STEPHEN BAXTER
DAS ENDE
DER MENSCHHEIT
ROMAN
Eine Fortsetzung von
Der Krieg der Welten
von H. G. Wells
Aus dem Englischen übersetzt
von Peter Robert
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Das Buch
Vierzehn Jahre sind vergangen, seit die Marsianer auf der Suche nach neuen Wasser- und Rohstoffquellen zur Erde kamen. Seit sie mit den Hitzestrahlen ihrer dreibeinigen Kampfmaschinen die Städte Englands in Schutt und Asche legten. Und seit sie an den Mikroben der Erde zugrunde gingen. Vierzehn Jahre, in denen nun Wohlstand und Fortschritt in England herrschen – die Gefahr aus dem All ist gebannt.
Nur Walter Jenkins, der einst selbst im Krieg gegen die Marsianer kämpfte und in seinem Bestseller »Die Aufzeichnungen« die Schrecken der Invasion festhielt, traut dem Frieden nicht. Sie werden wiederkommen, davon ist Jenkins überzeugt. Und sie werden aus ihrer Niederlage gelernt haben. Doch niemand glaubt ihm. Er wird belächelt, bemitleidet und als traumatisierter Kriegsveteran abgestempelt.
Aber dann kommt der Tag, an dem die ersten Geschützfeuer am Himmel gesichtet werden. Und diesmal ist nicht nur England betroffen. Berlin, San Francisco, Tokio – die Marsianer landen überall auf der Erde. Das Ende der Menschheit hat begonnen …
Mit Das Ende der Menschheit hat Stephen Baxter eines der modernsten und packendsten Science-Fiction-Epen der Gegenwart geschrieben – und H. G. Wells ein literarisches Denkmal errichtet.
Der Autor
Stephen Baxter, 1957 in Liverpool geboren, studierte Mathematik und Astronomie, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Er zählt zu den weltweit bedeutendsten Autoren wissenschaftlich orientierter Literatur. Etliche seiner Romane wurden preisgekrönt und zu internationalen Bestsellern. Stephen Baxter lebt und arbeitet im englischen Buckinghamshire.
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Titel der englischen Originalausgabe
The Massacre of Mankind
Deutsche Erstausgabe: 11/2017
Redaktion: Ralf Dürr
Copyright © 2017 by Stephen Baxter
Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Zitatnachweis Seite 5: H. G. Wells: Der Krieg der Welten,
aus dem Englischen übersetzt von Hans-Ulrich Möhring,
Frankfurt/M. 2017
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,
Jacket design and illustration © blacksheep-uk.com/Orionbooks
Image reference: © Shutterstock
Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
ISBN: 978-3-641-20492-1
V001
www.diezukunft.de
ZUM GELEIT
»Niemand hätte im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert geglaubt, dass das Treiben auf der Erde scharf und genau von Wesen beobachtet wurde, die intelligenter waren als die Menschen und doch nicht minder sterblich; dass die Menschen bei allem, was sie so emsig betrieben, akribisch überwacht und erforscht wurden, vielleicht fast genauso akribisch, wie ein Mensch mit einem Mikroskop die kurzlebigen Kreaturen erforscht, die in einem Tropfen Wasser wimmeln und sich mehren …«
Mit diesen Worten beginnt einer der berühmtesten Romane der Literaturgeschichte: H. G. Wells’ Der Krieg der Welten von 1898. Und so faszinierend er beginnt, so faszinierend geht er auch weiter: Denn die »Wesen«, von denen hier die Rede ist, entpuppen sich als Bewohner des Planeten Mars. Sie haben die Ressourcen ihrer Welt erschöpft und auf der Suche nach einer neuen Nahrungsquelle beschlossen, die Erde zu erobern, um die menschliche Spezies zu Nutztieren zu degradieren. Ihre spektakuläre Ankunft auf der Erde ist der Auftakt zu einem Krieg von wahrhaft planetarem Ausmaß.
H. G. Wells verarbeitete in Der Krieg der Welten sowohl die wissenschaftlichen Spekulationen seiner Zeit über die Beschaffenheit des Mars als auch die Ängste der viktorianischen Epoche vor einem Angriff einer fremden Macht auf Großbritannien. Damit gelang ihm eine beklemmende Antizipation des modernen Krieges, wie er 1914 über Europa hereinbrechen sollte. Gleichzeitig legte er mit dieser damals gänzlich neuartigen Geschichte einer Invasion von einem anderen Planeten nicht nur den Grundstein für eines der erfolgreichsten Genres unserer Zeit, die Science-Fiction, sondern er schuf auch ein Narrativ, das inzwischen zum festen Bestandteil der populären Kultur gehört. Selbst wenn man Der Krieg der Welten nicht gelesen hat, hat man doch die spektakulären Motive und Bilder des Romans vor Augen, die in zahlreichen Filmen und Hörspielen (1938 löste die Hörspiel-Adaption von Orson Welles bekanntermaßen eine Massenpanik aus) immer wieder neu aufbereitet wurden: die dreibeinigen Kampfmaschinen der Marsianer, die mit ihren Hitzestrahlen auf alles schießen, was sich bewegt; Tausende von Menschen, die vor den Invasoren durch eine apokalyptische Landschaft fliehen; der unaufhaltsame Zerfall der menschlichen Zivilisation und der Rückzug der Überlebenden in Keller und entlegene Verstecke; und natürlich das überraschende Ende des Krieges: der Tod der Außerirdischen, verursacht durch einen allzu irdischen Mikroorganismus.
