Über das Buch
Sie befahl, und das Licht gehorchte. Auf einen Wink von ihr fielen Sonne, Mond und Sterne auf die Knie und erhoben sich wieder. Es war einmal eine Prinzessin, mein Kind, und die ganze Welt lag ihr zu Füßen … Blonde Locken, ein warmer Blick, freundlich – der eine. Dunkle Augen, braungebrannt, ein beunruhigendes Lächeln – der andere. Gleich zwei Männer sind es, die Lias Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Es ist der erste Abend, an dem Lia als Schankmädchen in der Taverne arbeitet. Dabei ist sie eigentlich eine Prinzessin. Doch sie ist auf der Flucht, weggelaufen von zu Hause, weil sie sich nicht auf die Ehe mit einem Prinzen einlassen wollte, den sie noch nie in ihrem Leben gesehen hat. Was sie nicht ahnt: Einer der beiden Männer ist der Prinz, gegen den sie sich entschieden hat. Und der andere ein Mörder, losgeschickt, um Lia zu töten. Während Lia sich zu beiden hingezogen fühlt, ahnt sie nicht, dass sie längst in größter Gefahr schwebt …
MARY E. PEARSON
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch
von Barbara Imgrund
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
One in der Bastei Lübbe AG
Titel der englischsprachigen Originalausgabe:
»The Remnant Chronicles. The Kiss of Deception«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2014 by Mary E. Pearson
Published by arrangement with Mary E. Pearson
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Julia Przplaska, Ingolstadt
Umschlaggestaltung: Jeannine Schmelzer
Umschlag: © 2015 by Rodrigo Adolfo, Umschlagdesign by Rich Deas;
Covermotive: © Trevillon Images/Ilina Simeonova,
Trevillon Images/Aval Adron und Shutterstock
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-4121-8
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Für den Jungen, der sein Glück beim Schopf packte.
Für den Mann, der es festhielt.
Erzähl mir noch einmal davon, Ama. Erzähl mir von dem Licht.
Ich durchforste mein Gedächtnis nach einem Traum. Einer Geschichte. Einer verschwommenen Erinnerung.
Ich war jünger als du, Kind.
Die Grenze zwischen Wahrheit und Überleben löst sich auf. Die Not. Die Hoffnung. Meine eigene Großmutter, die mir Geschichten erzählte, um mich satt zu kriegen, weil es nichts anderes gab. Ich betrachte dieses kleine Mädchen. So spindeldürr. Nicht einmal im Traum weiß sie, was ein voller Magen ist. Und dennoch ist sie voller Hoffnung. Voller Erwartung. Ich ergreife sie an den dünnen Armen und ziehe ihren federleichten Leib auf meinen Schoß.
Es war einmal eine Prinzessin, mein Kind, die war nicht größer als du. Die ganze Welt lag ihr zu Füßen. Ein Befehl von ihr, und das Licht gehorchte. Ein Wink von ihr, und Sonne, Mond und Sterne fielen auf die Knie und erhoben sich wieder. Es war einmal …
Vorbei. Nun ist da nur noch dieses Kind mit den goldenen Augen in meinen Armen. Das ist es, was zählt. Das und das Ende der Reise. Das Versprechen. Die Hoffnung.
Komm, mein Kind. Es wird Zeit zu gehen.
Bevor die Plünderer kommen. Das, was überdauert. Das, was bleibt. Das, was ich ihr nicht zu sagen wage.
Ich erzähle dir mehr, wenn wir laufen. Über das, was davor war.
Es war einmal …
Gaudrels Vermächtnis
Heute war der Tag, an dem tausend Träume sterben mussten und ein einziger geboren wurde.
Der Wind wusste es. Es war der erste Juni, aber kalte Böen verbissen sich so heftig wie im tiefsten Winter in die Festung oben auf dem Hügel. Sie rüttelten fluchend an den Fenstern und fuhren mit warnendem Raunen durch zugige Hallen. Es gab kein Entrinnen vor dem, was kommen sollte.
