JEAN ZIEGLER lehrte Soziologie in Genf und an der Sorbonne, war bis 1999 Abgeordneter im Eidgenössischen Parlament und von 2000 bis 2008 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Heute ist er Vizepräsident im Beratenden Ausschuss des UN-Menschenrechtsrats. Zieglers Bücher wie Die Schweiz wäscht weißer haben erbitterte Kontroversen ausgelöst.
Zuletzt erschienen die Bestseller Ändere die Welt! (2015) und Der schmale Grat der Hoffnung (2017).
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Jean Ziegler
Wie herrlich,
Schweizer zu sein
Erfahrungen mit einem
schwierigen Land
Aus dem Französischen
von Thorsten Schmidt
Die Originalausgabe ist 1993 unter dem Titel »Le bonheur d’être suisse« bei Le Seuil-Fayard, Paris, erschienen.
Die deutsche Ausgabe erschien erstmals 1993 im Piper Verlag, München. Die vorliegende Ausgabe entspricht in ihrem Textstand der aktualisierten Taschenbuch-Fassung von 1999, erschienen im Goldmann Verlag, München.
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Copyright © dieser Ausgabe 2017 by Jean Ziegler
Umschlag: Cornelia Niere, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-21847-8
V002
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Dieses Buch ist ihrem Andenken gewidmet:
Padre Italo Coelho
von der Pfarrgemeinde Santa Cruz de Copacabana,
Rio de Janeiro
Luiz Carlos Perreira,
meinem Patensohn, der im Alter von 21 Jahren
in Moro Santa Teresa in Rio de Janeiro
ermordet wurde,
meiner Mutter,
meinem Vater.
Inhalt
Vorrede
Erster Teil: Thun, Kanton Bern
Zweiter Teil: Paris
Dritter Teil: Das Chaos im Kongo
Vierter Teil: Brasilien, meine Mutter
Fünfter Teil: Die Schweiz
Epilog
Anmerkungen
Vorrede
Fürchtet doch nicht so den Tod
Und mehr das unzulängliche Leben!
BERTOLT BRECHT, Die Mutter1
Ein Sommertag 1992 im Verhandlungssaal der Strafkammer des Cour de Justice im zweiten Stock des Genfer Justizpalasts: Durch die hohen Fenster der Westfassade ergießt sich ein milchiges Licht auf den Fußboden.
Es ist heiß an diesem Nachmittag. Windstill. Der Saal ist klein und schmucklos. Die Seitenwände sind mit hellem Eichenholz getäfelt. Die calvinistische Republik verabscheut Ornamente. Einzige Ausnahme: Ein aus dunklem Holz geschnitztes Genfer Wappen prangt über dem kahlen Haupt des Vorsitzenden. Das Wappen besteht aus einem gespaltenen Schild: links, auf rotem Grund, ein halber schwarzer Adler, Symbol des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation; rechts, auf goldenem Grund, der Schlüssel Petri, Emblem episkopaler Gewalt. Und über dem Schild, in schwarzen Buchstaben, das Motto der calvinistischen Revolution: Post Tenebras Lux.
Man beschuldigt mich, einen der angesehensten Bürger der Republik – einen internationalen Finanzier –, der Geschäftsbeziehungen zum zaïrischen Diktator Mobutu unterhält, verleumdet und beleidigt zu haben. Er verlangt meine strafrechtliche Verurteilung und Schadensersatz von mehr als 500000 FF.
Links auf dem Podium, hinter einer schmiedeeisernen Schranke, die ihn von den Anwälten, Zeugen, Journalisten und dem Publikum trennt, erhebt sich Staatsanwalt Laurent Kasper-Ansermet, ein eleganter, gewiefter Herr in den besten Jahren. Mit klangvoll-feierlicher Stimme prangert er meine unheilvolle Rolle in der Schweiz und in Europa an, geißelt den ungeheuren Schaden, den ich, seiner Meinung nach, der Schweizer Volkswirtschaft zufüge und fordert meine exemplarische Bestrafung.
Dann stellt er einen weiteren, für Prozesse dieser Art sehr ungewöhnlichen Antrag: Er verlangt, mich vom »Beweisantritt auszuschließen«. Der vorgeschobene Grund: Meine Angriffe gegen den Finanzier seien »allgemein und undifferenziert«. Wird diesem Antrag stattgegeben, könnte ich die in meinem Besitz befindlichen beweiskräftigen Dokumente, auf die sich die Analysen in meinem Buch stützen, dem Gericht nicht vorlegen. Auf diese Weise würde verhindert, daß die Strategien zur Ausbeutung der Völker der Dritten Welt, die so manche Schweizer Banken schon seit Generationen so meisterlich beherrschen, öffentlich diskutiert werden.