Aber sind die Marsianer am Ende von Der Krieg der Welten tatsächlich besiegt? Wells’ Erzähler schließt seinen Bericht über die Invasion mit einem »bleibenden Gefühl des Zweifels und der Unsicherheit«. Das Leben auf der Erde geht zwar weiter, die Menschen kehren in die Städte zurück, und die zerstörten Kampfmaschinen der Marsianer werden zur Touristenattraktion. Doch nichts kann die Außerirdischen davon abhalten, aus ihrer Niederlage Lehren zu ziehen und eine neue Invasion zu planen – härter und vernichtender als zuvor.
H. G. Wells hat diese Geschichte vom »Zweiten Krieg der Welten« zu seinen Lebzeiten nicht aufgeschrieben, doch sie war in seinem großen Roman Der Krieg der Welten immer angelegt. Denn die von ihm erdachten Wesen – »intelligenter als die Menschen und doch nicht minder sterblich« – werden nicht ruhen, ehe sie nicht ihr Ziel erreicht haben: die vollständige Eroberung des Planeten Erde und ...
DAS ENDE
DER MENSCHHEIT
Für
H. G. WELLS
diese Weiterführung seiner Idee.
Und für die H. G. Wells Society.
»Wenn die Astronomie etwas lehrt, dann, dass der Mensch nur ein Detail in der Entwicklung des Universums ist und dass er unweigerlich damit rechnen muss, in der Vielzahl der Himmelskörper um ihn herum auf ähnliche, wenn auch unterschiedlich geartete Details zu stoßen. Zwar wird er wohl nirgends einen exakten Doppelgänger antreffen, aber er begreift, dass es ihm bestimmt ist, in den Weiten des Weltalls jede Menge Verwandte zu finden.«
Percival Lowell, Mars, 1895
»Mir schien, dass die Menschheit gerade im Begriff stand, zu einem tief greifenden Verständnis ihres Platzes im Kosmos zu gelangen. Die geistige Welt war von Spekulationen und Hoffnungen erfüllt. Dann kamen die Marsianer zurück.«
Walter Jenkins, Aufzeichnungen aus den Kriegen gegen die Marsianer, 1913 und 1928
ERSTES BUCH
DIE RÜCKKEHR DER MARSIANER
1
DER RUF
Für diejenigen von uns, die ihn überlebt haben, war der Erste Krieg gegen die Marsianer Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eine verheerende Katastrophe. Und doch ist dieser Konflikt jenen Wesen, die weitaus intelligenter sind als wir und sogar noch älter als die Marsianer, Wesen, die unsere Welt von den kalten, fernen Regionen des Weltalls aus betrachten, gewiss belanglos und unwürdig erschienen.
Je weiter eine Welt von der Sonne entfernt ist, desto älter und kälter muss sie sein. Folglich ist die Erde älter als die heiße, fruchtbare Venus; und der Mars, karg und frostig, ist wiederum älter als unser wohltemperierter Erdball. Die äußeren Welten, Saturn, Uranus und Neptun, sind dagegen uralt und im Stillstand von Zeit und Eis gefangen. Doch der Jupiter – der König der Planeten, massereicher als alle anderen zusammen, älter als der Mars, so wie dieser älter ist als unsere Welt, und von seinem eigenen inneren Feuer erwärmt – beherbergt ohne Zweifel die größten Intellekte. Wir wissen mittlerweile, dass diese Jovianer uns schon lange beobachten – die Menschheit, die Marsianer, sogar die unschuldige Venus. Was mögen sie wohl von unserem Krieg gehalten haben? Die zarten Funken auf ihrem Flug durch die Nacht, die auflodernden Flammen auf der grünen Haut unseres Planeten, die tintenschwarzen Rauchflecken – die Schwärme der hilflosen Erdenbewohner … Die Jovianer blickten auf all dies wie ein schweigender Gott auf seine fehlerhaften Geschöpfe, mit unvorstellbaren Gedanken und tiefer Missbilligung.
Und doch, behauptet Walter Jenkins, dieser große Chronist des Ersten Krieges, bilde dieser prüfende kosmische Blick den Kontext, in dem wir, die wir uns einst für die Herren der Schöpfung hielten, unser belangloses Leben verbringen müssten. Walter hatte recht. Dieser gewaltige Kontext sollte nicht nur den Zweiten Krieg umfassend prägen, sondern auch den wichtigsten Augenblick meines eigenen Lebens.
Andererseits denke ich wie die meisten Menschen für gewöhnlich nicht über diese Dinge nach, um nicht den Verstand zu verlieren.