Unaufhaltsam rückte die Stunde näher. Ich verschloss die Augen vor diesem Gedanken, doch ich wusste genau, dass der Tag bald in zwei Teile zerfallen würde. Für immer würde er mein Leben in ein Davor und ein Danach aufspalten, und zwar mit einem raschen Handstreich, an dem ich ebenso wenig etwas würde ändern können wie an der Farbe meiner Augen.
Ich stieß mich vom Fenster ab, in meine eigene Atemwolke gehüllt, und überließ die endlosen Hügel von Morrighan ihren eigenen Sorgen. Es wurde Zeit, mich meinem großen Tag zu stellen.
Die Zeremonien liefen ab, wie es bestimmt war, und die rituellen Handlungen waren haargenau so vorbereitet, wie es geschrieben stand – als Vermächtnis der Größe Morrighans und der Verbliebenen, der das Königreich entsprungen war. Ich wehrte mich nicht. Zu diesem Zeitpunkt war ich längst wie betäubt, aber dann kam der Mittag, und mein Herz raste wieder, als ich dem letzten jener Schritte ins Auge blickte, der das Hier vom Dort trennte.
Ich lag nackt mit dem Gesicht nach unten auf einem steinharten Tisch, den Blick auf den Boden unter mir gerichtet, während Fremde mit stumpfen Messern über meinen Rücken schabten. Ich verharrte absolut reglos, obwohl ich wusste, dass die Messer, die über meinen Rücken strichen, von umsichtigen Händen geführt wurden. Jenen, welchen sie gehörten, war sehr wohl bewusst, dass ihr Leben von ihrer Geschicklichkeit abhing. Absolute Bewegungslosigkeit half mir, die Scham über meine Blöße zu verbergen, während mich diese fremden Hände berührten.
Pauline war immer in der Nähe geblieben und beobachtete uns wahrscheinlich mit besorgtem Blick. Ich konnte sie nicht sehen, sondern nur den Schieferboden unter mir. Mein langes dunkles Haar hing in einem wirbelnden schwarzen Tunnel rund um mein Gesicht herab und blendete die ganze Welt aus – abgesehen von dem rhythmischen Kratzen der Messer.
Das letzte Messer fuhr tiefer an meinem Rücken hinab und schabte über die zarte Kuhle genau über meinem Gesäß. Ich kämpfte gegen den Impuls an zurückzuschrecken, doch schließlich zuckte ich doch. Ein kollektives Stöhnen lief durch den Raum.
»Lieg still!«, mahnte meine Tante Cloris.
Ich spürte die Hände meiner Mutter an meinem Kopf; sie liebkosten mich sanft. »Nur noch ein paar Linien, Arabella. Das ist alles.«
Obwohl ihre Worte als Trost gemeint waren, sträubte sich alles in mir gegen meinen offiziellen Namen, auf dessen Verwendung meine Mutter pochte – jenen ererbten Namen, den schon so viele vor mir getragen hatten. Ich wünschte, dass sie wenigstens an meinem letzten Tag in Morrighan alle Förmlichkeit fahren lassen und den Namen benutzen würde, den ich bevorzugte. Den Kosenamen, den meine Brüder gebrauchten und der einen meiner vielen Namen auf seine letzten drei Buchstaben abkürzte. Lia. Ein einfacher Name, der wirklich zu mir passte.
Das Schaben endete. »Es ist vollbracht«, erklärte der Erste Künstler. Die anderen murmelten zustimmend.
Ich hörte das Klappern eines Tabletts, das auf dem Tisch neben mir abgestellt wurde und den überwältigenden Duft von Rosenöl verströmte. Füße schlurften umher und fanden sich in einem Kreis zusammen – meine Tanten, Mutter, Pauline, andere, die bestellt worden waren, um dem Ritus beizuwohnen. Murmelnd wurden Gebete gesungen. Ich beobachtete, wie die schwarze Robe des Priesters an mir vorüberzog, dann erhob sich seine Stimme über die anderen, während er warmes Öl auf meinen Rücken träufelte. Die Künstler rieben es ein, wodurch ihre geübten Finger die zahllosen Traditionen des Hauses Morrighan versiegelten. Sie fixierten jene Versprechen, welche auf meinen Rücken geschrieben worden waren. Diese wiederum kündeten von den Verbindlichkeiten des heutigen Tages und versicherten, dass sie auch an jedem kommenden Tag gelten würden.
