Im Jahr 2000 wurde eine Liste mit sieben Rätseln der Mathematik veröffentlicht, mit einem Preisgeld von jeweils einer Million US-Dollar. Eines dieser berühmten »Millennium-Probleme« war der Beweis der Poincaré-Vermutung, an dem sich bereits die klügsten Köpfe die Zähne ausgebissen hatten. 2002 wurde der Beweis erbracht – von Grigori Jakowlewitsch »Grischa« Perelman, einem exzentrischen russisch-jüdischen Mathematiker. Aber Perelman lehnte ab – nicht nur das Geld, sondern zunehmend auch die Welt. Heute lebt er ohne Festanstellung und völlig zurückgezogen bei seiner Mutter in St. Petersburg. Warum war gerade er in der Lage, das Problem zu lösen – und was ist danach mit ihm geschehen?
Masha Gessen begibt sich auf Perelmans Spuren, von seinen Anfängen als Wunderkind bis zu seinem Rückzug. Nach und nach entsteht das Bild eines Mannes, dessen fast übermenschliche gedankliche Strenge ihn zu mathematischen Höchstleistungen befähigt, aber auch immer stärker von der Welt entfremdet.
Masha Gessen wurde 1967 in der Sowjetunion geboren und hat sich in ihrer Jugend intensiv mit Mathematik beschäftigt. 1981 emigrierte sie mit ihrer Familie in die USA, kehrte aber 1994 nach Russland zurück und lebt heute hauptsächlich dort, aber auch in den USA. Sie schrieb u. a. für die New York Times, Slate, Vanity Fair und The New Statesman, ist feste Mitarbeiterin der Zeitschrift Itogi sowie politische Kolumnistin der Zeitung Matador; außerdem arbeitet sie als Russlandkorrespondentin für New Republic und hat mehrere Bücher verfasst.
Masha Gessen
Der Beweis des Jahrhunderts
Die faszinierende Geschichte
des Mathematikers Grigori Perelman
Aus dem Englischen von
Michael Müller
Suhrkamp
Im Original erschienen unter dem Titel
Perfect Rigor.
A Genius and the Mathematical Breakthrough of the Century
bei Houghton Mifflin Harcourt.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4527.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2013
© 2009 by Masha Gessen
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Umschlagfotos: delfi.lv; StockphotoPro
Umschlaggestaltung: Göllner, Michels
eISBN 978-3-518-73054-6
www.suhrkamp.de
Inhalt
Prolog: Eine Aufgabe für eine Million Dollar | 7 | |
1. | Flucht in imaginäre Welten | 15 |
2. | Wie Mathematiker gemacht werden | 35 |
3. | Eine schöne Schule | 59 |
4. | Eine perfekte Punktzahl | 97 |
5. | Regeln für den Erwachsenen | 125 |
6. | Schutzengel | 153 |
7. | Nach Amerika. Und zurück nach Russland | 167 |
8. | Das Problem | 193 |
9. | Der Beweis taucht auf | 217 |
10. | Der Wahnsinn | 247 |
11. | Die Eine-Million-Dollar-Frage | 289
|
Dank | 303 | |
Anmerkungen | 305 |
7Prolog
Eine Aufgabe für eine Million Dollar
Zahlen können jeden Menschen verzaubern. Besonders anfällig aber sind Mathematiker; sie verstehen es, Zahlen mit Bedeutung aufzuladen. So war es auch, als im Jahr 2000 einige der weltweit besten Mathematiker in Paris zu einer Konferenz zusammenkamen. Die Erwartungen waren groß: Sie würden die Gelegenheit zu einer Bestandsaufnahme ihres Forschungsfelds nutzen. Sie würden über das sprechen, woran kein Zweifel bestand und was sie so liebten – die Schönheit der Mathematik. Und sie würden sich die Zeit nehmen, sich gegenseitig zu loben und, noch wichtiger, zu träumen: von der Eleganz und Bedeutsamkeit zukünftiger Errungenschaften auf dem Gebiet der Mathematik.
Veranstaltet wurde diese Millennium-Konferenz vom Clay Mathematics Institute, einer gemeinnützigen Organisation zur Verbreitung und Erforschung mathematischer Ideen, die der Bostoner Geschäftsmann Landon Clay und seine Frau Lavinia gegründet hatten. Das Institut bestand seit zwei Jahren, hatte sich in einem Gebäude in der Nähe des Harvard Square in Cambridge im US-Bundesstaat Massachusetts ein schönes Büro eingerichtet und auch schon einige Forschungspreise vergeben. Nun aber verfolgte das Institut einen wirklich ehrgeizigen Plan. Es ging um die Zukunft der Mathematik. »Die mathematischen Probleme des zwanzigsten Jahrhunderts« sollten dokumentiert wer8den, »die sich einer Lösung am erfolgreichsten widersetzt haben und die wir am liebsten gelöst sähen« – so formulierte Andrew Wiles, der britische Zahlentheoretiker und berühmte Bezwinger des Letzten Satzes von Fermat, das Ziel. »Wir wissen nicht, wie noch wann [diese Fragen] gelöst werden, vielleicht in fünf, vielleicht in hundert Jahren. Aber wir glauben, dass wir mit den Lösungen dieser Probleme neue Aussichten auf mathematische Entdeckungen und Landschaften eröffnen werden.«1
In vielen Volkstraditionen ist die Sieben eine magische Zahl. Und als wollte es ein mathematisches Märchen in die Welt setzen, benannte das Clay Mathematics Institute exakt sieben Probleme und setzte für die Lösung jedes einzelnen von ihnen die sagenhafte Preissumme von einer Million Dollar aus. Im Lauf der Konferenz hielten die ungekrönten Könige der Mathematik Vorträge zu diesen sieben großen Fragen. Sir Michael Francis Atiyah, einer der bedeutendsten Mathematiker des letzten Jahrhunderts, sprach über die von Henri Poincaré 1904 formulierte Vermutung.2 Mit diesem Klassiker der mathematischen Topologie hätten sich, so Atiyah, schon »viele berühmte Mathematiker […] herumgeschlagen, aber das Problem ist noch immer ungelöst. Es hat viele falsche Beweise gegeben. Viele haben sich bemüht und Fehler gemacht. Manchmal entdeckten sie die Fehler selbst, manchmal waren es befreundete Mathematiker.« Die Zuhörer lachten, mit Sicherheit befanden sich einige unter ihnen, die bei ihren Lösungsversuchen der Poincaré-Vermutung auf dem Holzweg waren.
Die Lösung des Problems, so vermutete Atiyah, werde aus der Physik kommen. Und fügte scherzhaft hinzu, dies 9sei die Art von Hinweis, »die ein Lehrer, der ein Problem nicht lösen kann, seinem Schüler gibt, der es zu lösen versucht«. Und in der Tat arbeiteten einige unter den Zuhörern an Fragestellungen, von denen sie hofften, sie würden die Mathematik einem Sieg über die Poincaré-Vermutung näherbringen. Doch so recht mochte keiner von ihnen glauben, dass eine Lösung in Sicht sei.
