DAS LÄNGSTE
THEATERSTÜCK
DER WELT
Bu-Bumm, Bu-Bumm, Bu-Bumm, Bu-Bumm, Bu-Bumm. Das Geräusch eines schlagenden Herzens. Kraftvoll leistet es Tag für Tag seinen lebensnotwendigen Dienst. Es schlägt pausenlos, egal, ob wir wach sind oder schlafen, es schlägt ab dem ersten Tag unseres Lebens bis zu unserem allerletzten Atemzug. Aber was passiert in der Zwischenzeit, also während unseres Lebens, mit unserer Pumpe? Das ist eigentlich gar nicht so kompliziert.
Ich gehe leidenschaftlich gern ins Theater und dabei ist mir aufgefallen, dass das, was ein Herz in seinen durchschnittlich 80 Jahren erlebt, dem klassischen Drama mit seinen fünf Akten gleicht. Der erste Akt ist die Einleitung, ab dem zweiten steigert sich die Handlung. In der Mitte des Dramas, im dritten Akt, erreicht diese ihren Höhepunkt. Von da an geht es tragischerweise nur noch bergab. Und nach dem vierten Akt, in dem alles schlimmer wird, schließt sich im fünften die unausweichliche Katastrophe an, die das Stück beendet.
Aber was fasele ich hier herum? Vorhang auf für ein echtes Herzensdrama.
Erster Akt –
Das ungeborene Herz
Im Theater beginnt im ersten Akt meist die Vorstellung der
Charaktere. Darf ich vorstellen: die embryonale Herzanlage. Nicht mehr als ein Zellklumpen.
Schon kurze Zeit nach der Befruchtung der Eizelle, von der an die ziemlich komplizierte
Entwicklung des Embryos beginnt, wird auch der Grundstein für ein funktionierendes Herz gelegt.
Allerdings hat das, was man nach knapp drei Wochen sehen kann, noch nicht viel mit einem
funktionierenden Herzen zu tun. Man findet nämlich erst mal nur eine ziemlich unauffällige
Ansammlung von Zellen: die sogenannte »kardiogene Platte«.1 Die bildet zwei Stränge, die sich zu Schläuchen weiterentwickeln.
Gleichzeitig formt sich schon der Herzbeutel aus, in dem sich die Herzanlage weiterentwickelt. Der umgibt später auch das erwachsene Herz. In seinem Inneren wachsen die nebeneinander verlaufenden Schläuche zusammen und bilden einen großen Herzschlauch. Der verlängert sich und krümmt sich schließlich. Und obwohl das, was sich dabei entwickelt, ganz anders aussieht als das, was man vom Binden der Schuhe her kennt, nennt man diesen Prozess Schleifenbildung.
Damit ist die Herzentwicklung aber noch lange nicht abgeschlossen. Denn danach bekommt unser Herz Ohren – mit denen es allerdings nicht hören kann. Eine Attrappe, wie die plüschigen Bunny-Ohren, die bei Junggesellinnenabschieden so beliebt sind. Die genaue Funktion dieser Herzohren, die nichts anderes sind als Ausstülpungen der Herzvorhöfe, ist ungeklärt. Was man allerdings weiß, ist, dass sie für die Ausschüttung eines Hormons zuständig sind, das später die Urinausscheidung fördert. Unser Herz pumpt also nicht nur Blut, sondern hilft uns auch beim Pinkeln.
Mittlerweile ist seit der Befruchtung fast ein Monat vergangen, und man kann die Herzanlage jetzt in einen Vorhof- und einen Kammerbereich unterteilen. Es bilden sich Vorstufen der Herzklappen und der Scheidewand, die die rechte und linke Herzhälfte voneinander trennt. Die ist jedoch beim Embryo bis wenige Tage nach der Geburt noch nicht komplett geschlossen. Vielmehr gibt es zwischen rechtem und linkem Vorhof eine Öffnung, das ovale Loch oder »Foramen ovale«. Durch diese Öffnung strömt Blut vom rechten in den linken Vorhof und weiter in den Körper des Embryos. Warum das? Der Grund ist einfach: Ein Embryo kann noch nicht selbständig atmen. Daher würde es keinen Sinn machen, das Blut umständlich durch die Lunge zu leiten. Die Abkürzung ist vollkommen ausreichend. Das, was am Ende dieser Entwicklung steht, ist muskelbepackt und innen hohl (und ähnelt damit irgendwie einem ehemaligen Gouverneur von Kalifornien).