Sie sind voller Hoffnung, dachte ich bitter, während mein Verstand die geordneten Bahnen verließ und die anstehenden Aufgaben zu ordnen versuchte – jene Aufgaben, die nur in mein Herz und nicht auf ein Stück Papier geschrieben waren. Ich hörte kaum, was der Priester von sich gab. In einem monotonen Singsang sprach er von ihrer aller Bedürfnissen, aber nicht von meinen.
Ich war erst siebzehn. Hatte ich denn kein Recht auf meine eigenen Träume für die Zukunft?
»Und für Arabella Celestine Idris Jezelia, Erste Tochter des Hauses Morrighan, die Früchte ihres Opfers und die Segnungen des …«
Er schwadronierte weiter und weiter, und bei den endlosen vorgeschriebenen Segnungen und Sakramenten schwoll seine Stimme immer mehr an, bis sie den ganzen Raum beherrschte. Als ich schon dachte, ich könnte es nicht mehr ertragen, weil seine Worte mir die Luft abschnürten, hielt er inne. Einen gnädigen, süßen Augenblick lang erfüllte nichts als Stille meine Ohren. Ich holte wieder Luft, und dann wurde der Schlusssegen erteilt.
»Denn die Königreiche erstanden aus der Asche der Menschen und wurden aus den Knochen der Verlorenen errichtet, und dorthin werden wir zurückkehren, wenn der Himmel es will.« Er hob mein Kinn mit einer Hand, und mit dem Daumen der anderen bestrich er meine Stirn mit Asche.
»So geschehe es dieser Ersten Tochter des Hauses Morrighan«, vollendete meine Mutter, wie es die Tradition verlangt, und wischte die Asche mit einem ölgetränkten Lappen ab.
Ich schloss die Augen und senkte den Kopf. Erste Tochter. Segen und Fluch zugleich. Und wenn die Wahrheit ans Licht kam, war ich auch eine Betrügerin.
Meine Mutter legte mir eine Hand auf die Schulter. Meine Haut brannte unter ihrer Berührung. Ihr Trost kam zu spät. Der Priester sprach ein letztes Gebet in ihrer Muttersprache, ein Schutzgebet, das seltsamerweise nicht Tradition war. Als er zum Ende gekommen war, zog sie die Hand wieder weg.
Es wurde noch mehr Öl vergossen, und ein leiser, spukhafter Gebetssingsang hallte durch die kalte Steinkammer, während der Rosenduft schwer in der Luft und in meinen Lungen lastete. Ich atmete tief durch. Trotz meiner Lage genoss ich diesen Teil – das heiße Öl und die warmen Hände, die Knoten weich massierten, welche sich seit Wochen in meinem Rücken verhärtet hatten. Die samtige Wärme nahm der mit Zitrone angemischten Farbe die saure Schärfe, und der blumige Duft entführte mich für einen Augenblick in einen verborgenen Sommergarten, in dem mich niemand finden würde. Wenn es nur so einfach wäre.
Aber auch dieser Schritt wurde für vollbracht erklärt, und die Künstler traten von ihrem Werk zurück. Geräuschvolles Luftholen erklang, als das Ergebnis auf meinem Rücken zur Begutachtung freigegeben wurde.