Manche Mathematiker machen aus ihrer Arbeit an berühmten Problemen ein Geheimnis – auch Wiles tat dies, als er über Fermats Letzten Satz arbeitete. Im Allgemeinen aber halten sie sich gegenseitig über ihre Forschungen auf dem Laufenden. Fast jährlich haben Mathematiker mutmaßliche Beweise für die Poincaré-Vermutung veröffentlicht, aber keiner hatte bislang einer Überprüfung standgehalten. Der letzte große Durchbruch war fast zwanzig Jahre alt. 1982 legte der Amerikaner Richard Hamilton so etwas wie ein Konzept zur Lösung des Problems vor. Doch auch Hamilton musste feststellen, dass sein eigener Lösungsentwurf – sein Programm, wie die Mathematiker sagen – zu schwer zu verfolgen war, und seitdem hatte sich niemand mehr mit einer aussichtsreichen Alternative zu Wort gemeldet. Möglicherweise würde die Poincaré-Vermutung, wie die anderen sechs Millennium-Probleme des Clay Mathematics Institute auch, nie gelöst werden.
Sollte es dennoch gelingen, es wäre eine Heldentat. Alle diese Probleme haben jahrzehntelange Forschungsarbeit in Anspruch genommen, und so mancher Mathematiker hat das Zeitliche gesegnet, ohne auf die Frage, mit der er so lange gerungen hat, eine Antwort gefunden zu haben. »Das Clay Mathematics Institute möchte eine deutliche 10Botschaft aussenden, nämlich dass die Mathematik vor allem deshalb so wertvoll ist, weil es diese enorm schwierigen Probleme gibt, diese Himalayagipfel, diese Mount Evereste der Mathematik«, so der französische Mathematiker Alain Connes, ein anderer Gigant des zwanzigsten Jahrhunderts. »Und sollten wir den Gipfel tatsächlich erklimmen, dann wird das äußerst schwierig gewesen sein – vielleicht werden wir dafür sogar mit dem Leben bezahlen. Wahr bleibt indes, dass, sollten wir den Gipfel erreichen, die Aussicht fantastisch sein wird.«
In absehbarer Zukunft also war für keines der Millennium-Probleme eine Lösung zu erwarten. Gleichwohl legte das Clay Mathematics Institute klare Regeln fest, nach denen jeder der Preise vergeben wird. Die erste entspricht den üblichen wissenschaftlichen Gepflogenheiten: Die Lösung muss in einer anerkannten Fachzeitschrift präsentiert werden. Dann folgt eine zweijährige Wartefrist, die Mathematikern aus aller Welt die Gelegenheit gibt, die Lösung zu prüfen und zu einem Konsens über ihre Richtigkeit und die Urheberschaft zu gelangen. Nach Ablauf dieser Frist soll in einem dritten Schritt ein Ausschuss eine abschließende Empfehlung für die Verleihung des Preises geben. Erst dann, viertens, wird das Institut die ausgesetzte Preissumme von einer Million Dollar freigeben. Es werde, so Wiles’ Schätzung, mindestens fünf Jahre dauern, bis die erste Lösung kommen werde – vorausgesetzt, irgendeines dieser Probleme werde überhaupt gelöst –, so dass das Verfahren keineswegs umständlich erschien.
Und dann die Überraschung: Gerade einmal zwei Jahre später, nämlich im November 2002, stellte ein russischer Mathematiker seinen Beweis für Poincarés Vermutung ins 11Internet. Er war nicht der Erste, der behauptete, die Poincaré bewiesen zu haben – er war noch nicht einmal der erste Russe, der in ebendiesem Jahr einen angeblichen Beweis für die Vermutung ins Netz gestellt hatte –, doch wie sich herausstellte, war sein Beweis korrekt.
Und nun lief nichts mehr nach Plan – weder nach dem des Clay Mathematics Institute noch nach irgendeinem anderen, den ein Mathematiker für vernünftig halten konnte. Grigori Perelman, der Russe, der sich im Internet gemeldet hatte, hatte seine Arbeit nicht in einer anerkannten Fachzeitschrift veröffentlicht. Er zeigte sich auch nicht bereit, die Erklärungen für seinen Beweis, die von seinen Kollegen kamen, zu prüfen oder auch nur durchzusehen. Er lehnte Angebote der besten Universitäten der Welt ab. Er nahm, als sie ihm 2006 verliehen werden sollte, die Fields-Medaille nicht an, die höchste Auszeichnung für Mathematiker (quasi der Nobelpreis für Mathematik, den Alfred Nobel nicht gestiftet hat). Und schließlich zog er sich nicht nur aus den mathematischen Fachdiskussionen zurück, sondern sprach auch sonst mit praktisch keinem Menschen mehr.
Perelmans sonderbares Verhalten lieferte den Stoff, der der Poincaré-Vermutung eine Aufmerksamkeit verschaffte, wie sie wahrscheinlich keiner anderen Geschichte aus der Welt der Mathematik je zuteilgeworden ist.3 Die unerhört hohe Preissumme, die er wohl zu erwarten hatte, tat das ihre, um das Interesse anzuheizen, dazu kam eine plötzlich aufkommende Plagiatskontroverse, als nämlich zwei chinesische Mathematiker behaupteten, eigentlich hätten sie mit ihrer Arbeit die Vermutung schon bewiesen. Je mehr Rumor aber um Perelman entstand, desto mehr 12zog er sich selbst von allem zurück; sogar diejenigen, die ihn gut kannten, sagten, er sei »verschwunden«. Dabei lebte und lebt er nach wie vor in St. Petersburg, in der Wohnung, in der er bereits seit vielen Jahren wohnt. Gelegentlich ging er ans Telefon – aber nur um zu sagen, man möge ihn als tot betrachten.
Als ich begonnen habe, an diesem Buch zu arbeiten, suchte ich Antworten auf drei Fragen: Warum war Perelman in der Lage, Poincarés Vermutung zu beweisen, das heißt: Was unterschied seinen Geist von dem all der anderen Mathematiker, die sich zuvor erfolglos an der Vermutung abgearbeitet hatten? Warum gab er, als er den Beweis gefunden hatte, die Mathematik und auch sonst fast alles auf? Schließlich: Würde er sich weigern, den Preis des Clay Mathematics Institute anzunehmen, obwohl er ihn verdient hat und das Geld sicher gut gebrauchen könnte? Und wenn ja, warum?