Nessim Gaons Anwalt ergreift das Wort; nach ihm mein Verteidiger David Lachat. Hinter den hohen Fensterscheiben des Gerichtssaals färbt sich die Sonne golden, dann rot, schließlich versinkt sie am Horizont.
Das Urteil wird gesprochen. Das Gericht gibt allen Anträgen des Staatsanwalts statt.
Der Rechtsstreit, den ich im Juni 1992 verloren habe, ist der letzte in einer langen Serie. Seit dem Erscheinen meines Buches Die Schweiz wäscht weißer im Februar 1990 haben mich nicht weniger als sieben Bankiers, Finanziers, Spekulanten und Wirtschaftsanwälte in fünf Ländern auf Schadensersatz – Gesamtsumme über 24 Millionen FF – verklagt. Während ich diese Zeilen niederschreibe, sind einige dieser Prozesse im Gange. Andere habe ich bereits verloren. Im Juni 1991 wurde meine parlamentarische Immunität aufgehoben.
Estoy parado (ich bin gefangen), sagt – schicksalsergeben – der garimpeiro, der Goldsucher und Kautschuksammler, an den Ufern des Rio Madre de Dios im bolivianischen Tiefland, wenn der Wasserspiegel des schlammigen Flusses in den ersten Tagen der Regenzeit plötzlich um über zwanzig Meter ansteigt.
Im Zentralgebiet der Anden dauern die sintflutartigen Regenfälle von Dezember bis März. Viele hundert Kilometer weiter östlich, im bolivianischen (brasilianischen, peruanischen, kolumbianischen, ecuadorianischen) Amazonasgebiet, flüchten sich die Garimpeiros jetzt mit ihren Frauen, ihren Kindern, ihren Ziegen und Schweinen auf die wenigen Hügel, die von den Fluten umschlossen werden.
Die Wasserfluten stürzen über zehn Meter hohe Palmen um, legen die Wurzeln hundertjähriger Mammutbäume frei, verwüsten Plantagen und reißen von den Ufern Millionen Kubikmeter brauner Erde mit sich.
Die Männer binden die Tiere an den Stämmen der mächtig-sten Bäume fest. In der Nähe ihrer Hütte vergraben sie ihre Vorräte: gebündelte Maiskolben und Yamswurzeln, Fässer mit getrocknetem Fleisch und gepökeltem Fleisch, Bohnen und Maniok. Dann löschen sie sorgfältig das Herdfeuer in ihrer Küche.
Der Himmel ist schwarz – in der Nacht wie am Tage. Manchmal züngelt ein Blitz aus den Wolken und entzündet das aus Schilfrohr und verdorrten Blättern gefertigte Dach einer Hütte.
An manchen Morgen rüttelt ein heftiger, orkanartiger Sturm am Zentralmast der nach Indianerart erbauten Hütten, wo sich die Familien zusammendrängen.
Bei jedem Abflauen des Sturmes gehen die Männer zum Ufer hinunter, um abzuschätzen, wie weit das Wasser gestiegen ist, und mit den Augen suchen sie den Himmel und die reißenden Fluten ab, die, gleich einem tobenden Meer, nunmehr Zehntausende Quadratkilometer des umliegenden Landes unter sich begraben haben.
Dauert das Hochwasser mehrere Wochen, werden mitunter ganze Hügel fortgerissen – und mit ihnen die darauf lebenden Garimpeiros, ihre Frauen, ihre Kinder, ihre Hütten und ihre Tiere.
Als Schriftsteller, Abgeordneter und Professor bemühe ich mich seit Jahrzehnten, die Methoden der Mächtigen dieser Welt zur Ausbeutung der Ressourcen und der Arbeit der ärmsten Menschen dieser Erde anzuprangern und sie, wenn möglich, außer Kraft zu setzen.
Heute bin ich in gewisser Weise genauso »gefangen« – wie der obenerwähnte Garimpeiro. Die Mächtigen meines Landes haben beschlossen, mich zum Schweigen zu bringen – endgültig.
Wird mein angenehmes Dasein als biederer Schweizer Bürger und Hochschullehrer in der schwarzen Flut der Prozesse versinken? Ich weiß es nicht.
Wenn ich als Schriftsteller nicht mehr das schreiben kann, was ich für die Wahrheit halte, wenn ich nicht mehr das Recht habe, vor dem Parlament das Unrecht, von dem ich Kenntnis habe, anzuprangern, wenn ich als Professor meinen Studenten nicht mehr meine eigenen Überzeugungen, die Quintessenz meiner Erkenntnisse, Erfahrungen und Analysen, vortragen kann, welchen Zweck hat dann mein Kampf noch? Oder genauer gesagt: Unter welchen Umständen und auf welche Weise kann ich ihn fortführen?