Und da wir gerade von einem prüfenden Blick sprechen: Während ich mit diesen meinen eigenen Memoiren beginne, muss ich nolens volens anerkennen, welch langen Schatten jenes Grabmal von einem Buch wirft, das jeder als Die Aufzeichnungen kennt, die Geschichte des Ersten Krieges, niedergeschrieben von Walter, meinem hochgeschätzten Schwager – falls ich ihn nach meiner Scheidung von Frank, seinem Bruder, noch so nennen kann –, ein Werk, das, wie Walters Therapeut Freud vielleicht sagen würde, mit der Intensität eines Hitzestrahls ein bestimmtes Bild des Ersten Krieges gegen die Marsianer ins öffentliche Unterbewusstsein eingebrannt hat. Ich möchte die Leser deshalb von Anfang an warnen: Falls Sie auf die Erhabenheit des Kosmos Wert legen, auf eine Darstellung in der hochfliegenden Prosa eines Mannes, der einst dafür bezahlt wurde, solche Sachen zu schreiben, sollten Sie sich einen anderen Berichterstatter aussuchen. Wenn Sie jedoch eine ehrliche, sachliche Schilderung meiner eigenen Erlebnisse wünschen – einer Frau, die den Ersten Krieg gegen die Marsianer überstand und deren Leben im Zweiten in Stücke gerissen wurde –, dann lege ich Ihnen in aller Bescheidenheit dies hier vor, meine Sicht der Geschichte.
Obwohl es zugegebenermaßen eine Ironie ist, dass meine Erlebnisse im zweiten Konflikt mit einer komplizierten Abfolge von Telephonanrufen von Walter persönlich begannen, lange bevor ein Marsianer wieder einen Fuß auf diese Erde setzte. Die Anrufe kamen aus einem Hospital in Wien. Ich, die ich mir gerade geduldig ein neues Leben in der Neuen Welt aufbaute, wollte eigentlich nichts mit all dem zu tun haben. Aber ich war schon immer ein pflichtbewusster Mensch. Deshalb folgte ich dem Ruf.
Eine Klapsmühle, beim Jupiter! Es war von Anfang an eine verworrene Geschichte.
2
EIN VETERANENTREFFEN
Die erste Ahnung des heraufziehenden Sturms befiel mich in New York, genauer: beim Woolworth Building, wohin mich Major Eric Eden (i. R.) bestellt hatte, um mir, wie er sagte, eine Nachricht von Walter Jenkins zu überbringen.
Mein junger Kollege Harry Kane bestand darauf, mich zu begleiten. Harry gehörte zu jener Sorte dreister amerikanischer Journalisten, denen alles Europäische generell verdächtig ist – eine Einstellung, die er auch schon vor dem Schlieffen-Krieg hatte, denke ich. Harry kam vor allem zur moralischen Unterstützung mit, aber auch aus einer professionellen Neugier in Bezug auf den Krieg gegen die Marsianer, der für ihn nur ein fernes Spektakel seiner Jugend gewesen war.
Also machten wir uns auf den Weg. Es war ein frischer Märztag im Jahr 1920. Manhattan hatte, wie jedermann hoffte, den letzten Schneesturm des Jahres erlebt, obwohl sich als Hauptgefahr an diesem Morgen die Matschhaufen am Rand der Bürgersteige erwiesen, die stets bereit waren, einen unachtsamen Knöchel einzuweichen. Ich erinnere mich an diesen Morgen: das fröhlich-übellaunige Verkehrsgewimmel, die elektrischen Reklametafeln, die im Grau des Tages leuchteten – die pure, unschuldige Vitalität einer jungen Nation –, in jenen letzten Stunden und Minuten, bevor ich wieder in die Angelegenheiten des düsteren, verwundeten alten Englands hineingezerrt wurde.
Schließlich schoben Harry und ich uns durch die Türen ins Woolworth hinein. Die aufgeheizte, von Düften erfüllte Luft in der Eingangshalle traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Zu jener Zeit hatten es die Amerikaner gern sehr warm in ihren Innenräumen. Ich öffnete den Mantel, löste mein Kopftuch, und wir gingen über einen Boden aus poliertem griechischem Marmor, der von geschmolzenem Schnee und Straßenschmutz befleckt war. In der Eingangshalle herrschte reger Betrieb. Harry sagte über den Lärm hinweg mit seinem üblichen Gehabe amüsierter Distanz – ein attraktiver Zug bei einem ein paar Jahre jüngeren Mann, auch wenn es nicht so klingt: »Dein Major Eden kennt sich in der Stadt offenbar nicht so gut aus.«
»Das weißt du schon, ohne ihm jemals begegnet zu sein?«
»Klar doch. Welchen Treffpunkt hätte er sonst wählen sollen? In London würde sich ein Amerikaner bei St. Paul’s verabreden – das ist die Kathedrale mit dem Loch in der Kuppel, stimmt’s? Und ein Brite in New York – nun, hier sind wir, im höchsten Gebäude der Welt!« Er zeigte auf jemanden. »Und da ist er übrigens auch.«
Der Mann, auf den er deutete, stand abseits der Menge. Er war schlank, nicht sehr groß und trug einen Cutaway, der keineswegs billig, im Vergleich zu der pfauenbunten Kleidermode um ihn herum jedoch unansehnlich wirkte. Wenn dies Eden war, sah er jünger aus als seine achtunddreißig – er war sechs Jahre älter als ich.