Dieses Buch ist keine gewöhnliche Biografie. Ich habe keine längeren Gespräche mit Perelman geführt, ja, um die Wahrheit zu sagen: Ich habe überhaupt nicht mit ihm gesprochen. Als ich mit dem Projekt begann, redete er bereits nicht mehr mit Journalisten, und auch zu anderen Leuten hatte er so gut wie keinen Kontakt mehr. Dadurch wurde die Aufgabe, die ich mir gestellt hatte, nicht leichter – ich musste mir einen Menschen vorstellen, dem ich nie begegnet bin. Zugleich wurde sie aber auch interessanter: nämlich zu einer Erkundung, zu einer wirklichen Recherche. Zum Glück waren fast alle, die mit ihm und der Poincaré-Geschichte zu tun hatten, bereit, mit mir zu sprechen. Manchmal kam mir sogar der Gedanke, es sei leich13ter, über jemanden zu schreiben, der die Mitarbeit verweigert, denn ich musste mich nicht mit Perelmans eigener Darstellung, mit seinem Selbstbild auseinandersetzen. Ich musste nur herausfinden, was es war und was geschehen ist.
14151.
Flucht in imaginäre Welten
Wie jeder, der die Grundschule besucht hat, weiß, lässt sich Mathematik mit nichts anderem in dieser Welt vergleichen. Praktisch jeder kennt dieses Gefühl von Offenbarung, das sich einstellt, wenn etwas sehr Abstraktes plötzlich Sinn ergibt. Und auch wenn sich das Rechnen in der Grundschule zur wirklichen Mathematik wie die Rechtschreibung zur Kunst des Romanschreibens verhält, ist der Wunsch, Muster, Formen oder Strukturen zu erkennen und zu begreifen – sowie die kindliche Begeisterung, wenn es gelingt, ein rätselhaftes Muster, das sich partout nicht fügen will, endlich doch den Gesetzen der Logik anzupassen –, die treibende Kraft hinter aller Mathematik.
Diese Begeisterung hat viel damit zu tun, dass die Lösung eines mathematischen Problems etwas so Einzigartiges ist. Es gibt eine und nur eine richtige Antwort, weswegen die meisten Mathematiker ihre Disziplin für eine harte und exakte, für die reine und grundlegende Wissenschaft halten. Dabei ist sie gar keine Wissenschaft im naturwissenschaftlichen Sinn. Naturwissenschaftliche Wahrheiten werden experimentell überprüft. Mathematische Wahrheiten dagegen allein durch Argumente, womit die Mathematik der Philosophie näher steht oder, besser noch, der Rechtswissenschaft, einer Disziplin, die ebenfalls davon ausgeht, dass es nur eine einzige Wahrheit gibt.
Die anderen »harten« Wissenschaften finden im Labor 16oder im Feld statt, unterstützt von ganzen Armeen von Technikern; die Mathematik dagegen passiert ausschließlich im Kopf beziehungsweise im Geist. Ihr Lebenselixier ist das Denken, das den Mathematiker bis in den Schlaf begleitet und ihn mit einer neuen Idee wieder aus dem Schlaf reißt, sowie das Gespräch, in dem sich die Idee verändert, in dem sie korrigiert oder bestätigt wird.
»Der Mathematiker braucht kein Labor und keine Gerätschaften«, schreibt der russische Zahlentheoretiker Alexander Chintschin, »ein Stück Papier, ein Stift und kreative Fähigkeiten – das sind die Grundlagen seiner Arbeit. Wenn noch eine anständige Bibliothek und eine ordentliche Prise wissenschaftliche Begeisterung (die fast jeder Mathematiker besitzt) dazukommen, ist die schöpferische Tätigkeit vor jedem destruktiven Einfluss sicher.«1 Die anderen Wissenschaften, wie sie seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts praktiziert werden, sind im Wesentlichen kollektive Tätigkeiten; die Mathematik dagegen ist ein einsames Geschäft – eines jedoch, bei dem jeder Mathematiker einen Gleichgesinnten vor Augen hat, der sich mit ähnlichen Fragen befasst. Die Räume, in denen dieses permanente Gespräch tatsächlich stattfindet – in denen die Argumente ausgetauscht werden –, sind Tagungen, Fachzeitschriften und seit einiger Zeit auch das Internet.
Dass Russland einige der bedeutendsten Mathematiker des zwanzigsten Jahrhunderts hervorgebracht hat, ist im Grunde ein Wunder. Denn die Mathematik steht so ziemlich für alles, was in der Sowjetunion verpönt war: die argumentative Auseinandersetzung, das Studium von Mustern und Strukturen, und dies in einem Land, das seine 17Bürger kontrollierte, indem es sie zwang, in einer wechselhaften und unberechenbaren Wirklichkeit zu leben. Die Mathematik setzt auf Logik und Widerspruchsfreiheit in einer Kultur, die auf Propaganda und Angst aufgebaut war. Es bedarf eines hochspezialisierten Wissens, um mitreden zu können, was das mathematische Gespräch zu einem für Außenstehende unentzifferbaren Code macht. Am prekärsten allerdings war der Anspruch der Mathematik auf singuläre und erkennbare Wahrheiten; das Sowjetregime dagegen hatte seine Legitimität mit seiner eigenen singulären Wahrheit begründet. Aber gerade deshalb übte die Mathematik auf ebenjene Menschen in der Sowjetunion einen einzigartigen Reiz aus, die nach einem logischen, widerspruchsfreien Denken verlangten, das in anderen Wissensgebieten praktisch unerreichbar war, vom Alltag ganz zu schweigen. Und es machte die Mathematik und die Mathematiker verdächtig. Was diese an der Mathematik als so bedeutsam, als schön empfinden, erklärt der russische Algebraiker Michail Zfasman damit, dass »die Mathematik uns auf einzigartige Weise lehren kann, zwischen dem Richtigen und dem Falschen, dem Bewiesenen und dem Unbewiesenen, dem Wahrscheinlichen und dem Unwahrscheinlichen zu unterscheiden. Auch lehrt sie uns, das, was wahrscheinlich oder wahrscheinlich wahr ist, von dem zu unterscheiden, was scheinbar wahrscheinlich, in Wirklichkeit aber offensichtlich gelogen ist. Dies ist eine Eigenschaft der mathematischen Kultur, die der [russischen] Gesellschaft so sehr fehlt.«2
Kein Wunder also, dass die Bürgerrechtsbewegung in der Sowjetunion von einem Mathematiker gegründet wurde. Es war Alexander Jessenin-Wolpin, ein Spezialist auf 18dem Gebiet mathematischer Logik, der im Dezember 1965 die erste Demonstration in Moskau organisierte. Die Parolen der Bewegung entsprachen dem sowjetischen Recht und ihre Gründer hatten nur eine einzige Forderung: Sie riefen die sowjetischen Behörden auf, sich an ebendieses geltende Recht zu halten. Anders gesagt: Sie gingen für Logik und Widerspruchsfreiheit auf die Straße. Das ging dem Regime deutlich zu weit und so wanderte Jessenin-Wolpin für insgesamt vierzehn Jahre ins Gefängnis und wurde schließlich gezwungen, das Land zu verlassen.3