Die persönliche Niederlage, die ich heute erlebe, trifft mit einer kollektiven Niederlage zusammen, die viel weiter reichende und schwerer wiegende Folgen hat.
Eine Weltordnung, die den rasch wachsenden Reichtum einiger weniger und die fortwährende Verelendung der großen Mehrheit als natürlich, universell und notwendig darstellt, in der die Gewährleistung der Grundrechte mit der Ausbeutung der europäischen Arbeiter und dem Blut der gesichtslosen Masse der Bewohner Afrikas, Asiens und Lateinamerikas bezahlt wird, ist eine inakzeptable Ordnung.
Mit meiner Arbeit als Soziologe wollte ich, wie viele meiner Kollegen, in den westlichen Staaten ein Bewußtsein des Widerstands erzeugen und den Völkern der Dritten Welt Analysen und Begriffe bereitstellen, die ihnen in ihrem Kampf von Nutzen sein könnten.
Mit welchem Erfolg? Keinem oder doch so gut wie keinem.
Heute leben auf unserem Planeten 5,3 Milliarden Menschen; davon 3,8 Milliarden in einem der 122 Länder der sogenannten Dritten Welt. Die Mehrheit von ihnen fristet ein menschenunwürdiges Dasein. In Somalia, in Mosambik, im Tschad, im Hochland der Anden, in den Elendsvierteln asiatischer Städte sterben täglich Zehntausende von Kindern – unter den abgestumpften, gleichgültigen Blicken ihrer Mitmenschen. Chronische Krankheiten, Arbeitslosigkeit und Verzweiflung zerstören die Familien.
Auf der Erde werden jede Minute 153 Menschen geboren – davon 117 in einem Land der Dritten Welt. Die meisten der letzteren sind von Geburt an Gekreuzigte.
Von Vietnam bis Angola, von den Philippinen bis Nicaragua und Kambodscha sind die bewaffneten nationalen Befreiungsbewegungen, die einst Hoffnung und Gerechtigkeit verkörperten, im Blut ertränkt worden oder zu erbärmlichen Repressionsmaschinerien verkümmert.
Viele postkoloniale Staaten (Zaïre, Sudan, Liberia, Malawi, Sierra Leone usw.) wiederum implodieren und verwandeln sich unter unseren Augen in Schlachtfelder, auf denen sich Stämme und Clans bekämpfen.
Die wirtschaftliche, technologische, wissenschaftliche und politische Weltgeschichte ereignet sich künftig fast ausschließlich innerhalb eines Dreiecks, dessen Eckpfeiler Stockholm, New York und Tokio bilden. Die Dritte Welt mit ihren Milliarden Menschen gleicht einem riesigen Floß voller Schiffbrüchiger, die ihrem Schicksal überlassen werden.
Von Jugend auf, von dem Tag an, da ich versuchte, meinen Standort in der Welt zu bestimmen, bin ich für Werte eingetreten, die meiner Ansicht nach keiner weiteren Begründung bedurften: soziale Gerechtigkeit, Selbstbestimmung des einzelnen und der Völker, Schutz der Natur und des Lebens, freie Entfaltung der Persönlichkeit und Glück für alle.
Schon sehr bald bemühte ich mich, meinen Protest in den Dienst einer umfassenderen Bewegung zu stellen. Ich habe nie geglaubt, daß der bolschewistische Totalitarismus, wie er in den Staaten des Ostblocks und von einigen kommunistischen Parteien im Westen praktiziert wurde, die Werte verwirklichen könnte, von denen ich träumte. Nie habe ich mir Illusionen gemacht über die furchtbare Verirrung, die Phraseologie und die Verlogenheit dieses »Kasernenkommunismus«. Daher hat mich auch sein Zusammenbruch als solcher nicht überrascht.
Ich glaubte an die gemeinsame Aktion freiwillig zusammengeschlossener Frauen und Männer und an ihre Fähigkeit – im Kampf der Meinungen, im gewerkschaftlichen Kampf und durch Wahlen –, diese Welt der Ungleichheit und des Tötens in ein Reich der Freiheit und der Vernunft zu verwandeln. Aus demselben Grund hatte ich mich in der Sozialdemokratischen Partei und in der Sozialistischen Internationale engagiert.
Dienstag, 15. September 1992, im Berliner Reichstagsgebäude: Felipe González eröffnet den 19. Kongreß der Sozialistischen Internationale. Er verliest den Abschiedsbrief Willy Brandts, den dieser von seinem Sterbelager in Unkel aus an die Kongreßteilnehmer gerichtet hat.