Ich hörte jemanden näher rücken. »Ich könnte mir vorstellen, dass er ihrem Rücken gar nicht besonders lange Beachtung schenken wird, wenn er den ganzen Rest sehen kann.« Ein Kichern lief durch die Kammer. Tante Bernette hatte noch nie ein Blatt vor den Mund genommen, nicht einmal wenn ein Priester im Raum und ein Protokoll einzuhalten war. Mein Vater behauptete, ich hätte meine vorlaute Zunge von ihr, obwohl ich heute ermahnt worden war, sie zu zügeln.
Pauline nahm meinen Arm und half mir beim Aufstehen. »Eure Hoheit«, sagte sie, als sie mich in ein weiches Laken hüllte, um das letzte bisschen Würde, das mir noch blieb, zu bewahren. Wir wechselten einen raschen, wissenden Blick, der mir Kraft gab, dann führte sie mich zu dem großen Spiegel und reichte mir einen kleinen Handspiegel, damit auch ich das Ergebnis betrachten konnte. Ich strich mein Haar zur Seite und ließ das Laken so weit fallen, dass ich bis auf meinen unteren Rücken sah.
Die anderen erwarteten schweigend meine Reaktion. Ich unterdrückte den Drang, nach Luft zu schnappen. Diese Genugtuung wollte ich meiner Mutter nicht gönnen, aber ich konnte nicht leugnen, dass mein Hochzeitskavah vorzüglich gelungen war. Es versetzte mich tatsächlich in Ehrfurcht.
Sogar das hässliche Wappen des Königreichs Dalbreck war erstaunlich schön geworden: Der knurrende Löwe auf meinem Rücken war gezähmt, und komplizierte Muster fassten anmutig seine Klauen ein; die verschlungenen Reben Morrighans umrankten ihn elegant und ergossen sich in einem V meinen Rücken herab, bis die letzten zarten Verästelungen sich wirbelnd an die sanfte Ausbuchtung meines unteren Rückens schmiegten. Dem Löwen war Ehre zuteilgeworden, und doch hatte man ihn auf kluge Weise gebändigt.
Es schnürte mir die Kehle zu, und meine Augen begannen zu brennen. Es war ein Kavah, das mir hätte gefallen können … Ich hätte stolz sein müssen, es tragen zu dürfen, doch nun schluckte ich und stellte mir vor, wie der Prinz ehrfürchtig glotzen würde, wenn die Gelübde gesprochen waren und der Hochzeitsumhang fiel. Die lüsterne Kröte. Aber ich zollte den Künstlern den verdienten Respekt.
»Es ist vollkommen. Ich danke euch, und ich habe keinen Zweifel daran, dass im Königreich Dalbreck vom heutigen Tag an die Künstler von Morrighan in höchstem Ansehen stehen werden.« Meine Bemühungen entlockten meiner Mutter ein Lächeln, denn sie wusste, wie hart ich mir diese Worte abgerungen hatte.
Nun wurden alle Außenstehenden hinausgeleitet, sodass ich die restlichen Vorbereitungen nur noch mit meinen Angehörigen und Pauline teilte, die mir assistieren würde. Meine Mutter holte das weiße Seidenunterkleid aus dem Kleiderkasten; es war nur ein Hauch von Stoff und so dünn und fließend, dass es über ihre Arme zu schmelzen schien. In meinen Augen war es bloß eine nutzlose Formalität, denn es bedeckte nur sehr wenig und war so hilfreich wie die unaufhörlichen Schichten von Traditionen. Das Brautkleid kam als Nächstes; ein V-förmiger Rückenausschnitt sollte dem Kavah zu Ehren des Königreichs des Bräutigams einen würdigen Rahmen geben und aller Welt die neue Gefolgschaftspflicht seiner Braut verdeutlichen.
Meine Mutter straffte die verborgenen Schnürbänder des Kleides und zog sie zusammen, sodass sich das Mieder eng an meine Taille schmiegte, obwohl der Rücken unbedeckt war. Es war eine ebenso bemerkenswerte technische Glanzleistung wie die große Brücke von Golgata – vielleicht sogar eine noch bemerkenswertere. Unwillkürlich fragte ich mich, ob die Näherinnen mit ein wenig Magie in Stoff und Garn nachgeholfen hatten. Es war besser, über Nebensächlichkeiten wie diese nachzudenken als darüber, was die nächsten Stunden bringen würden. Meine Mutter drehte mich feierlich zum Spiegel um.