Die sowjetische Wissenschaft und die sowjetischen Wissenschaftler existierten, um dem Staat zu dienen. Im Mai 1927, keine zehn Jahre nach der Oktoberrevolution, ließ das Zentralkomitee der KPdSU eine entsprechende Klausel in die Statuten der sowjetischen Akademie der Wissenschaften einfügen. Ein Mitglied der Akademie, hieß es dort, kann seinen Status verlieren, »wenn seine Tätigkeit offenkundig darauf abzielt, der UdSSR Schaden zuzufügen«. Seitdem stand jedes Mitglied der Akademie grundsätzlich unter dem Verdacht, der Sowjetunion schaden zu wollen. Öffentliche Verhöre von Historikern, Literaturwissenschaftlern und Chemikern endeten damit, dass sie in Ungnade fielen, ihre akademischen Ämter und Würden verloren sowie häufig wegen Verrats im Gefängnis oder im Lager landeten. Ganze Forschungsbereiche – namentlich die Genetik – wurden zerstört, weil sie offenkundig in Widerspruch zur sowjetischen Ideologie gerieten. Stalin persönlich herrschte über die Wissenschaft. Er ließ sogar eigene wissenschaftliche Arbeiten veröffentlichen und setzte damit in bestimmten Gebieten auf Jahre hinaus die Maßstäbe für Forschungsarbeiten. Sein Artikel über Lin19guistik zum Beispiel löste zwar die Wolken der Verdächtigungen auf, die sich über der vergleichenden Sprachwissenschaft zusammengezogen hatten, sorgte aber auch dafür, dass die Kategorie des Klassengegensatzes aus der Sprachwissenschaft sowie aus dem ganzen Bereich der Semantik verbannt wurde.4 Stalin unterstützte Trofim Denissowitsch Lyssenko bei seinem Kreuzzug gegen die Genetik und war wohl auch Koautor jener Rede Lyssenkos, die geradewegs zum Verbot der Genetik in der Sowjetunion führte.5
Die russische Mathematik entging jedoch ihrer Vernichtung per Dekret. Dabei spielten drei voneinander unabhängige Faktoren eine Rolle. Erstens war die russische Mathematik gerade zu der Zeit ungewöhnlich stark, in der sie ansonsten am meisten zu leiden gehabt hätte. Zweitens zeigte sich, dass die Mathematik zu undurchsichtig war für die Art von Einmischung, die der sowjetische Führer besonders liebte. Und drittens erwies sie sich in einer kritischen Situation als äußerst nützlich für den Staat.
In den 1920er, 1930er Jahren hatte Moskau eine Reihe sehr fähiger Mathematiker vorzuweisen, die Bahnbrechendes auf jenen Gebieten leisteten, die den Grundstein für die Mathematik des zwanzigsten Jahrhunderts legten: Topologie, Wahrscheinlichkeitstheorie, Zahlentheorie, funktionelle Analysis, Differentialgleichungen und dergleichen. Mathematische Forschung ist billig, und dies half: Während die Naturwissenschaften unter mangelhafter Ausstattung oder unbeheizten Arbeitsräumen litten, blieben Mathematiker arbeitsfähig, denn sie brauchten nichts weiter als Stifte, Papier und Gespräche. »Der Mangel an aktueller Forschungsliteratur«, schreibt Chintschin über diese 20Periode, »ließ sich zum Teil durch die unablässige wissenschaftliche Kommunikation ausgleichen, die in diesen Jahren organisiert und aufrechterhalten werden konnte.« Eine ganze Generation junger Mathematiker, von denen viele ihre Ausbildung teilweise im Ausland erhalten hatten, wurde damals im Schnellverfahren auf Lehrstühle und in die Akademie der Wissenschaften berufen.
Die älteren Mathematiker freilich – die vor der Revolution Karriere gemacht hatten – waren verdächtig. Einer von ihnen, Dmitri Fjodorowitsch Jegorow, der Star der russischen Mathematik um die Jahrhundertwende, wurde verhaftet und starb 1931 in der inneren Emigration.6 Seine Verbrechen: Er war, woraus er kein Geheimnis machte, religiös, und er widersetzte sich Bestrebungen, die Mathematik zu ideologisieren, indem er zum Beispiel (erfolglos) versuchte, die Grußbotschaft eines Mathematikerkongresses an einen Parteitag versickern zu lassen. Jegorows Anhänger wurden aus der Führung der Moskauer mathematischen Institutionen verdrängt, doch gemessen am damals Üblichen handelte es sich dabei eher um eine Warnung als um eine Säuberung: Kein Forschungsgebiet wurde verboten, und der Kreml schrieb auch keine allgemeine Linie vor. Dennoch waren Mathematiker damals gut beraten, sich gegen derbere Schläge zu wappnen.
Tatsächlich wurde in den 1930er Jahren dann auch ein mathematischer Schauprozess vorbereitet. Jegorows Juniorpartner in der Leitung der mathematischen Institutionen in Moskau war sein wichtigster Schüler Nikolai Lusin. Auch er war ein charismatischer Lehrer mit zahlreichen Studenten, die ihren Kreis Lusitanija nannten, als sei er ein Zauberland oder eine geheime, von gemeinsamen Vor21stellungen zusammengehaltene Bruderschaft. Tatsächlich kann die Mathematik, wenn sie von einem Visionär gelehrt wird, leicht den Eindruck erwecken, es handele sich um die Praxis einer Geheimgesellschaft, und die meisten Mathematiker machen keinen Hehl aus ihrer Überzeugung, dass es nur sehr wenige Menschen auf der Welt gibt, die überhaupt verstehen, wovon sie reden. Für Außenstehende kann es tatsächlich sehr erheiternd sein, wenn sie Zeuge eines Gesprächs unter Mathematikern werden oder, noch besser, wenn sie eine Gruppe von ihnen beobachten, die zusammen lernt und lebt.
»Lusins militanter Idealismus«, schrieb der Kollege, der ihn denunzierte, »zeigt sich deutlich in folgendem Zitat aus dem vor der Akademie vorgetragenen Bericht über seine Auslandsreise: ›Anscheinend gehört die Menge der natürlichen Zahlen nicht einer absolut objektiven Formation an, sondern ist funktional abhängig vom Denken des Mathematikers, der gerade über eine Menge von natürlichen Zahlen spricht. Es sieht so aus, als seien bestimmte Probleme der Arithmetik absolut unlösbar.‹«
Die Denunziation war eine Meisterleistung. Der, an den sie adressiert war, brauchte keinen blassen Schimmer von Mathematik zu haben. Er oder sie musste lediglich wissen, dass Solipsismus, Subjektivität und Skepsis als zutiefst unsowjetische Eigenschaften galten. Im Juli 1936 inszenierte die Prawda, das Zentralorgan der KPdSU, eine Kampagne gegen Lusin; der berühmte Mathematiker wurde als »Feind, der eine sowjetische Maske trägt«, an den Pranger gestellt.7
Die Kampagne ging weiter: mit Zeitungsartikeln, Mitarbeiterversammlungen und einem fünftägigen Verhör durch einen von der Akademie der Wissenschaften einbe22rufenen Dringlichkeitsausschuss; weil sie ihre Arbeiten im Ausland publizierten, wurden Lusin und andere Mathematiker zu Feinden stilisiert. Der übliche Gang der Dinge bei Schauprozessen also. Dann allerdings schien plötzlich alles im Sand zu verlaufen: Lusin übte öffentlich Selbstkritik, wurde schwer gerügt, durfte aber Mitglied der Akademie bleiben. Eine strafrechtliche Ermittlung wegen Verrats wurde stillschweigend eingestellt.