»Und das muss Eden sein, weil …«
»Weil er der Einzige ist, der sich die Ornamente ansieht.«
Tatsächlich schaute der Mann zur Decke hinauf, die (hatte ich das schon jemals bemerkt?) mit römisch, vielleicht auch byzantinisch aussehenden Mosaiken überzogen war. Typisch für die Amerikaner: In diesem neuen Denkmal für den Triumph des Mammons verspürten sie das Bedürfnis, auf ihre ausrangierte europäische Vergangenheit zurückzugreifen.
Harry setzte sich in Bewegung. »Und könnte er noch mehr wie ein Engländer im Ausland aussehen?«, sagte er leise. »Wenn er sich nicht besser an seine Umgebung anzupassen versteht, ist es kein Wunder, dass ihn die Marsianer erwischt haben.«
Ich prustete los, während ich ihm folgte. »Pst. Du bist schrecklich. Der Mann ist ein Held.« Eric Eden war immerhin der einzige lebende Mensch, der einen funktionstüchtigen marsianischen Zylinder von innen gesehen hatte – ’07 war er schon in den ersten Tagen in Gefangenschaft geraten, als das Militär in seiner Ignoranz die erste Landegrube bei Woking untersucht hatte. Eric, der am Leben erhalten worden war, vielleicht als Versuchskaninchen für spätere Untersuchungen, hatte sich praktisch mit bloßen Händen aus dem Weltraumzylinder herausgekämpft und war letztlich mit unschätzbar wertvollen Informationen über die marsianische Technologie zu seiner Einheit zurückgekehrt.
Held hin oder her, Eric wirkte ziemlich nervös, als wir auf ihn zusteuerten. »Mrs. Jenkins, nehme ich an …«
»Ich ziehe Miss Elphinstone vor. Seit meiner Scheidung.«
»Verzeihung. Sie haben mich vermutlich von den Plakaten in den Fenstern der Buchhandlungen wiedererkannt.«
Harry grinste. »So ungefähr.«
»Es ist eine gut vorbereitete Lesereise. Momentan nur Bert Cook und ich, aber in Boston sollen wir auf den alten Schiaparelli treffen – den Entdecker der Kanäle, Sie wissen schon –, er ist jetzt in den Achtzigern, aber noch immer gut in Form …«
Ich stellte Harry rasch vor. »Wir arbeiten beide für die Post.«
»Ich habe Ihr Buch nicht gelesen, Sir«, gab Harry zu. »Ist nicht so ganz mein Gebiet. Ich kämpfe gegen Tammany Hall, nicht gegen Marsmenschen.«
Eric schaute verblüfft drein, und ich fühlte mich genötigt, zu dolmetschen. »Tammany Hall ist der große politische Apparat der Demokraten in der Stadt. Bei den Amerikanern hat alles gewaltige Dimensionen, auch die Korruption. Und das waren keine Menschen in diesem Zylinder, Harry.«
»Allerdings«, fuhr Harry unbeeindruckt fort, »mische ich selbst auch ein bisschen im Buchgeschäft mit. Mein Genre sind Sensationsromane, aber ich habe ja auch keine heroische Vergangenheit, mit der ich hausieren gehen könnte.«
»Seien Sie froh«, sagte Eric ziemlich leise. Ein Satz, der auf mich wie der Inbegriff britischen Understatements wirkte! »Miss Elphinstone, Walter Jenkins hat mich schon vorgewarnt, dass Sie wahrscheinlich … äh … wenig Neigung verspüren würden, sich erneut in seine Angelegenheiten hineinziehen zu lassen. Nichtsdestotrotz hat Mr. Jenkins mir nachdrücklich klargemacht, wie wichtig seine Nachricht für Sie und den Rest seiner Familie ist. Offenbar hat er die Verbindung zu Ihnen allen verloren. Deshalb musste er wohl auf solch umständliche Weise versuchen, über mich mit Ihnen in Kontakt zu treten.«
»Ach wirklich?« Harry grinste. »Ist das nicht alles ein bisschen meschugge?« Er drehte einen Finger an seiner Schläfe hin und her. »Der Mann muss also mit seiner ehemaligen Gattin sprechen, und das kann er nur, indem er Kontakt zu jemandem auf der anderen Seite der Welt aufnimmt, den er kaum kennt, bei allem Respekt, Sir, in der Hoffnung, dass er mit der ehemaligen Gattin seines Bruders reden kann …«
»So ist Walter nun mal.« Ich verspürte den seltsamen Drang, den Mann zu verteidigen. »Er war schon immer ein bisschen neben der Spur.«
»Und wahrscheinlich nicht erst, seit er wochenlang von Marsianern durchs Land gehetzt wurde«, sagte Eric grimmig.