Trotz meines Grolls war ich wie hypnotisiert. Es war zweifellos das schönste Kleid, das ich jemals gesehen hatte. Die atemberaubende blickdichte Quiassé-Spitze, handgefertigt von einheimischen Klöpplerinnen, war die einzige Verzierung. Sie floss den Ausschnitt und das Mieder hinab. Schlichtheit. Die Spitze fiel in einem V, um den Schnitt des Kleides am Rücken widerzuspiegeln. Ich sah darin wie jemand anders aus, wie jemand, der älter und klüger war. Wie jemand mit einem reinen Herzen, dem Geheimnisse fremd waren. Wie jemand … der nicht ich war.
Ich wandte mich wortlos ab und blickte aus dem Fenster, verfolgt vom leisen Seufzen meiner Mutter. In weiter Ferne sah ich die einsame rote Turmspitze von Golgata; die bröckelnden Ruinen waren alles, was von der einstmals mächtigen Brücke über den breiten Meeresarm übrig geblieben war. Bald würden auch sie verschwunden sein, verschluckt wie der Rest der großen Brücke. Selbst die geheimnisvolle Ingenieurskunst der Altvorderen konnte dem Unausweichlichen nicht die Stirn bieten. Warum sollte ausgerechnet ich es versuchen?
Mein Magen schlug einen Purzelbaum, und ich ließ den Blick zum Fuße des Hügels schweifen, wo Fuhrwerke weit unterhalb der Festung auf der Straße zum Marktplatz dahinrumpelten. Vielleicht waren sie mit Obst oder Blumen beladen oder mit Fässern voll Rebensaft aus den Weinbergen Morrighans. Aber auch prächtige Kutschen, die von bändergeschmückten Rössern gezogen wurden, sprenkelten die Fahrspur.
Vielleicht fuhren mein ältester Bruder Walther und seine frisch angetraute Frau Greta in einer dieser Kutschen meiner Hochzeit entgegen, Händchen haltend und nur selten fähig, den Blick voneinander abzuwenden. Und vielleicht waren meine übrigen Brüder bereits auf dem Platz und warfen jungen Mädchen, die ihre Fantasie beflügelten, ihr strahlendstes Lächeln zu. Mir fiel Regan ein, der vor einigen Tagen mit verträumten Augen in einem dunklen Korridor mit der Kutscherstochter geflüstert hatte, und Bryn, der jede Woche mit einem neuen Mädchen schäkerte und nicht in der Lage war, sich für ein einziges zu entscheiden. Drei ältere Brüder, die ich vergötterte, und sie alle durften sich in eine Person ihrer Wahl verlieben und sie heiraten. Die Mädchen waren ebenso frei. Alle waren frei, auch Pauline, deren Liebhaber am Ende des Monats zu ihr zurückkehren würde.
»Wie hast du das geschafft, Mutter?«, fragte ich, während ich weiter auf die vorüberfahrenden Kutschen unter mir starrte. »Wie konntest du den weiten Weg von Gastineux hierherreisen, um eine Kröte zu heiraten, die du nicht geliebt hast?«
»Dein Vater ist keine Kröte«, sagte meine Mutter streng.
