sie eine Pause, erst jetzt gewahrte ich, dass es sich um eine Aufzeichnung handeln musste. »Sam, ich brauche deine Hilfe, ich habe ein Problem!«
Die Lahme Ente stand im Hangar. Mir war nicht wohl dabei. Das letzte Mal, als das der Fall war, zugegebenermaßen war es damals der Hangar eines Trägerschiffes und nicht der eines Kreuzers, aber der Unterschied erschien mir banal … Das letzte Mal befand ich mich in einer als Gefängnis empfundenen Kabine und hatte zwei vermutlich hochbegabte Wachen vor meiner Tür stehen.
Dieses Mal war es anders.
Dieses Mal hatten wir eine Suite. Zumindest im Vergleich zu damals. Drei Zimmer, ein Bad mit riesiger Wanne, eine kleine Küche und ein luxuriöses Schlafzimmer mit einem riesigen Bett.
»Hier lässt es sich aushalten«, war Nadarjas Kommentar. Mehr sagte sie nicht und warf sich auf das Bett. Dann sah sie mich lüstern an. »Geh duschen und komm wieder.«
Über fünf Jahre lebte ich nun mit dieser Frau zusammen. Wir waren in der Zeit durch dick und dünn gegangen. – Sie konnte mich noch immer überraschen!
»Du meinst also, ich hätte eine Dusche nötiger als du?«, fragte ich. Dann grinste ich sie an. »Was hältst du von einer gemeinsamen …?«
Der Türgong unterbrach mein ablaufendes Kopfkino. Ich ging zur Eingangstür unserer Suite und öffnete. Leutnant Rogorna, diesmal formal korrekt in derolianischer Uniform gekleidet, stand im Gang. Zwei vermutlich hochbegabte Soldaten, zumindest wenn man deren IQ addierte, begleiteten sie.
»Der Kapitän würde gerne mit Ihnen reden«, sagte sie, ohne Zeit mit einer förmlichen Anrede zu vergeuden. »Würden Sie mir bitte folgen?«
»Ich gehe nur zusammen mit meiner Partnerin«, entgegnete ich, mich eingehend an die Unterdrückung der Garata auf Sylvej erinnernd.
»Selbstverständlich«, sagte Rogorna. »Die Mater Majestrix hat eingehend darauf hingewiesen, dass Ihre Partnerin Ihren Status teilt.« Die Frau drehte sich um, einfach voraussetzend, dass wir ihr folgen würden.
Wir folgten!
Nadarja war aus dem Bett gesprungen und marschierte nun neben mir den Gang hinunter, hinter der Dreiergruppe. Das war mal eine ganz andere Erfahrung als bisher. Bislang waren wir in aller Regel immer vor Soldaten hermarschiert, die mit ihren Waffen auf uns gezielt hatten. Es war geradezu erholsam, mal eine andere Position einzunehmen.
Ich schielte nach rechts zu meiner Partnerin hinüber. Ihr schulterlanges, weißes Haar fiel auf eine rote Bluse. Eine gelbe Hose und braune Stiefel rundeten den optischen Eindruck ab. Ihre pechschwarze Gesichtshaut sorgte zusätzlich für den nötigen Kontrast. Ich bedauerte, dass wir so früh abgeholt worden waren …
In der Kleidung, die Nadarja nunmehr seit Jahren trug, fielen die Unterschiede zwischen ihrer Gattung und der des Homo sapiens nicht wirklich auf. Ich war nach wie vor der Ansicht, dass sie ohnehin nur äußerlich waren. Als Beweis diente mir die Tatsache, dass es möglich war, zwischen Garata und Menschen Nachwuchs zu zeugen. Das konnte nur innerhalb der Spezies geschehen. Die Garata mussten Nachkommen menschlicher Siedler sein, die sich genetisch ein klein wenig von der Hauptlinie der Menschheit entfernt hatten. Sechs Finger und Zehen an jeder Hand beziehungsweise Fuß und ein weißer Pelz am ganzen Körper, die Gesichtshaut ausgenommen, nun, das waren nicht wirklich ins Gewicht fallende Unterschiede. Meiner unmaßgeblichen Meinung nach waren die Garata unter der Gattung Homo sapiens zu subsummieren, egal was meine Partnerin und die Derolianer darüber dachten.