Ein strahlender Tag. Ein eindrucksvolles Polizeiaufgebot.
Kurz zuvor waren, begleitet von Motorradstaffeln der deutschen Polizei (deren Blaulichter und Martinshorngeheul vier Tage lang das Zentrum von Berlin lahmlegten), die gepanzerten Mercedes-Limousinen der wichtigsten weißen Führer der Internationale vor der Prunktreppe der Ostseite vorgefahren. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hält eine Gruppe ärmlich gekleideter kurdischer Kinder und Frauen hinter einem dreifachen Kordon von Bereitschaftspolizisten den Ankommenden übergroße Porträts ihrer von der türkischen Armee ermordeten Väter, Ehemänner und Söhne entgegen.
Mehr als sechshundert Delegierte aus fünf Kontinenten, Hunderte von Journalisten und Kameraleute aus aller Welt drängten sich in dem riesigen weißen Saal im ersten Stock des Gebäudes.
González erteilt dem ersten Redner des Tages, einem eleganten, spindeldürren und hochgewachsenen älteren Herrn mit Glatze, das Wort. Erdal Inönü, stellvertretender Ministerpräsident der Regierung in Ankara (und Vizepräsident der Internationale) stimmt, in gepflegtem Englisch, ein Loblied auf die türkische »Befriedungspolitik« in Anatolien an. Höflicher Beifall des Saales. Erwiderungen sind nicht erlaubt.
Dann ist der israelische Premierminister Yitzak Rabin an der Reihe. Bevor er das Wort ergreift, verlangt er, Faiz Abu Rhamé, der Vertreter der PLO, solle den Saal verlassen. González entspricht seinem Wunsch und läßt den Palästinenser aus dem Saal weisen.
Im Labyrinth der Flure des Reichstagsgebäudes irren afrikanische, maghrebinische, lateinamerikanische und asiatische Delegierte in dem – meist vergeblichen – Bemühen um ein Treffen mit einem europäischen, kanadischen, japanischen oder australischen Politiker umher. Sie sind auf Protektion, finanzielle Unterstützung und diplomatische Interventionen zugunsten ihrer verschwundenen, verhafteten oder gefolterten Genossinnen und Genossen angewiesen.
Abel Goumba, ein unbeugsamer Arzt, der erst vor kurzem aus dem Gefängnis in Bangui entlassen wurde, fleht mich um Hilfe an. Er ist Kandidat für die am 25. Oktober 1992 stattfindenden Präsidentschaftswahlen in der Zentralafrikanischen Republik und weiß, daß General Kolingba diese Wahlen – wie gewöhnlich – mit Unterstützung Frankreichs fälschen wird. Vier Tage lang bemühe ich mich, für ihn ein wenige Minuten dauerndes Gespräch mit Laurent Fabius, dem Generalsekretär der Sozialistischen Partei Frankreichs, zu erwirken. Vergeblich.
Einziger überzeugender Augenblick: Am Mittwochmorgen halten Journalisten des italienischen Fernsehens in der Eingangshalle plötzlich große Schilder mit der Aufschrift: Vergogna, Craxi! (Schäm dich, Craxi!) hoch. Sofort stürzen sich Sicherheitsbeamte auf jene, die es wagen, die haarsträubende Korruption der Sozialistischen Partei Italiens anzuprangern.
Donnerstag, 17. September: Pierre Mauroy, der neue Präsident der Internationale, hält mit seiner wohlklingenden, ernsten Stimme die Schlußansprache: ein Loblied auf die »großen finanziellen Gleichgewichte« (harte Währung, Verringerung der Haushaltsdefizite, usw.), die Mitterrand und dem multinationalen Kapital so sehr am Herzen liegen; über die Dritte Welt kein Wort. Enttäuscht verlassen Pierre Schorri, der Führer des linken Flügels der schwedischen Sozialdemokraten, und ich vorzeitig den Saal. Auf dem Weg nach draußen machen wir vor der letzten Reihe der Beobachter halt und verabschieden uns von Jalal Talabani, dem Führer der irakischen Kurden, und seinem Freund, dem scheuen Dr. Sadiq Sherefkendi, dem iranischen Kurdenchef.
Die weißen und die japanischen Sozialistenführer steigen wieder in ihre gepanzerten Limousinen. Die Blaulichter drehen sich, die Martinshörner heulen. Die Konvois fahren zu den in der Innenstadt gelegenen Luxushotels, die Festungen gleichen.
Um 22.15 Uhr desselben Tages werden Dr. Sherefkendi und drei weitere Mitglieder der Demokratischen Partei Iranisch-Kurdistan (PDKI) in einem kleinen Restaurant im Berliner Stadtteil Wilmersdorf von einem Kommando maskierter Killer ermordet.