Forscher haben den Fall Lusin untersucht und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass Stalin selbst für die Einstellung der Kampagne sorgte. Die Mathematik, so meinen sie, gab für Propagandazwecke einfach zu wenig her: »Die ideologische Analyse des Falls wäre in eine Debatte darüber ausgeartet, was Mathematiker unter einer Menge von natürlichen Zahlen verstehen, und das hätte sich nur mit Mühe und Not als Sabotage einstufen lassen, denn im kollektiven Bewusstsein der Sowjetbürger wurde Sabotage eher mit Explosionen in Kohlebergwerken oder mit Mörderärzten assoziiert«, so Sergei Demidow und Wladimir Jessakow, zwei Mathematiker, die sich zusammentaten, um den Fall zu untersuchen, sobald nach 1990 die Möglichkeit dazu bestand. »Eine derartige Debatte wäre leichter zu führen gewesen, hätte man für Propagandazwecke besser geeignetes Material gehabt, zum Beispiel Biologie und Darwins Evolutionstheorie, über die der große Führer ja selbst gern diskutierte. Dabei wäre es um Dinge gegangen, die ideologisch besetzt und leicht zu verstehen waren: Affen, Menschen, die Gesellschaft und das Leben an sich. Verglichen damit sind die Menge der natürlichen Zahlen oder die Funktion einer reellen Variablen recht unergiebig.«
23Lusin und die russischen Mathematiker haben tatsächlich sehr viel Glück gehabt.
Zwar überlebte die Mathematik den Angriff, aber sie wurde permanent behindert und gegängelt. Am Ende fiel Lusin in Ungnade und wurde öffentlich dafür getadelt, dass er Mathematik auf die ihr eigene Weise betrieb, also in internationalen Zeitschriften publizierte, Kontakte zu ausländischen Kollegen pflegte und sich am Gespräch, dem Lebenselixier der Mathematik, beteiligte. Die Botschaft der Lusin-Verhöre, die von sowjetischen Mathematikern bis in die 1960er Jahre, ja, in gewissem Maß bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion beherzigt wurde, war sonnenklar: Bleibe hinter dem Eisernen Vorhang! Tue so, als sei die »sowjetische« Mathematik nicht nur die fortschrittlichste der Welt – das war die offizielle Parole –, sondern auch die einzige! So kam es, dass sowjetische und westliche Mathematiker, die von den Bemühungen ihrer Kollegen auf der jeweils anderen Seite nichts wussten, an denselben Problemen arbeiteten und dass bestimmte Konzepte bis heute mit Doppelnamen bezeichnet werden wie zum Beispiel die Chaitin-Kolmogorow-Komplexität oder der Satz von Cook und Lewin. (In beiden Fällen hatten die Autoren unabhängig voneinander gearbeitet.)8 Wie der sowjetische Spitzenmathematiker Lew Pontrjagin in seinen Erinnerungen schreibt, habe er – als damals fünfzigjähriger Forscher von Weltrang – während seiner ersten Auslandsreise im Jahr 1958 Kollegen fragen müssen, ob sein neuestes Ergebnis wirklich neu sei; eine andere Möglichkeit, an diese Information zu gelangen, hatte er nicht. So standen die Dinge noch fünf Jahre nach Stalins Tod.9
24»In den 1960er Jahren durften ein paar Leute für ein halbes oder ein ganzes Jahr nach Frankreich gehen«, erinnerte sich Sergei Gelfand, ein russischer Mathematiker, der jetzt den Verlag der American Mathematical Society leitet. »Wenn sie fuhren und zurückkamen, war das für alle sowjetischen Mathematiker sehr hilfreich, denn dort drüben konnten sie sich ja mit anderen Leuten unterhalten; auf ihren Reisen wurde ihnen klar – und sie konnten dann andere darauf aufmerksam machen –, dass selbst die begabtesten Leute den Überblick verlieren, wenn sie hinter dem Eisernen Vorhang im eigenen Saft schmoren. Sie müssen mit anderen reden, die Arbeiten anderer lesen. Und das ging in beide Richtungen: Ich kenne amerikanische Mathematiker, die extra Russisch lernten, um mathematische Fachzeitschriften aus der Sowjetunion lesen zu können.«10 Es gibt in der Tat eine Generation amerikanischer Mathematiker, die mathematisches Russisch lesen konnte – eine ziemlich spezielle Fähigkeit, selbst für Leute, die Russisch als Muttersprache gelernt haben. Jim Carlson, der Präsident des Clay Mathematics Institute, ist einer von ihnen. Gelfand wiederum verließ Russland Anfang der 1990er Jahre und wurde von der American Mathematical Society angeworben, um die Wissenslücke zu füllen, die sich in den Jahren der Sowjetherrschaft gebildet hatte: Er koordinierte die Übersetzung der von russischen Mathematikern akkumulierten Arbeiten und deren Veröffentlichung in den Vereinigten Staaten.
In der Sowjetunion wurden die Mathematiker der Arbeitsmittel beraubt, die Chintschin beschrieben hat: »eine mehr oder weniger anständige Bibliothek« und die Möglichkeit zu »ständiger wissenschaftlicher Kommunikation«. 25»Ein Stück Papier, einen Stift und kreative Fähigkeiten« hatten sie jedoch – und vor allem hatten sie sich gegenseitig: Die Mathematiker schlüpften bei den ersten Säuberungen durch, weil die Mathematik zu undurchsichtig und zu unbedeutend war, sich von daher propagandistisch nicht ausschlachten ließ. Unter Stalins fast vier Jahrzehnte währender Herrschaft zeigte sich allerdings, dass nichts zu obskur war, um der Vernichtung zu entgehen. Auch die Mathematik wäre drangekommen, hätte sie nicht an einem entscheidenden Punkt in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts den Bereich des abstrakten Gesprächs verlassen und sich plötzlich unverzichtbar gemacht. Es waren der Zweite Weltkrieg und das anschließende Wettrüsten, die die sowjetischen Mathematiker und die sowjetische Mathematik letztendlich gerettet haben.