Harry, jung und selbstbewusst, hatte durchaus Mitgefühl, aber ich sah, dass er es nicht verstand. »Ich wüsste auch nicht, welche Gefälligkeiten Jenkins Ihnen erwiesen hat, Major Eden. Ich habe das Interview mit Ihnen in der Post gelesen. Darin haben Sie ihn angegriffen, weil er behauptet hat, mehr als irgendein anderer Augenzeuge von den Marsianern gesehen zu haben, als diese in England noch frei herumliefen. Wie Sie sagten, Sie haben garantiert Dinge gesehen, die er nie gesehen hat.«
Eric hob höflich die Hand. »Tatsächlich habe ich das nicht gesagt, oder zumindest nicht so. Ihr Reporter hat es in seinem Text etwas aufgebauscht – nun ja, Zeitungen müssen sich verkaufen, nehme ich an. Aber ich finde eher, dass wir Veteranen … zusammenhalten sollten. Und außerdem hat Jenkins mir auf längere Sicht sehr wohl einen Gefallen getan. Man kann nicht leugnen, dass es seine Memoiren sind, die seit ihrem Erscheinen die öffentliche Wahrnehmung des Krieges am stärksten geprägt haben. Und er erwähnt mich, wissen Sie.«
»Ach wirklich?«
»O ja. Erstes Buch, achtes Kapitel. Obwohl er irrtümlich von mir behauptet, ich sei ›als vermisst gemeldet‹. Nur für kurze Zeit!«
Ich schnaubte. »Der Mann steht im Lexikon unter ›unzuverlässiger Erzähler‹.«
»Aber er hat nie etwas über meine Abenteuer erzählt, wie zum Beispiel über die von Bert Cook, sodass ich die Chance hatte, selbst davon zu erzählen – und meine Verleger konnten es als ›bislang unbekannte Geschichte‹ etikettieren.«
Harry lachte. »Letztendlich geht es also bloß ums Geschäft? Dafür habe ich wirklich vollstes Verständnis. Na schön, wie soll’s nun weitergehen, Major Eden? Wollen wir den ganzen Tag hier herumstehen und Fresken anstarren?«
»Eigentlich sind es Mosaiken. Verzeihung. Mr. Jenkins möchte mit Ihnen sprechen, Miss Elphinstone. Ich meine, er möchte Sie anrufen.«
Harry stieß einen Pfiff aus. »Aus Wien? Ein Transatlantikgespräch? Das wird mehr als nur ein paar Pennys kosten. Ich weiß, wir sind alle ganz aus dem Häuschen wegen des neuen Seekabels und so weiter, aber trotzdem …«
Eric lächelte. »Nach meiner Kenntnis mangelt es Mr. Jenkins nicht an Pennys, dank des Erfolgs seines Buches. Ganz zu schweigen von den Erlösen aus den Rechten für die Filmversionen.« Er warf einen raschen Blick auf seine Armbanduhr. »Jedenfalls wird Jenkins in unserer Hotelsuite anrufen – das heißt, in der von Bert und mir. Falls Sie nichts dagegen hätten, mich dorthin zu begleiten …«
»Welches Hotel?«
Eric schaute ein wenig verlegen drein. »Das Plaza.«
Harry lachte schallend.
»Ich selbst wäre ja mit einer bescheideneren Unterkunft zufrieden gewesen, aber Bert Cook …«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, sagte ich. »Aber …« Ich schaute Eric in die Augen und erkannte etwas von mir selbst darin – etwas, was ich niemals mit Harry teilen konnte, so gutherzig er war. Den Blick des Kriegsveteranen. »Warum will er anrufen? Könnte es sein, dass sie zurückkommen? Und warum gerade jetzt? Das passt doch zeitlich gar nicht, oder?«
Eric zuckte nur die Achseln, aber er wusste, was ich meinte.
Ich war keine Astronomin, aber seit dem Krieg gegen die Marsianer hatten wir alle etwas vom Tanz der Planeten aufgeschnappt. Der Mars und die Erde jagen einander um die Sonne wie Rennwagen auf der Brooklandsstrecke. Die Erde auf der Innenbahn bewegt sich schneller und überholt den Mars in regelmäßigen Abständen. Und in diesen Momenten des Überholvorgangs, die man als Opposition bezeichnet (weil sich die Sonne und der Mars dann am Erdhimmel gegenüberstehen), kommen sich der Mars und die Erde am nächsten. Aber die Umlaufbahn des Mars ist elliptisch, ebenso wie die der Erde, wenn auch in geringerem Grad – das heißt, sie beschreiben keine perfekten Kreise. Darum variiert ihre Entfernung bei dieser größten Annäherung von einer Begegnung zur anderen, von rund sechzig Millionen Meilen oder mehr bis zu weniger als vierzig Millionen – die allergrößte Annäherung nennt man perihelische Opposition. Auch da gibt es einen Zyklus. Die maximalen perihelischen Annäherungen finden etwa alle fünfzehn Jahre statt: 1894, dann 1909 und erneut 1924 …
»Bis zur nächsten perihelischen Opposition sind es noch vier Jahre«, zitierte ich aus dem Gedächtnis. »Der Angriff von 1907 fand zwei Jahre vor dem letzten Perihel statt. Also kommen sie, wenn überhaupt, frühestens in zwei Jahren. Aber falls sie das Muster durchbrechen und doch schon dieses Jahr kommen, sind sie vielleicht schon unterwegs. Dieses Jahr tritt die Opposition am 21. April ein …«
»Und wie jedes Blatt einschließlich unseres eigenen heraustrompetet hat«, warf Harry ein, »würde das auf ein Startdatum am 27. Februar zurückverweisen: vor ein paar Wochen.«
Weitere grimmige, im Gedächtnis gespeicherte Logik. 1907 war das Oppositionsdatum – der Zeitpunkt der größten Annäherung beider Welten – der 6. Juli gewesen. Die Landungen hatten genau drei Wochen und einen Tag davor begonnen, und die riesigen Geschütze auf dem Mars hatten wiederum vier Wochen und vier Tage davor zum ersten Mal gefeuert.