Der Kapitän des Schiffes erwartete uns in der Messe. Dort war ein Tisch fürstlich für uns gedeckt worden. Der Mann empfing uns in einer weißen Galauniform. Zuerst hatte ich befürchtet, dass es sich um dieselbe Art von Uniform wie die der Elitesoldaten auf Sylvej handelte. Nach einem kurzen Blick konnte ich mich jedoch davon überzeugen, dass es kein Garatapelz, sondern lediglich Baumwolle war, aus der die Uniform geschneidert worden war.
Der Mann war um die sechzig Standardjahre alt. Sein schütteres Haar trug er schulterlang zu Zöpfen geflochten. Die derolianische Mode musste ich nicht notwendigerweise kommentieren.
»Kapitän«, empfing er mich und verbeugte sich tief vor mir.
Danach ergriff er Nadarjas Hand und vollbrachte formvollendet einen Handkuss.
»Darf ich Sie an meine unscheinbare Tafel bitten?«
Ich stand kurz davor, laut loszuprusten, Nadarja trat mir gegen das Schienbein.
»Wir freuen uns, Ihre Gäste sein zu dürfen«, entgegnete sie an meiner statt.
Wir nahmen Platz, jeder an einem Ende des ausladenden Tisches. Ich war froh, dass ich weit genug von Nadarja weg saß, sodass sie mein Schienbein nicht mit ihrem Stiefel erreichen konnte. Neben uns und dem Kapitän des Kreuzers hatte auch Leutnant Rogorna einen Stuhl eingenommen.
»Ich fühle mich geehrt, Sie an Bord begrüßen zu dürfen. Den Lebensretter des Prinzen Majister«, fuhr der Kapitän fort.
»Er ist verstorben«, warf ich ein. »Ich war anwesend und konnte ihm nicht helfen.«
»Ich weiß«, winkte er ab. »Aber wären Sie nicht gewesen, die Prinzess Majister würde heute nicht leben.«
Leutnant Rogorna reagierte unpassend. Sie versuchte ihr Glas zu ergreifen, griff daneben und vergoss den Inhalt. Rotwein verteilte sich auf der weißen Tischdecke.
»Verzeihung«, sagte sie. »Ungeschickt von mir.«
Lakaien eilten herbei, hoben unsere Gläser an und tauschten die Tischdecke aus.
Ich fokussierte den Leutnant. Ich hatte sie genau beobachtet, das war tatsächlich ein Missgriff gewesen und keine Absicht. Aber … sie war fahrig gewesen. Irgendetwas hatte diese Frau aufgewühlt, hatte sie aus der Fassung gebracht. Was konnte das gewesen sein? Der Kapitän hatte doch nichts wirklich Weltbewegendes von sich gegeben?
Der Kapitän nahm sich zusammen, das war klar erkennbar. Für ihn stellte Rogorna nur eine weit, sehr weit, unter ihm im Rang stehende Offizierin dar. Aber eine Offizierin mit Sonderstatus. Sie gehörte zur Leibwache der Mater der Prinzess Majestrix. Das war offenbar Sonderstatus genug, um es ihr zu ermöglichen, hier mit uns am Tisch zu sitzen und nicht für den begangenen Fauxpas gemaßregelt zu werden. Jeder andere Offizier wäre des Tisches verwiesen worden, so gut traute ich mir zu die derolianischen Gepflogenheiten zu kennen.
Der Rest des Abends verlief unspektakulär. Das Tischgespräch dümpelte vor sich hin. Drei Gänge und zwei Stunden später verabschiedeten wir uns und Leutnant Rogorna eskortierte uns, zusammen mit den beiden hochbegabten Soldaten, zu unserer Suite.
»Morgen werden wir Derolia erreichen«, sagte sie bei der Verabschiedung. »Die Mater Majestrix wird sie am Nachmittag empfangen.«
Wir fielen fast übergangslos ins Bett. Meinen Annäherungsversuchen begegnete Nadarja mit Kopfschmerzen und einem langen, noch zu verarbeitenden Tag. – Versteh einer die Frauen!
Ich lag noch lange wach.
Wieso hatte Leutnant Rogorna Lysange als Mater Majestrix bezeichnet und nicht als Mater der Prinzess Majestrix? Ich hatte gelernt, bei den Derolianern auf jedes Wort zu achten.