Sie hatten vergeblich um Polizeischutz gebeten.
Meine Gedanken schweifen zwanzig Jahre zurück zu einem strahlenden Tag im Herbst 1972 in Santiago de Chile. Ich gehörte zu einer Abordnung der Sozialistischen Internationale, die der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky leitete. Die Begegnung mit Salvador Allende fand in dessen Privatdomizil, einer schlichten weißen Villa im Stadtviertel Tomas Moro, statt.
Ich sehe den Präsidenten so deutlich vor mir, als sei es gestern gewesen: Er saß in einem hohen Kolonialsessel, zu dessen Füßen ein großer brauner Hund lag. Kreisky, ein schwedischer Genosse und ich hatten auf dem Sofa Platz genommen, der massige Clodomiro Almeida auf einem Stuhl uns gegenüber. Durch das Fenster sah man die schneebedeckten Gipfel der Anden. Gemälde von Miró und Portinari schmückten die Wände.
Die Regierung der Unidad Popular durchlebte dramatische Tage: die amerikanische Blockade, Sabotageakte in den Bergwerken, Morde an Gewerkschaftern. »Wir erleben ein stummes Vietnam«, erklärte uns Allende. Kreisky plädierte für den Beitritt der Sozialistischen Partei Chiles zur Internationale.2 Salvador Allende hörte schweigend zu, richtete sich dann unvermittelt in seinem Sessel auf, wobei seine kleinen kurzsichtigen Augen vor Zorn funkelten. Seine kurze Antwort: Jamas! (Nie!)
Aus der Sicht Allendes hatte die Internationale ihre eigenen fundamentalen Prinzipien verraten. Sie war nichts als ein Anhängsel der europäischen Staatsräson, schlimmer noch: eine Organisation im Dienst der Strategien des multinationalen Kapitals.
Damals hatte mich seine Ablehnung schockiert. Heute erscheint sie mir prophetisch.
So viele Niederlagen werfen zahlreiche Fragen auf: Beschreite ich seit Jahrzehnten den falschen Weg? Sind meine Waffen ungeeignet? Meine radikale Kritik an der Bankenpolitik und der internationalen Rolle der Schweiz wird von einer tiefen Liebe zu diesem Land, seiner Geschichte und seinem Volk getragen. Und doch stoße ich bei den Mächtigen, die ja nicht alle böswillig sind, und bei den meisten meiner Kollegen und Kolleginnen im Parlament, die nicht alle Heuchler sind, auf völlige Ablehnung. Habe ich mithin nicht vermocht, die wahren Triebfedern meiner Kritik an der Schweiz deutlich zu machen?
Der Mißerfolg meines jahrzehntelangen Einsatzes für die Befreiung der Völker der Dritten Welt und für die Umwandlung unserer europäischen Gesellschaften in gerechtere, solidarischere Gemeinwesen ist ein Geschick, das ich mit vielen tausend anderen teile. In der Dritten Welt und in Europa glaubte eine ganze Generation von Frauen und Männern felsenfest an die baldige Verwirklichung einer freieren, gerechteren Gesellschaftsordnung, an das gleichberechtigte Miteinander der einzelnen und der Völker, an das Verschwinden von Elend und Unterdrückung.
Doch leider haben die Sozialdemokraten in Frankreich, in der Schweiz, ja in ganz Europa ihre Prinzipien verraten und sich der Staatsräson gebeugt.
Waren wir verblendet? Haben wir den falschen Weg beschritten, seit im Dschungel von Kamerun und in der Sierra Maestra die ersten Schüsse der Aufständischen fielen? Haben die Rationalität der Warengesellschaft und die Staatsräson der Industrienationen das Solidaritätsbewußtsein in Europa zerstört, ohne daß wir in unserer Verblendung dies bemerkten?
Noch beunruhigender: Geht die Geburt einer neuen geschichtlichen Phase immer mit der Freisetzung immenser Gewaltpotentiale einher? Ein Befreiungsschlag, auf den furchtbare Katastrophen folgen? Pol-Pot und sein Wahnsinn? Anders formuliert: Wird die Hoffnung, die jeder Befreiungskrieg weckt, zwangsläufig durch eine repressive, korrupte Bürokratie wieder erstickt? Wird die gewaltige Hoffnung, die in Europa nach dem Zusammenbruch der totalitären Staaten aufkam, notwendigerweise im Blutbad ethnischer Säuberungen und Kriege versinken?