Aber wir wussten alle: Selbst wenn die Astronomen irgendetwas Unheilvolles auf dem Mars gesehen hatten, so hätte dennoch keiner von uns etwas davon erfahren. Seit dem Krieg gegen die Marsianer hatten die Regierungen einen Mantel des Schweigens über die Arbeit der Astronomen gebreitet. Angeblich sollte das dazu dienen, der Panik während der Oppositionen von 1909, 1911 und 1914 Einhalt zu gebieten, törichtem Alarmgeschrei, das dem Geschäftsklima abträglich gewesen war und so weiter, ohne dass auch nur ein einziger Marsianer aus seinem Zylinder hervorgelugt hätte – aber es hatte zumindest in Großbritannien dazu geführt, dass der Besitz eines nicht angemeldeten astronomischen Teleskops ein Straftatbestand war. Ich konnte die Logik nachvollziehen, aber in meinen Augen führte eine solche Geheimniskrämerei nur zu noch mehr Angst und Unsicherheit.
Es war also möglich, dass die Zylinder jetzt gerade durch den Weltraum schwebten – auf dem Weg zu uns! Warum sonst hätte sich Walter auf diese Weise an uns wenden sollen? Aber Walter war Walter, ein Mensch, der niemals ohne Umschweife zur Sache kam; ich wusste, dass eine Zeit der Ungewissheit vor mir lag, bevor sich diese jähe Anspannung wieder lösen würde.
»Na, dann wollen wir uns mal anhören, was er zu sagen hat«, erklärte ich so tapfer, wie ich konnte. Ich hängte mich bei Eric ein; Harry nahm meinen anderen Arm; und so verließen wir zu dritt die Eingangshalle. »Ich glaube, ein oder zwei Stunden Luxus im Plaza könnte ich aushalten.«
»Und ich«, sagte Harry, »freue mich schon darauf, diesen Cook zu treffen. Wirklich ein schräger Vogel, wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was er sagt!«
3
EIN ARTILLERIST IN NEW YORK
Wir nahmen ein Taxi zu dem Hotel Ecke 58th Street und 5th Avenue. Wer es nicht weiß: Der Haupteingang liegt zur Grand Army Plaza hin, die früher einmal dem Andenken an die Heldentaten des Unionsheeres im Bürgerkrieg gewidmet war. Seit ’22 sind Denkmäler für einen anderen Konflikt hinzugekommen. Aber zu jener Zeit bot sie einen großartigen Anblick.
Erics Suite war so komfortabel und luxuriös wie erwartet, mit Polstermöbeln und einem grandiosen Ausblick auf die Plaza draußen. Eine Flasche Champagner stand entkorkt auf einem niedrigen Glastisch. Die Luft war von den blechernen Klängen einer Ragtime-Combo erfüllt, die aus einem Radioapparat strömten – nicht aus einem jener kompakten, vom Staat gestellten Volksempfänger, die allseits unter dem Namen »Marvins Megaphon« bekannt waren und die man damals in jedem britischen Haushalt gefunden hätte, sondern aus einem großen, klobigen amerikanischen Gerät in einem Walnussholzschrank.
Und in dieser Szenerie lümmelte Albert Cook auf einem Sofa und blätterte müßig in der Farbbeilage einer Zeitschrift. Bei meinen ersten Aufenthalten in amerikanischen Hotels war ich geradezu überwältigt gewesen von solchen Annehmlichkeiten wie einem eigenen Bad, einem Zimmertelephon und Cerealien zum Frühstück. Aber Cook schien sich bei all dem ganz in seinem Element zu fühlen.