Ich fuhr zu ihr herum. »Er mag ein König sein, aber das ändert nichts an der Kröte. Willst du mir etwa weismachen, du hättest den Fremden, der doppelt so alt war wie du, nicht für eine Kröte gehalten, als du ihn geheiratet hast?«
Die grauen Augen meiner Mutter ruhten gefasst auf mir. »Nein, das habe ich nicht. Es war mein Schicksal und meine Pflicht.«
Ein mattes Seufzen entrang sich meiner Brust. »Weil du eine Erste Tochter warst.«
Das Thema Erste Tochter war eines, das meine Mutter stets klug umschiffte. Aber heute waren da nur wir beide und nichts, was uns hätte ablenken können – heute entkam sie ihm nicht. Ich sah, wie sie erstarrte und das Kinn in königlicher Manier hob. »Es ist eine Ehre, Arabella.«
»Aber mir wurde die Gabe der Ersten Tochter nicht zuteil. Ich bin keine Siarrah. Dalbreck wird bald herausfinden, dass ich nicht der Hauptgewinn bin, für den sie mich halten. Diese Hochzeit ist ein Schwindel.«
»Die Gabe zeigt sich vielleicht noch rechtzeitig«, antwortete sie lahm.
Ich wollte nicht dagegenhalten. Es war bekannt, dass die Gabe zu den meisten Ersten Töchtern kam, wenn sie zur Frau wurden, und bei mir war es nun schon seit vier Jahren so weit. Anzeichen für eine wie auch immer geartete Gabe hatte ich jedoch nie offenbart. Meine Mutter klammerte sich an falsche Hoffnungen. Ich wandte mich um und sah wieder aus dem Fenster.
»Und selbst wenn sie sich nicht zeigt«, fuhr meine Mutter fort, »ist die Hochzeit kein Schwindel. Bei dieser Verbindung geht es um viel mehr als nur das. Schon allein die Ehre und das Privileg einer Ersten Tochter in einer königlichen Blutlinie ist eine Gabe. Sie bringt Geschichte und Tradition mit sich. Das ist alles, was zählt.«
»Warum die Erste Tochter? Ist es nie ein Sohn, dem die Gabe geschenkt wird? Oder eine zweite Tochter?«
»Das ist schon vorgekommen, aber … man sollte nicht damit rechnen. Und es hat keine Tradition.«
Hat es denn auch Tradition, die Gabe wieder zu verlieren? Diese unausgesprochenen Worte hingen rasiermesserscharf zwischen uns, aber selbst ich konnte meine Mutter nicht so tief verletzen. Mein Vater hatte sich schon früh in ihrer Ehe nicht mehr mit ihr über Staatsangelegenheiten beraten, aber ich hatte Geschichten gehört, wie es davor gewesen war, als ihre Gabe noch stark war und ihr Wort Gewicht hatte; zumindest falls irgendetwas davon der Wahrheit entsprach. Ich war mir da nicht mehr so sicher.
Mir fehlte die Geduld für solches Geschwätz. Ich hielt meine Worte und mein Denken lieber geradlinig. Und ich war es so müde, wieder und wieder von Traditionen zu hören, dass ich meinte, mein Kopf müsse platzen, wenn dieses Wort noch ein einziges Mal laut ausgesprochen würde. Meine Mutter entstammte einer anderen Zeit.
Ich hörte, dass sie sich mir näherte, und spürte ihre warmen Arme, die sich um mich schlossen. Der Hals schwoll mir zu. »Meine geliebte Tochter«, flüsterte sie in mein Ohr, »ob die Gabe kommt oder nicht, ist nicht von Bedeutung. Mach dir keine Gedanken darüber. Heute ist der Tag deiner Hochzeit.«
Mit einer Kröte. Ich hatte einen Blick auf den König von Dalbreck erhascht, als er gekommen war, um die Vereinbarung aufzusetzen – als wäre ich ein Pferd, das er für seinen Sohn erstand. Der König war so altersschwach und krumm wie die gichtigen Zehen eines alten Weibs und alt genug, um der Vater meines eigenen Vaters zu sein. Gebückt und langsam, wie er ging, brauchte er Hilfe, um die Stufen zum Großen Saal hinauf zu erklimmen. Selbst wenn der Prinz auch nur einen Bruchteil seiner Jahre auf dem Buckel hatte, musste er immer noch ein vertrockneter, zahnloser Geck sein. Der Gedanke daran, dass er mich anfassen würde, ganz zu schweigen von …
Mich schauderte bei der Vorstellung von knochigen alten Händen, die meine Wange liebkosten, oder von schrumpeligen Lippen, die die meinen berührten. Ich hielt den Blick starr aus dem Fenster gerichtet, aber ich nahm nichts jenseits der Scheibe wahr. »Warum habe ich ihn mir vorher nicht einmal anschauen dürfen?«
Meine Mutter ließ die Arme sinken. »Einen Prinzen anschauen? Unsere Beziehung zu Dalbreck kann man bestenfalls ein zartes Pflänzchen nennen. Hättest du wirklich gewollt, dass wir ihr Königreich mit einer solchen Bitte beleidigen, während Morrighan hofft, eine bedeutende Allianz zu schmieden?«
»Ich bin kein Soldat in der Armee meines Vaters.«
Meine Mutter kam näher, strich mir über die Wange und flüsterte: »Doch, mein Liebling. Das bist du.«
Ein Schauer huschte über meinen Rücken.