Am 22. Juni 1941 wurde die Sowjetunion von Nazi-Deutschland überfallen. Drei Wochen später gab es keine sowjetische Luftwaffe mehr: Die meisten Maschinen waren, noch bevor sie starten konnten, auf den Flugplätzen zerstört worden.11 Daraufhin ließ die russische Militärführung zivile Verkehrsmaschinen zu Bombern umrüsten. Doch die Flugzeuge für den zivilen Flugverkehr waren deutlich langsamer als die Militärmaschinen, so dass die bisherigen Zielvorgaben nicht mehr stimmten. Das Militär brauchte einen Mathematiker – vielmehr: eine kleine Armee von Mathematikern –, um die Geschwindigkeiten und Entfernungen neu zu berechnen, damit die Luftwaffe ihre Ziele auch treffen konnte. Andrei Kolmogorow, der bedeutendste russische Mathematiker des zwanzigsten Jahrhunderts, kehrte aus Tatarstan, wohin viele Aka26demiker bei Kriegsausbruch geflohen waren, nach Moskau zurück und berechnete mit Studenten, die mit Addiermaschinen bewaffnet waren, die Bomben- und Geschütztabellen der Roten Armee.12 Nachdem dies erledigt war, entwickelte er ein neues System zur statistischen Kontrolle und Vorhersage für das sowjetische Militär.
Bei Kriegsbeginn war Kolmogorow achtunddreißig Jahre alt, bereits Mitglied im Präsidium der sowjetischen Akademie der Wissenschaften – womit er zu den wenigen sehr einflussreichen Akademikern in der UdSSR gehörte – und weltberühmt für seine Arbeiten zur Wahrscheinlichkeitstheorie. Zugleich war er ein ungewöhnlich produktiver, erfolgreicher Lehrer: Bis zu seinem Lebensende betreute er neunundsiebzig Dissertationen, war maßgeblich an den Mathematik-Olympiaden beteiligt und gab wichtige Impulse für die mathematischen Bildungseinrichtungen der Sowjetunion.13 Diese wissenschaftliche Karriere unterbrach Kolmogorow jedoch während des Krieges, um direkt für den Staat zu arbeiten – nicht zuletzt, weil er auch gerne nachweisen wollte, dass Mathematiker für den Staat von überlebenswichtiger Bedeutung sind.
Am 9. Mai 1945 erklärte die Sowjetunion den, wie er dort hieß, Großen Vaterländischen Krieg für beendet und sich zum Sieger. Im August warfen die Vereinigten Staaten Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki. Daraufhin hüllte sich Stalin monatelang in Schweigen. Als er nach seiner sogenannten Wiederwahl im Februar 1946 erstmals wieder öffentlich in Erscheinung trat, versprach er seinen Landsleuten, dass die Sowjetunion eine eigene Atomstreitmacht entwickeln und den 27Westen überholen werde.14 Seit knapp einem Jahr liefen bereits alle möglichen Anstrengungen, um eine Armee von Physikern und Mathematikern aufzubauen und so mit dem Manhattan-Projekt der Amerikaner gleichzuziehen.15 Damit sie am Wettlauf um die Bombe mitwirken konnten, waren junge Wissenschaftler von der Front abgezogen, einige sogar aus der Haft entlassen worden.
In der Nachkriegszeit investierte die Sowjetunion kräftig in die Grundlagenforschung zur Entwicklung moderner militärischer Technologien; über vierzig neue Städte wurden aus dem Boden gestampft, in denen Naturwissenschaftler und Mathematiker abgeschirmt von der Außenwelt arbeiteten. In ihrer Dringlichkeit erinnert diese Mobilisierung in der Tat an das amerikanische Manhattan-Projekt – nur war sie sehr viel umfangreicher und die Einrichtungen haben länger bestanden. Bekanntlich sind die Schätzungen zu der Anzahl der im sowjetischen Rüstungsprogramm der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts Beschäftigten ungenau, es werden aber etwa zwölf Millionen Menschen gewesen sein; allein in militärischen Forschungseinrichtungen arbeiteten einige Millionen.16 Ein junger Mathematiker oder Physiker, der gerade seinen Abschluss gemacht hatte, landete mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer Einrichtung, die militärischen Zwecken diente. Wer dorthin abkommandiert wurde, arbeitete unter Bedingungen fast vollständiger Isolation: Angestellte des Verteidigungsministeriums waren, ob sie nun Zugang zu sensiblen militärischen Informationen hatten oder nicht, nicht einfach nur verdächtig, sondern galten als potenzielle Verräter, wenn sie Kontakte ins Ausland unterhielten. Außerdem lagen viele dieser Arbeitsplätze in den meist 28weit abgelegenen Forschungsstädten, wo man zwar mit materiellen Privilegien ausgestattet, aber völlig abgeschirmt lebte; es gab einfach keine Möglichkeit, mit der Außenwelt in geistigen Austausch zu treten. Doch ohne stetigen Meinungsaustausch werden auch Papier und Stift zu nutzlosen Werkzeugen. Die Sowjetunion brachte es fertig, ihre besten mathematischen Köpfe vor aller Augen wegzusperren.
Nach Stalins Tod 1953 änderte die Sowjetunion ihre Haltung zum Ausland: Jetzt sollte das Land nicht nur gefürchtet, sondern auch geachtet werden. Die meisten Mathematiker mussten sich weiterhin am Bau von Bomben und Raketen beteiligen, einige wenige aber durften für das Prestige sorgen. Ende der 1950er Jahre zeigte der Eiserne Vorhang die ersten kleinen Risse – nicht so groß, um den dringend nötigen Gedankenaustausch zwischen sowjetischen und nichtsowjetischen Mathematikern zuzulassen, aber doch groß genug, um einige der stolzesten Errungenschaften der sowjetischen Mathematiker vorzuführen.