Cook war ein wenig älter als Eric, vielleicht vierzig Jahre alt; er hatte ordentlich geschnittenes schwarzes, von grauen Strähnen durchzogenes Haar und eine bläuliche Narbe in der unteren Gesichtshälfte (später kamen mir allerdings Gerüchte zu Ohren, er schminke sie der Wirkung halber nach). Und während von Erics Werk nichts zu sehen war außer einem einzelnen, ziemlich ramponierten Leseexemplar des Buches auf einer Anrichte, wurde der Raum von einem Plakat auf einem Ständer beherrscht: eine Photographie von Cook in zerrissener Uniform, eine Art Knüppel schwingend, mit der Aufschrift:
MEMOIREN EINES ARTILLERISTEN
Eric machte uns rasch miteinander bekannt. Cook stand nicht auf. Er bedachte Harry mit einem Grunzlaut und musterte mich von oben bis unten, offenbar enttäuscht, eine schicklich mit einem Hosenanzug bekleidete Frau vor sich zu sehen. Was mich betrifft, so war der Blick, den ich ihm zuwarf, hoffentlich vernichtend. Nach dem Ersten Krieg hatte ich beschlossen, auf jegliche Kleidung zu verzichten, in der ich nicht bequem Fahrrad fahren konnte, und ich mochte auch die aufgehübschten modischen Anzüge nicht, sondern die robusten Versionen, die die Munitionettes und andere trugen, ob es Cook nun gefiel oder nicht.
Er wandte sich wieder seiner Zeitschrift zu. »Also, noch eine halbe Stunde bis zu diesem verdammten Anruf, Eric?«
Eric nahm die Champagnerflasche aus dem Sektkühler; sie war nur noch zu einem Drittel gefüllt. Er warf mir einen entschuldigenden Blick zu. »Wenn Sie möchten, dass ich noch welchen bestelle …«
Harry und ich lehnten beide ab.
»Bitte setzen Sie sich, geben Sie mir Ihre Mäntel …«
»Und lassen Sie sich von mir nicht stören«, sagte Cook träge. »Ich verschwinde, sobald der Prof aus seiner Ballaballaburg im Ausland anruft. Ich habe dem nichts zu sagen. Ich habe ihm schon seit Putney nichts mehr zu sagen, als er meinen Schnaps getrunken, mich im Schach besiegt und sich verdrückt hat, bevor die Arbeit losging.«
Harry lachte. »Wir haben das Buch alle gelesen, Mann. Welche Arbeit? Sie hatten ja noch gar nicht richtig angefangen, diesen großartigen Tunnelbau- und Sabotageplan, von dem Sie da geträumt haben, in die Tat umzusetzen …«
»So erzählt er das. Dieser aufgeblasene Akademikerschnösel. Ich hätte ihn verklagen sollen.«
»So, wie Sie wohl auch Charlie Chaplin verklagen werden.«
Cook machte ein finsteres Gesicht, denn das war ein wohlbekannter wunder Punkt bei ihm. Chaplin verdankte seinen Ruhm als Filmstar großenteils dem Erfolg einer Figur, dem »kleinen Soldaten«, ein komischer, gutherziger Kanonier mit schlecht sitzender Uniform, der ständig davon träumte, ein General zu sein, während seine Geschütze in Wolken von rußigem Rauch explodierten. Man hätte weitaus dickere Haut haben müssen als Albert Cook, um nicht zu erkennen, woher das stammte. Aber Cook war schließlich bloß Kutscher gewesen.
Im Versuch, Harrys mangelndes Taktgefühl zu überdecken, warf ich rasch ein: »Ich bezweifle, dass auch nur einer von uns in Walters Buch gut weggekommen ist. Ich habe es jedenfalls nie ganz verwunden, wie er mich der Welt vorgestellt hat.« Die Worte, mit denen Walter geschildert hatte, wie sein Bruder meiner Schwägerin und mir auf unserer Flucht vor den Marsianern geholfen hatte, Räuber abzuwehren, waren in meine Seele eingebrannt. »›Zum zweiten Mal an diesem Tag legte das Mädchen ein Probe seiner Unerschrockenheit ab.‹ Das Mädchen! Und so weiter. Ich hätte von den Suffragetten ausgestoßen werden können, bevor sie verboten wurden.«
Aber Cook hörte nicht zu, eine Eigenschaft, die, wie ich noch feststellen sollte, typisch für ihn war. »Hätte ihn verklagen sollen, egal, was die Anwälte sagen.«
Eric schüttelte den Kopf. »Seien Sie kein Narr. Er hat Sie zum Helden gemacht! Ungewollt, das gebe ich zu. Ich habe Sie vor Publikum sprechen sehen – Sie wissen, wie die Leute auf Details reagieren –, wie Sie, als die Meute vor den Marsianern floh, ganz allein auf sie zugerannt sind, weil Sie dachten, dass es dort noch etwas zu essen gäbe …«
Ich erinnerte mich natürlich an diesen Passus. »›Wie der Spatz zu den Menschen.‹«
»Ja, so bin ich.« Bert sah mich jetzt an, als wollte er Eindruck schinden. »Obwohl ich kein Spatz bin. Ich habe gründlich nachgedacht, verstehen Sie. Wie damals, so auch jetzt. Und heute will er aus heiterem Himmel ein bisschen mit Ihnen plaudern, hm? Und worüber möchte er reden? Wie es für ihn ist, von Sigmund Freud täglich einen Einlauf verpasst zu kriegen, weil er seit 1907 Muffensausen hat?« Sein Blick wurde aufmerksamer. »Oder geht’s um den Mars? Bald kommt es zu einer weiteren Opposition, das weiß jeder. Was ist – weiß er irgendwas? Ich nehme an, er ist in der Lage, solche Dinge rauszufinden.«
Ich wandte mich Cook zu. »Sie verabscheuen ihn, weil er gebildet und belesen ist und weil Sie sein Verhalten als Schwäche auslegen, und trotzdem wollen Sie die Informationen, die er besitzt?«
»Wenn es darum geht, dass die Marsianer es noch mal probieren, habe dann nicht gerade ich das Recht, es zu erfahren? Gerade ich? Hm?« Er stand ein wenig unsicher auf, packte die Champagnerflasche am Hals und trottete zu einer Tür. »Die Show geht … wann los, Eden?«
»Um sechs. Ein Buchladen auf dem Broadway, der …«
Cook rülpste laut und zwinkerte mir lüstern zu. »Und hinterher werden wir ja sehen, was Sache ist – hm? Jede Menge gesunder, junger Amerikanerinnen, die sich zu einem ausgewiesenen Überlebenskünstler wie mir hingezogen fühlen – tja, nur die Stärksten überleben, hm? ›Wie der Spatz zu den Menschen.‹ Ha!«
Ich glaube, wir waren alle erleichtert, als er die Tür hinter sich schloss.