Und doch ist keiner der Werte, für die ich kämpfe und denen meine Hoffnung gilt, veraltet. Im Gegenteil: Diese Werte scheinen mir heute aktueller denn je zu sein. Auf der Nordhalbkugel weht ein eisiger Wind. Die neue Barbarei hat Einzug gehalten mit ihrer grenzenlosen Vergötzung des individuellen Erfolgs und eines brutalen Konkurrenzdenkens, das die Vernichtung des Schwachen durch den Starken, die Absage an jede Form von Solidarität als einen geistigen Sieg feiert. Seid berechnend und pragmatisch! Der Reiche hat recht, der Arme unrecht. Gewiß ist ein geheimes Laster schuld an seiner Armut…
Der Siegeszug des übersteigerten Individualismus, des Konkurrenzdenkens über das Solidaritätsbewußtsein und die Einschränkung des Menschen auf seine ökonomische Funktion ebnen einer kulturellen Regression den Weg.
Nicht alles ist austauschbar. Es gibt Hierarchien und Identitäten. Die politische Linke ist nicht die Rechte, und das »Zeitalter der Leere«, das die postindustrielle Mediengesellschaft verheißt, ist kein Fortschritt. Die Welt ist mehr als ein bloßes Medienspektakel.
Die Achtung vor der rationalen Erkenntnis, das Primat der Vernunft über Aberglaube, Feudalismus und Irrsinn, die Forderung nach Solidarität und Gerechtigkeit, all diese Grund-werte des demokratischen Sozialismus – wie übrigens auch der soziologischen Praxis – sind so wahr wie eh und je. Ich verwerfe keinen dieser Werte. Fraglich sind vielmehr die bisheri-gen Strategien und Konzepte zu ihrer Verwirklichung.
Hinter meinen früheren politischen Entscheidungen stand nicht so sehr persönlicher Ehrgeiz, Prestigesucht oder Gewinnstreben. Sie waren vor allem von meinem Gewissen diktiert. Somit stellt sich die Frage nach den Erfahrungen, die mein Gewissen geformt haben. Aus diesem Grund scheint mir heute eine Rückbesinnung auf das eigene Leben, meine Kindheit und Jugend, meine Familie, meine Freundschaften und meine Liebesbeziehungen, auf die Ereignisse und Begegnungen, deren Produkt ich bin, nützlich zu sein. Ja, sie ist eine unaufschiebbare Notwendigkeit.
Aus Überzeugung und aus ihrem Berufsethos heraus setzen Soziologen meist alles daran, die eigene Subjektivität auszublenden. Auch ich habe mir über Jahrzehnte hinweg meine Erkenntnisobjekte vom Leibe gehalten und zwischen den Phänomenen, die ich analysierte, und meiner Person die größtmögliche Distanz zu schaffen versucht. Jahrzehntelang habe ich nichts anderes getan, als Machtverhältnisse, soziale Beziehungen, Produktionsverhältnisse und ideologische Zusammenhänge zu erforschen. Nie ging es mir darum, das Innenleben der Menschen, ihre Identität zu verstehen. Meine eigene genausowenig wie die der anderen.
Ich war präsent in der Welt, aber mir selbst fremd.
Anders gesagt, ich habe gewissermaßen umgekehrt autistisch gelebt: In intensivem Kontakt mit der Welt und meinen Mitmenschen stehend, hatte ich praktisch keinerlei Beziehung zu mir selbst.
Die gegenwärtige Rückbesinnung auf mich bringt mir zu Bewußtsein, daß ich seit jeher, stillschweigend und ohne es mir einzugestehen, zu den Objekten, die ich erforschte, eine höchstpersönliche Beziehung hatte. Meine soziologischen Abhandlungen hatten nur den Anschein der Objektivität. Ja sogar die Wahl der Themen stand in engem Zusammenhang mit meinem Leben, meinem Gewissen, meinen Neigungen, meinen Vorlieben und Abneigungen, meinen dumpfen Ängsten, meinen Wünschen und meinen Liebschaften.
Daher muß ich heute den Blickwinkel umdrehen, einen für mich ganz und gar neuen Weg beschreiten. Muß ich doch ein Ich erkunden, das mir praktisch unbekannt ist. Der Weg dorthin führt durch Morast, dichtes Gestrüpp und ist gegen Irrwege nicht gefeit, kurz: Es ist ein Weg voller Hindernisse.
Dieses Buch soll die Wurzeln der Entscheidungen offenle-gen, die mein Leben ausmachen.
In ihrer scheinbaren Unabhängigkeit und ihrer Pracht gleichen die Ideen jenen riesigen Lilien des Amazonasbeckens, die während der Regenzeit im Mangrovenlabyrinth zwischen den Stämmen der Tamarinden sprießen. Ihre überwältigende Schönheit ist von kurzer Dauer. Sie blühen nur ein paar Stunden, allenfalls ein bis zwei Tage, zwischen zwei Fluten. Aber sie treiben – für den Betrachter unsichtbar – tiefe Wurzeln in den schlammigen Untergrund des überschwemmten Landes.