In den 1970er Jahren hatte sich ein sowjetisches Mathematikerestablishment gebildet – als totalitäres Subsystem im totalitären System. Es versorgte seine Mitglieder nicht nur mit Arbeit und Geld. Wer dazugehörte, bekam auch Wohnungen und Lebensmittel und konnte, vor allem, reisen. Das System bestimmte, wo man zu wohnen hatte, wann, wohin und wie man zur Arbeit fahren oder die Freizeit verbringen konnte. Kontrollierend und streng, aber auch fürsorglich – wie eine Mutter sorgte das System für seine Kinder: Sie wurden gehegt und gepflegt und waren, verglichen mit Normalbürgern und deren Lebensbe29dingungen, zweifellos eine privilegierte Gruppe. Wurden Grundnahrungsmittel knapp, konnten Mathematiker und andere Wissenschaftler im unmittelbaren Staatsdienst in besonderen Geschäften einkaufen, die in der Regel bessere Waren führten und weniger überfüllt waren als die normalen Läden.17 Wohneigentum gab es im sowjetischen Jahrhundert für die meisten Menschen nicht, Wohnungen wurden staatlich verwaltet und den Sowjetbürgern zugewiesen. Mitglieder wissenschaftlicher Organisationen dagegen bekamen ihre Wohnungen von ihren jeweiligen Einrichtungen, und diese Wohnungen waren in der Regel größer und auch günstiger gelegen als die ihrer Landsleute. Schließlich kamen die Mitglieder des mathematischen Establishments in den Genuss eines der seltensten Privilegien im Leben eines Sowjetbürgers: Sie durften ins Ausland reisen. Die Akademie der Wissenschaften konnte, natürlich unter den strengen Augen der Partei und der staatlichen Sicherheitsdienste, selbst entscheiden, ob ein Mathematiker etwa eine Einladung zu einem Vortrag auf einer wissenschaftlichen Tagung annehmen durfte; die Akademie entschied, wer ihn auf der Reise begleitete, wie lange sie dauern sollte, und in vielen Fällen auch, wo er im Ausland zu wohnen hatte. Sergei Nowikow, der erste sowjetische Gewinner der Fields-Medaille, durfte beispielsweise 1970 nicht nach Nizza reisen, um die Auszeichnung entgegenzunehmen. Sie wurde ihm erst ein Jahr später überreicht, als die Internationale Mathematische Union in Moskau tagte.18
Doch auch für Mitarbeiter mathematischer Institute blieben die Mittel dauerhaft knapp. Die Zahl der Bewerber überstieg die der guten Wohnungen, stets wollten 30mehr Wissenschaftler auf eine Tagung fahren, als zugelassen wurden. So war es eine bösartige, hinterhältige kleine Welt voller Intrigen, Denunziationen und Konkurrenzkämpfen, die mit unfairen Mitteln ausgetragen wurden. Wer in diesen Club eintreten wollte, hatte hohe Barrieren zu überwinden: Ein Mathematiker musste ideologisch zuverlässig und nicht nur der Partei, sondern auch bestimmten Mitgliedern des Establishments treu ergeben sein. Juden und Frauen hatten so gut wie keine Chance.
Und wer es geschafft hatte, konnte jederzeit wegen schlechter Führung wieder ausgestoßen werden. Das widerfuhr Kolmogorows Schüler Eugene Dynkin, dem man vorwarf, er verbreite an der von ihm geleiteten Mathematikschule in Moskau die Atmosphäre eines gewissenlosen Liberalismus. Leonid Lewin, auch er ein Schüler Kolmogorows, wurde ausgestoßen, weil man ihm Kontakte zu Dissidenten vorwarf. Er schreibt: »Ich wurde für jeden zur Last, der mit mir in Verbindung stand; ich wurde von keiner ernst zu nehmenden Forschungseinrichtung angestellt, und ich denke, ich hätte noch nicht einmal das Recht gehabt, an Seminaren teilzunehmen, denn die Teilnehmer wurden angewiesen, [die Behörden] zu benachrichtigen, wenn ich auftauchte. Meine Moskauer Existenz schien sinnlos geworden zu sein.«19 Sowohl Dynkin als auch Lewin emigrierten. Es muss bald nach seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten gewesen sein, als Lewin erfuhr, dass ein Problem, das er in Mathematikseminaren in Moskau beschrieben hatte (und das teilweise an Kolmogorows Arbeiten über Komplexitäten anschloss), auch vom amerikanischen Computerwissenschaftler Stephen Cook definiert worden war. Cook und Lewin, der eine Professur an 31der Boston University bekam, gelten als gemeinsame Entdecker des Theorems der NP-Vollständigkeit – des sogenannten Satzes von Cook und Lewin, der wiederum einem jener sieben Millennium-Probleme zugrunde liegt, für deren Lösung das Clay Mathematics Institute jeweils eine Million Dollar ausgesetzt hat.20 Der Satz besagt im Wesentlichen, dass manche Probleme zwar leicht zu formulieren sind, aber so viele Rechenoperationen benötigen, dass es eine Maschine, die sie lösen könnte, nicht geben kann.
Daneben lebten in der Sowjetunion auch solche Mathematiker, die praktisch nie Mitglieder des Establishments wurden: solche, die das Pech hatten, Juden oder Frauen zu sein, sowie diejenigen, die an ihren Universitäten die falschen Ratgeber hatten, und auch jene, die sich nicht entschließen konnten, der Partei beizutreten. Menschen also, »denen klar war, dass sie nie in die Akademie aufgenommen werden würden, und die nur hoffen konnten, ihre Doktorarbeit an irgendeinem Institut in Minsk verteidigen zu können, vorausgesetzt, sie hatten Beziehungen dort«, so Sergei Gelfand, der Verleger der American Mathematical Society und Sohn von Israel Gelfand, einem der zwanzig besten russischen Mathematiker des zwanzigsten Jahrhunderts, auch er ein Schüler Kolmogorows. »Diese Leute besuchten Seminare an der Universität und wurden offiziell beispielsweise als Mitarbeiter eines Forschungsinstituts der Holzwirtschaft geführt. Sie waren gute Mathematiker, konnten irgendwann sogar Kontakte ins Ausland knüpfen und wurden gelegentlich im Westen veröffentlicht – es war hart, sie mussten beweisen, dass sie keine Staatsgeheimnisse weitergaben, aber es war möglich. Auch 32einige Mathematiker aus dem Westen kamen, manche sogar für einen längeren Aufenthalt, weil sie wussten, dass es in Russland eine Menge talentierter Leute gab. Das war die inoffizielle Mathematik.«
Unter denen, die für einen längeren Aufenthalt kamen, war auch Dusa McDuff, eine britische Algebraikerin (jetzt emeritierte Professorin der State University of New York in Stony Brook).21 Sechs Monate studierte sie beim älteren Gelfand. Diese Erfahrung habe ihr die Augen geöffnet, wie Mathematik zu betreiben ist – unter anderem im ständigen Gespräch mit anderen Mathematikern –, und was Mathematik wirklich ist. »Es war eine wunderbare Zeit, in der die Lektüre von Puschkins Mozart und Salieri ebenso eine Rolle spielte wie die Möglichkeit, etwas über Lie-Gruppen zu lernen oder Cartan und Eilenberg zu lesen. Gelfand verblüffte mich, er sprach über Mathematik nicht anders als über Dichtung. Über einen langen Aufsatz, der vor Formeln nur so strotzte, sagte er einmal, er enthalte die vagen Anfänge einer Idee, die ihm nur andeutungsweise klar sei und die er nie klarer habe herausbringen können. Ich dachte immer, Mathematik sei etwas ganz Eindeutiges: Eine Formel ist eine Formel, und Algebra ist Algebra, aber Gelfand entdeckte noch ganz andere Dinge zwischen den Zeilen seiner Spektralsequenzen!«22
Auf dem Papier waren die Stellen, auf denen die Mitglieder der mathematischen Gegenkultur saßen, durchweg anspruchslos und uninteressant, ganz nach der bekanntesten Formel für das sowjetische Arbeitssystem: »Wir tun so, als arbeiteten wir, und sie tun so, als bezahlten sie uns.« Die Mathematiker erhielten bescheidene Gehälter, die im Laufe eines Arbeitslebens etwas stiegen und ausreichten, 33um die Grundbedürfnisse zu decken, so dass sie ihre Zeit tatsächlich mit Forschung verbringen konnten. »Niemand«, so erklärte mir Gelfand, »kam auf den Gedanken, seine Arbeit auf ein enges Gebiet zu begrenzen, um schneller veröffentlichen zu können und so an eine Festanstellung zu kommen«. »Mathematik war fast so etwas wie ein Hobby. Man konnte sich mit Dingen befassen, die in den nächsten zehn Jahren niemandem etwas nützen würden.« Unter Mathematikern hieß das »Mathematik um der Mathematik willen« – und die Parallele zu den Künstlern, die um der Kunst willen ans Werk gehen, gefiel den Mathematikern durchaus.23 Für diese Arbeit gab es keine materielle Anerkennung – keine Professur, kein Geld, keine Wohnung, keine Auslandsreisen; alles, was sich mit ihrer glänzenden Arbeit erwerben ließ, war die Anerkennung der Kollegen. Und wer sich unlauterer Methoden bediente, etwa um sich Konkurrenzvorteile zu verschaffen, musste damit rechnen, die Achtung der Kollegen zu verlieren, ohne dadurch irgendetwas zu gewinnen. Das alternative mathematische Establishment in der Sowjetunion war also etwas, was es sonst in der wirklichen Welt so gut wie gar nicht und nirgendwo gab: Reine Meritokratie; hier zählte tatsächlich nichts anderes als die intellektuelle Leistung.