Dann folgte eine Verlegenheitspause, während wir auf Walters Anruf warteten. Wir gestatteten Eric, Kaffee für uns zu bestellen, der mit einem Haufen zuckriger Kekse auf einem Tablett kam.
»Also, Miss Elphinstone – Julie.«
»Ja, Major, so heiße ich.«
»Kurzform für Julia? Juliet?«
Harry schnaubte.
»Kurzform für gar nichts. Mein Taufname ist Julie. Ich bin ’88 geboren. In diesem Jahr lief Strindbergs ›Fräulein Julie‹ in allen Theatern, und meine Mutter war begeistert davon.«
Er nickte. »Dann waren Sie ’07, als die Marsianer kamen, neunzehn Jahre alt.«
Ich zuckte die Achseln. »Ich war erwachsen.«
»Ich war selber erst fünfundzwanzig. Man hatte mich zu früh in einen zu hohen Rang befördert, um die Wahrheit zu sagen. Viele meiner Männer waren älter als ich. In der Army folgen sie ihren Sergeants, nicht ihren Offizieren. Ist vielleicht auch am besten so. Aber im Schlieffen-Krieg hat es weitaus jüngere Rekruten gegeben. Sie wurden von den Russen und auch von den Deutschen einberufen, als die Kämpfe sich in die Länge zogen.«
Ich fragte mich, woher er das wusste. Es hatte immer Gerüchte über britische »Berater« an der Seite der Deutschen auf den großen Schlachtfeldern im Osten gegeben, die dort neue Taktiken und Waffen ausprobierten – von denen einige, dunklen Andeutungen zufolge, auf erbeuteter marsianischer Technologie beruhten.
»Es war gut, dass wir uns da rausgehalten haben«, fuhr Eric fort. »Eine schnelle K.-o.-Niederlage für die Franzosen.« Er mimte eine Links-rechts-Kombination. »In der Schule war ich ein ziemlich guter Boxer. Bin natürlich nicht dabeigeblieben …«
Harry brach in Gelächter aus, dann entschuldigte er sich rasch.
Schließlich klingelte zu unserer allgemeinen Erleichterung das Telephon.
Harry und ich ließen Eric mit der Kette der Telephonistinnen sprechen, von der hoteleigenen Telephonzentrale über die neuen transozeanischen Vermittlungen bis zu den Wienerinnen mit ihrem »starken deutschen Akzent, aber wunderschöner Artikulation«, wie Eric sich ausdrückte. Endlich reichte er mir den Hörer.
Zu meiner Überraschung hörte ich nicht Walter, sondern eine andere englische Stimme, kräftig und kultiviert.
»Mrs. Jenkins?«
»Ich ziehe Miss Elphinstone vor.«
»Äh … ja, jetzt sehe ich es, da ist eine Anmerkung in der Akte Ihres Schwagers. Ich bitte um Verzeihung. So eine ungeheuer lange Verbindung und dann unterläuft mir gleich zu Beginn ein derartiger Fauxpas!«
»Mit wem spreche ich? Wo ist Walter?«
»Ich muss mich nochmals entschuldigen. Mein Name ist Charles Samuel Myers. Ich bin einer der Spezialisten, die Mr. Jenkins in den letzten Jahren wegen seiner Neurasthenie behandelt haben.«
Ich runzelte die Stirn. »Neurasthenie?«
Eric Eden schnitt eine Grimasse. »Die einfachen Soldaten, die den Marsianern gegenüberstanden – sie nannten es Hitzschlag. Oder Hitzekoller, sagt Bert. Oder Schwitzerei …«
Harry drehte erneut einen Finger an seiner Schläfe hin und her. »Du sprichst mit einem Irrenarzt, Julie!«