Zweiter Akt –
Das neugeborene Herz
Das Herz eines neugeborenen Kindes unterscheidet sich deutlich von dem eines Erwachsenen. Es hat etwa die Größe einer Walnuss und arbeitet erheblich schneller. Es schlägt bis zu 150 Mal pro Minute und das ohne Sport, einfach so. Das ist etwa doppelt so flott wie bei einem Erwachsenen. Der Grund: Das Herz ist jetzt noch sehr klein und fördert bei jedem Zusammenziehen nur wenig Blut. Weil es aber mittlerweile komplett selbständig funktioniert, verschließt sich in den Tagen nach der Geburt das Foramen ovale. Folge: Die rechte Herzhälfte pumpt das Blut in den Lungenkreislauf und die linke in den Körper des Neugeborenen.
Im Theater zeichnet sich an dieser Stelle meist schon der erste Konflikt ab. So auch beim Herzen. Denn ist bei dessen Entwicklung etwas krass schiefgelaufen, fällt es spätestens jetzt auf. Zwar ist die vorgeburtliche Diagnostik in unseren Breitengraden sehr gut, aber leider nicht perfekt. Hört ein Arzt ein krankes Kinderherz ab, so sind oft Geräusche wahrnehmbar, die auf einen Herzfehler hinweisen.
Der häufigste ist der sogenannte Ventrikel-Septum-Defekt, bei dem die Trennwand
zwischen den beiden Herzkammern ein Loch hat.2 Im schlimmsten Fall beginnt ein Kinderleben dann direkt mit einer Herzoperation. Doch das hängt davon ab, wie groß die Öffnung ist. Kleinere Defekte können sogar komplett ohne Therapie zuwachsen, und solange das Neugeborene vital und lebensfrisch ist, besteht meist keine akute Lebensgefahr. Entscheidend ist, ob die kindlichen Organe genügend Sauerstoff bekommen. Ist das der Fall, kann man selbst, aber vor allem der kleine Knirps, erst mal einigermaßen beruhigt durchatmen.
Dritter Akt –
Das starke Herz
Das gesunde Herz eines ausgewachsenen, 20 Jahre alten Menschen zieht sich zwischen 60 und 80 Mal in der Minute zusammen. Ist es gut trainiert, kann es in Ruhe aber auch deutlich langsamer schlagen. Dabei strotzt dieses Muskelbündel nur so vor Energie. Wie es in seinem Inneren aussieht, versteht man am besten, wenn man es aufschneidet und hineinschaut. Eine Erfahrung, die für mich in der medizinischen Anatomie total spannend war, die aber sicher nichts für jeden ist.
Schauen wir uns die Sache einmal aus der Sicht eines roten Blutkörperchens an. Das nennt sich im Fachjargon Erythrozyt und gehört zu den vielen gleichartigen Zellen unseres Blutes, die den roten Farbstoff Hämoglobin enthalten. Seine Hauptaufgabe ist es, Sauerstoff aus der Lunge in unseren Körper und im Gegenzug Kohlendioxid zur Lunge zurückzutransportieren.
So sieht das menschliche Herz von innen aus
Also, du bist jetzt ein Ery (so nennen Mediziner diese Teile flapsig). Stell dir vor, du bist gerade dabei, Kohlendioxid – gebunden an das Hämoglobin – aus einem Organ des Körpers, etwa dem Gehirn, durch ein Blutgefäß in Richtung Herz zu befördern. Dann befindest du dich in einer Vene. Denn alle Adern, die Blut zum Herzen hin transportieren, heißen Venen, alle, die umgekehrt Blut vom Herzen weg in den restlichen Körper befördern, Arterien. Nach einigen Abzweigungen kommst du in der oberen Hohlvene an, einem Gefäß, das direkt ins Herz mündet. Dorthinein wirst du kohlendioxidbeladen gespült und befindest dich nun im rechten Vorhof. Von dort geht’s weiter in die rechte Herzkammer. Nicht trödeln, das hier ist kein Stadtbummel, wir haben eine Mission!