Inoffizielle Vorlesungen und Seminare waren es, in denen das mathematische Gespräch in der Sowjetunion wiedergeboren wurde; und der Reiz, den die Mathematik auf einen Geist ausübt, der die Herausforderung sucht, der logisches und widerspruchsfreies Denken liebt, machte sich erneut deutlich bemerkbar. »In der Sowjetunion nach Stalin war [Mathematik] für einen frei denkenden Intellek34tuellen eine naheliegende Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen«, sagte mir Grigori Schabat, ein bekannter Moskauer Mathematiker. »Wenn ich meinen Beruf frei hätte wählen können, wäre ich Literaturkritiker geworden. Aber ich wollte arbeiten und mich nicht mein Leben lang mit der Zensur herumschlagen.«24 Nicht nur, dass man geistig arbeiten konnte, ohne dass sich der Staat einmischte (allerdings gewährte er auch keine Unterstützung), versprach die Mathematik, sondern darüber hinaus, dass man für sich etwas finden würde, das es in der spätsowjetischen Gesellschaft sonst nirgendwo gab: eine erkennbare singuläre Wahrheit. »Mathematiker sind Leute, für die eine bestimmte intellektuelle Redlichkeit alles ist«, so Schabat weiter. »Wenn zwei Mathematiker gegensätzliche Dinge behaupten, dann hat einer von ihnen recht und der andere unrecht. Und sie werden die Sache auf jeden Fall ausfechten, und derjenige, der unrecht hatte, wird auf jeden Fall einräumen, dass er sich geirrt hat.« Die Suche nach der Wahrheit kann lange dauern – aber in der späten Sowjetunion stand die Zeit ohnehin still. So hatten die Bewohner des alternativen mathematischen Universums alle Zeit der Welt.
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Wie Mathematiker gemacht werden
Mitte der 1960er Jahre bot Professor Garold Natanson einer Studentin namens Ljubow eine Doktorandenstelle an. Ein solches Angebot machte niemand so ohne Weiteres: Doktorandinnen sind bekanntlich unzuverlässig, werden irgendwann schwanger und lassen sich auch sonst durch alles Mögliche ablenken. Zudem war diese Studentin auch noch Jüdin. Professor Natanson musste also strategisch vorgehen, musste um die Unterstützung seiner Kollegen buhlen. In den Augen des Systems waren Juden noch unzuverlässiger als Frauen, und es gab ausgeklügelte Praktiken antisemitischer Diskriminierung, die die Kraft ungeschriebener Gesetze hatten. Natanson, der selbst Jude war, lehrte am Pädagogischen Institut Herzen, das in der Hierarchie unterhalb der Leningrader Staatsuniversität angesiedelt war und daher auch Juden als Studenten und Lehrer aufnehmen durfte – in »vertretbarem Umfang« oder was als solcher in der Nachkriegssowjetunion durchging. Die Studentin war schon älter, knapp dreißig, womit sie das für Frauen übliche Heiratsalter bereits ein gutes Stück überschritten hatte. Natanson konnte also annehmen, dass sie sich entschlossen hatte, ihr Leben der Mathematik zu widmen.
Damit lag er nicht völlig daneben: Diese Frau war der Mathematik ganz und gar ergeben – und doch lehnte sie das großzügige Angebot ab. Sie erklärte, sie habe vor Kur36zem geheiratet und wolle eine Familie gründen. Sie nahm eine Stelle als Mathematiklehrerin an einer Berufsschule an und verschwand für mehr als zehn Jahre aus der Leningrader Mathematikszene.
Zehn oder zwölf Jahre – das war in sowjetischer Zeitrechnung so gut wie nichts. In Leningrad wurden neue Wohnungen gebaut, und so konnten einige Familien die übervölkerte und verfallende Innenstadt verlassen und stattdessen in die Betonhochhäuser der Randbezirke ziehen. Kleidung und Lebensmittel waren nach wie vor knapp und von erbärmlicher Qualität, aber die Industrieproduktion zog etwas an, und so konnten sich die neuen Vorortbewohner immerhin halbautomatische Waschmaschinen und Fernsehapparate zulegen. Die vorgeblichen Schwarzweißfernseher zeigten aber meistens nur graue Schatten, also ein ziemlich genaues Bild der Lebenswirklichkeit. Ansonsten änderte sich wenig. Professor Natanson lehrte weiter am Herzen-Institut, an dem sich immer mehr Studenten drängten und dessen Gebäude nach und nach verfiel. Irgendwann tauchte seine ehemalige Studentin Ljubow wieder in seinem Büro auf. Sie war älter und auch ein bisschen fülliger geworden, hatte tatsächlich ein Kind bekommen, einen Jungen, der mittlerweile zur Schule ging und eine mathematische Begabung zeigte. Er hatte in einem der Neubaugebiete, in dem sie wohnten, an einem Mathematikwettbewerb teilgenommen und gut abgeschnitten. Im zeitlosen System der russischen Mathematik war er an genau dem Punkt angelangt, an dem seine Mutter ausgestiegen war.
Natanson wird das, was ihm seine ehemalige Studentin erzählte, bekannt vorgekommen sein, stammte er doch 37selbst aus einer Mathematikerdynastie: Sein Vater Isidor hatte das maßgebliche Analysis-Lehrbuch Russlands geschrieben und bis zu seinem Tod 1963