Seit ich als Soziologe arbeite, beteilige ich mich am Kampf der Ideen. Dabei habe ich niemals nach ihren Wurzeln in meiner Person gefragt. Nun waren es aber gerade die prägenden Erfahrungen meines Lebens, die mich für bestimmte Ideen eintreten ließen und die den Stengeln, die die Blüten tragen, die nötige Festigkeit verliehen. Das verborgene Leben, das diese Blüten hervorgebracht hat, das Gewirr der nützlichen oder vergifteten Wurzeln, aus denen sie ihre Lebenskraft beziehen – dies gilt es, als erstes ans Tageslicht zu bringen.
Wie soll ich vorgehen, um zu diesem mir weithin unbekannten Ich vorzudringen? Eine begriffliche Analyse scheidet von vornherein aus. Der zergliedernde Intellekt kann die Wurzeln nicht offenlegen, weil er selbst aus ihnen gewachsen ist. Daher scheint mir die Erzählung meines Lebens der sicherste Weg zu sein.
Von jeder meiner Forschungsaufenthalte und Reisen in Afrika, Asien und Lateinamerika brachte ich eine stattliche Zahl Notizbücher mit, in denen Porträts der Männer und Frauen, denen ich begegnet bin, meine Gespräche mit ihnen, soziologische Beobachtungen und Daten über die jeweiligen Länder, meine Eindrücke und persönlichen Erlebnisse festgehalten sind. Als ich dieses Buch in Angriff nahm, habe ich mich erneut in ihre Lektüre vertieft.
Ich bin an die Stätten meiner Kindheit und meiner Jugend zurückgekehrt. Ich habe meine Familie, meine Freunde, alte Alben, Fotos, vertraute Gegenstände, das Pflaster der Straßen und die Fassaden der Häuser befragt.
Roger Bastide spricht vom »heimlichen Wissen«, das durch die einzigartige, unvorhergesehene Begegnung von Menschen unterschiedlicher Erfahrung, Kultur und Biographie, durch den zufälligen, gelegenheitsbedingten Erfahrungsaustausch erworben werde.
Dieses »heimliche Wissen« ist in keinem Reisebericht, keinem Computerausdruck, keinem Notizheft enthalten. Nur das Gedächtnis meiner Sinne, meiner Träume und meiner Gefühle vermag dieses Wissen zu rekonstruieren.
Das Gedächtnis, ein unerschöpfliches Reservoir der Ereignisse und Gefühle des vergangenen Lebens, funktioniert auf seltsame Weise. Es gleicht jenen Wadis der Saghiat El Hamra, die die Kameltreiber vom Volk der Saharaouis durchqueren: Stunden-, ja tagelang hinterlassen die Schritte keinerlei Spuren auf dem Gestein des Reg. Keine einzige. Dann, plötzlich, hört die Geröllwüste auf und die Sandwüste beginnt – aus dem Reg wird der Erg –, und noch der zarteste Tritt des zierlichsten Esels, der Huf des vorsichtigsten Kamels, die leichten Sohlen der Kameltreiber hinterlassen ihre deutlichen Abdrücke.
In meinem Gedächtnis gibt es ausgedehnte Nebelgebiete, in denen ich vergeblich nach Konturen Ausschau halte. Nebelschwaden durchziehen sie. Weiße, graue, ockerfarbene Nebelstreifen und dickes watteartiges Gewölk verdecken die Landschaft. Dann, plötzlich, bricht ein Lichtstrahl durch. Den Blick auf die Lichtung richtend, finde ich vertraute Gestalten, Häuser, Städte und Dschungel wieder. Ich sehe die vereinzelten, aber deutlich erkennbaren Erinnerungsfragmente meines Lebens.
Die meiste Zeit aber verdeckt Nebel den Sumpf, die Ebenen, die Mangroven und die Spalten. Was soll ich tun? Auf das hervorbrechende Sonnenlicht warten, von Lichtung zu Lichtung gehen?
Ich werde zunächst über meine Kindheit in Thun, Kanton Bern, über meine Familie und meine chaotische Jugend berichten, dann über meine Entwicklung in Paris, wo ich ein selbständiger, geistig unabhängiger Mensch wurde. Zwei Kontinente spielen in meinem Leben eine entscheidende Rolle: Afrika und Südamerika (Brasilien). Dort hat sich meine Persönlichkeit geformt, und dort wurden die Weichen gestellt für meine tiefsten emotionalen, intellektuellen und politischen Entscheidungen. Der letzte Teil des Buches beschreibt die Kämpfe, die ich gegenwärtig in der Schweiz zu bestehen versuche.