Zwischen rechtem Vorhof und rechter Kammer passierst du eine Herzklappe, genauer gesagt eine Segelklappe, die von Medizinern Triskuspidalklappe genannt wird, weil sie aus drei Segeln besteht (das lateinische Wort »cuspis« bedeutet »Spitze« oder »Segel«). Hast du den rechten Vorhof über diese Klappe verlassen, gibt es beim gesunden Herzen kein Zurück mehr. Denn alle Herzklappen arbeiten wie ein Ventil, das heißt, sie öffnen sich nur in eine Richtung. So verhindern sie zuverlässig, dass dich der Blutstrom aus der rechten Kammer in den Vorhof zurückspült. Blut fließt also im gesunden Herzen immer nur in eine Richtung und schwappt nicht etwa zwischen Kammer und Vorhof hin und her.
Anschließend verlässt du die rechte Kammer über eine weitere Herzklappe, die
Pulmonalklappe, in Richtung Lunge.3 Nach dem Passieren dieser Klappe
befindest du dich in der Pulmonal- oder Lungenarterie. Womit klar ist, dass der oft gehörte
Satz »Arterien transportieren sauerstoffreiches Blut und Venen sauerstoffarmes« Unsinn ist.
Denn du hast ja immer noch dein Kohlendioxid bei dir, bist also »sauerstoffarm«. Trotzdem
schwimmst du gerade in einer Arterie. Daher noch einmal: Arterien befördern Blut vom Herzen weg
und Venen zum Herzen hin (wobei es allerdings auch von dieser Regel kleine Ausnahmen,
beispielsweise im Bereich der Leber, gibt).4
In der Lunge angekommen, erfüllst du deine erste Mission als Ery, gibst dein
Kohlendioxid ab und tankst stattdessen Sauerstoff, um damit beladen über die Pulmonalvene (!)
die Rückreise zum Herzen anzutreten. Dort fließt du mit deinen Artgenossen in den linken Vorhof
und dann weiter über eine dritte Herzklappe in die linke und letzte Herzkammer der Reise. Die
Klappe zwischen linkem Vorhof und linker Kammer heißt Bikuspidal-5 oder auch Mitralklappe, da ihre Form an die Bischofsmütze, die Mitra, erinnert.
Die linke Herzkammer ist der Bodybuilder in der Welt der Herzhöhlen, ihre Muskelwand ist mit Abstand die dickste. Schließlich muss sie eine Menge Druck aufbauen, um das Blut in ständiger Bewegung zu halten und bis in den hintersten Winkel unseres Körpers zu pumpen. Weiter geht’s durch die letzte Klappe, die Aortenklappe, in die Hauptschlagader, die Aorta. Die macht um das Herz einen schwungvollen Bogen, von dem aus Äste für den Kopf und die Arme abgehen. Dann zieht sie weiter in den Bauchraum, wo sie sich in immer kleinere Äste verzweigt und sämtliche Organe und Gewebe, bis hinab in die Zehenspitzen, mit frischem Blut versorgt.
Damit befinden wir uns auf dem Höhepunkt des Herzensdramas. Alles funktioniert, das Herz und die Blutgefäße scheinen ein unkaputtbares System zu sein. Doch eine tragische Kehrtwende bahnt sich an.
Vierter Akt –
Das kranke Herz
Schon nach 25 Jahren beginnen sich erste »Verkalkungen« an den Wänden der Herzkranzgefäße (das sind die Arterien, die den Herzmuskel selbst mit Blut versorgen) abzulagern. Das ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht dramatisch, aber hier wird schon der Grundstein für eine folgenschwere Erkrankung gelegt: die Arteriosklerose, besser bekannt als »Gefäßverkalkung«. Sie ist die Ursache Nummer eins für die beiden häufigsten Todesursachen weltweit, den Herzinfarkt und den Schlaganfall. Die Ablagerungen in der Gefäßwand werden mit der Zeit nämlich immer dicker und verschließen die Adern erst teilweise und im schlimmsten Fall irgendwann vollständig (wie eine verkalkte Wasserleitung).
Im Fall der Herzkranzgefäße werden so mehr oder minder große Abschnitte des Herzmuskels nicht mehr ausreichend mit Nahrung und Sauerstoff versorgt und verändern sich. Das ist der berühmt-berüchtigte Herzinfarkt. Minderversorgte Bereiche werden in eine Art Narbengewebe umgewandelt, das sich nicht mehr aktiv am Herzschlag beteiligt. Und ein Team ist bekanntlich immer nur so gut wie sein schwächstes Glied. Die Folge: Das Herz büßt an Kraft und Ausdauer ein.
Im Theater spricht man an dieser Stelle vom retardierenden Moment, also dem Augenblick der Verlangsamung vor dem großen Finale. Im Fall des Herzinfarktes übernimmt die Rolle der Verlangsamung die Medizin. Um die unausweichliche Katastrophe hinauszuzögern oder, besser noch, zu verhindern, kann man zum Beispiel Medikamente verabreichen, Herzkatheter-Behandlungen (mittels eines dünnen, direkt in die Kranzgefäße vorgeschobenen Schlauches) durchführen und zudem versuchen, die Lebensumstände des Betroffenen so zu verändern, dass das Herz entlastet und das Risiko eines weiteren Infarktes möglichst gering gehalten wird.
Fünfter Akt –
Das (k)alte Herz
Schmerzen in der Brust. Das Herz ist aus dem Takt. Horcht man mit dem Stethoskop den Brustkorb ab, hört man nicht mehr Bu-Bumm, Bu-Bumm, Bu-Bumm. Vielmehr klingt es eher wie Bu-…….Bumm, Bu-Bu-Bumm, Bumm, Bu-Bumm. Atemnot und Kraftlosigkeit stellen sich ein. Nach fast einem Jahrhundert ununterbrochenen Schlagens ist das Herz merklich schwächer geworden und hat eine Menge mitgemacht. Gerade erlebt es seinen dritten Herzinfarkt. Es pumpt immer kraftloser, in einem letzten Aufbegehren versucht es noch einmal, alles aus sich rauszuholen, indem es schneller arbeitet. Doch am Ende ist alles vergebens. Das Herz funktioniert nicht mehr richtig, zuckt nur noch kurz und unkoordiniert und bleibt schließlich stehen. Das war’s dann.
Das ist das unabwendbare Ende des Dramas. Vorhersehbar, aber dennoch tragisch. Obwohl wir den Herzstillstand natürlich alle einmal erleben werden. Doch die Zeit, bis es so weit ist, muss nicht dramatisch sein. Ganz im Gegenteil: Ein herzensgutes Leben ähnelt eher einer Komödie. Am Ende bleibt die Pumpe zwar auch stehen, aber vorher hat man wenigstens viel gelacht und eine erfüllte Zeit gehabt.
Denn das Gute ist: Jeder kann Vorkehrungen treffen, um den Herzstillstand so spät wie möglich zu erleben. Und im besten Fall geschieht das, ohne dass Herz- und Gefäßprobleme einem das Dasein vermiesen.
Der erste Schritt in die richtige Richtung ist Humor. Ab und zu ist das Leben zwar eine bitterernste Angelegenheit, aber mit einem Lächeln auf den Lippen ist alles leichter. Versuch es mal mit Lachyoga. Oder gib »Quadruplet Babies Laughing« bei YouTube ein.
Nicht nur Hypochonder neigen dazu, in unbedeutende Symptome todbringende Krankheiten hineinzuinterpretieren. Von dieser lähmenden Angewohnheit bist du, bin ich, sind wir alle nicht frei. Das Tolle ist allerdings: In der Regel ist der Mensch erst einmal gesund. Was zum Glück auch für das Herz gilt. Denn wenn sich in unserem Körper etwas merkwürdig anfühlt, ist es meist nicht die seltene Krankheit, die uns in wenigen Stunden dahinraffen wird, sondern etwas ganz und gar Harmloses. Getreu meinem Lieblingsspruch: »Wenn man vor dem Fenster Hufgetrappel hört, ist es meist kein Zebra.« Dem persönlichen Glück und der körperlichen Unversehrtheit steht also gar nicht so viel im Wege. Trotzdem macht es mir hin und wieder Freude, genau auf mein eigenes Herz zu hören.