Beruht die Auswahl dieser Episoden auf einer sachimmanenten, zwingenden Logik oder einfach auf subjektiver Willkür? Ich weiß es nicht. Es ist möglich, daß ich mich irre, daß andere als die hier beschriebenen Episoden mich noch stärker geprägt haben. Fest steht nur: Ich spüre das Bedürfnis und den dringenden Wunsch, das zu schildern, was ich in Thun, in Paris, in Kalina und in São Salvador da Bahia erlebt habe.
Meine Familie, meine nächsten Freunde, die Frau, die ich liebe – sie alle erscheinen nicht auf diesen Seiten. Mich erfüllt eine ständige dumpfe, niemals zum Verstummen zu bringende Angst um jene, die ich liebe und deren Leben ich teile. Gewisse magische Vorstellungen afrikanischer Völker haben tief auf mich eingewirkt. Spräche ich hier die Namen der mir nahestehenden Menschen aus, würde ich sie dem bösen Blick, unheilbringenden Dämonen und zahllosen Gefahren aussetzen.
Ob es stürmt oder regnet, ob die Sonne scheint oder Schnee fällt – jeden Morgen geht ein Mann unter den Fenstern meines Büros an der Place des Philosophes in Genf vorbei. Leicht gebückt, den würdevollen Kopf versonnen nach vorn geneigt – wie gebeugt unter der Last seines strengen, erhabenen Denkens –, eilt er an seinen Arbeitsplatz in der Universität. Jean Starobinski ist einer der klügsten Köpfe dieses ausgehenden 20. Jahrhunderts. In seinem Buch Le Remède dans le mal (Das Rettende in der Gefahr) schreibt er: »(…es bleibt die Frage), ob die Energie der ›Entmystifizierung‹ nicht ihrerseits aus einer ›mystifizierenden‹ Quelle stammt… Wer von Aufrichtigkeit spricht, ist nicht des Irrtums enthoben.«3 Mein Buch möchte mit der größtmöglichen Wahrhaftigkeit die verstreuten Ereignisse nacherzählen, denen ich meine Identität verdanke. Lange zurückliegende, kaum bewußte Entscheidungen bestimmen die Anliegen, für die ich mich heute einsetze. Wird es diesem Buch gelingen, sie transparent zu machen? Ist meine Wahrhaftigkeit des »Irrtums enthoben«? Habe ich tief genug gegraben? Meinen Blick sorgfältig genug von Heuchelei, Lüge, Illusionen und Eitelkeit gereinigt, um nicht schielend fortwährend von meinem Gegenstand abzugleiten?
Von der Gefahr war Friedrich Dürrenmatt überzeugt: »daß Wahrhaftigkeit allein nicht ins Allgemeine transponieren würde, viel mehr ins Medizinische, Psychologische bestenfalls.«4 Was fehlt noch? Mit einer Spur von Arroganz möchte ich sagen: die Geschichte. Wie jeder Mensch bin auch ich das einzigartige Produkt einer vielschichtigen Dialektik von Allgemeinem und Besonderem, von Gesellschaft und Individuum, von der Geschichte und meiner Geschichte, von den Umständen, die mich formen, und meiner Freiheit, die sich regt, lebt, sich erhebt und das Gesetz, das sie leugnet, zu zerstören trachtet.
Eine Autobiographie? Der Begriff mißfällt mir. Er ist gleichbedeutend mit etwas Vollendetem, Unwandelbarem, Endgültigem. Mein Leben aber – und mein Buch, das dieses Leben ausschnittweise nachzeichnet – ist alles andere als »vollendet«.
Wie Roger Bastide in seinem Werk Anthropologie appliquée5 fordere auch ich das Recht, »eine Pause am Wegesrand« einzulegen, die Lektionen meiner verlorenen Kämpfe lernen und sorgenvoll die mir noch verbleibende kurze Zeit erkunden zu dürfen.
Jean Ziegler
Genf, im Juli 1993
ERSTER TEIL
Thun, Kanton Bern
Caminante, son tus huellas |
Wanderer, deine Schritte |
el camino, y nada mas; |
bahnen den Weg – niemand sonst; |
caminante, no hay camino, |
Wanderer, es gibt keinen Weg, |
se hace el camino al andar. |
der Weg entsteht im Gehen. |
Al andar se hace el camino, |
Im Gehen entsteht der Weg, |
y al volver la vista atrás |
und wer zurückblickt, |
se ve la senda que nunca |
sieht den Weg, |
se ha de volver a pisar. |
den er nie wieder gehen wird. |
ANTONIO MACHADO, 1938