Sie umarmte mich ein letztes Mal und trat zurück. »Es ist Zeit. Ich gehe den Hochzeitsumhang aus dem Gewölbe holen«, sagte sie und verließ den Raum.
Ich ging zum Schrank hinüber und riss die Türen auf; dann zog ich die unterste Schublade heraus und entnahm ihr ein grünes Samtsäckchen, in dem sich ein schmaler juwelenbesetzter Dolch befand. Er war ein Geschenk von meinen Brüdern zu meinem sechzehnten Geburtstag gewesen. Ein Geschenk, das ich nie hatte benutzen dürfen – jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit –, doch die Rückseite der Tür zu meinem Ankleidezimmer trug die Narben meiner heimlichen Übungen. Ich packte noch ein paar andere Habseligkeiten, wickelte sie in ein Hemd und verschnürte alles mit einem Band, damit nichts herausfallen konnte.
Pauline kehrte umgezogen zurück, und ich händigte ihr das kleine Paket aus.
»Ich kümmere mich darum«, sagte sie; diese Vorbereitungen in letzter Minute setzten ihr sichtlich zu und machten sie nervös. Sie verließ mein Gemach gerade, als meine Mutter mit dem Umhang kam.
»Worum kümmern?«, fragte meine Mutter.
»Ich habe ihr noch ein paar Dinge gegeben, die ich mitnehmen will.«
»Alles, was du brauchst, wurde gestern in Truhen fortgeschickt«, sagte sie, während sie quer durchs Zimmer auf mein Bett zuging.
»Ich hatte ein paar Sachen vergessen.«
Sie schüttelte den Kopf und erinnerte mich daran, dass der begrenzte Platz in der Kutsche kostbar war und dass die Reise nach Dalbreck lange dauern würde.
»Ich schaffe das schon«, entgegnete ich.
Sie breitete den Umhang sorgfältig auf meinem Bett aus. Er war im Gewölbe geplättet und aufgehängt worden, damit kein Fältchen seine Schönheit mindern konnte. Ich ließ meine Hand über den weichen Samt gleiten. Das Blau war so dunkel wie der Mitternachtshimmel, und die Rubine, Turmaline und Saphire entlang des Saums waren seine Sterne. Die Juwelen würden sich noch als nützlich erweisen. Es war Tradition, dass beide Elternteile gemeinsam der Braut den Umhang umlegten, doch meine Mutter war allein zurückgekehrt.
»Wo ist …«, begann ich, doch dann hörte ich eine Armee von Stiefeltritten durch den Korridor hallen. Mein Herz wurde noch schwerer, als es ohnehin schon war. Er kam nicht allein, nicht einmal heute. Mein Vater betrat das Gemach flankiert vom Lord Vizeregent auf der einen und dem Kanzler sowie dem Königlichen Gelehrten auf der anderen Seite; diverse Speichellecker aus seinem Ministerrat folgten ihnen auf dem Fuß. Ich wusste, dass der Vizeregent nur seines Amtes waltete. Kurz nach der Unterzeichnung der Dokumente hatte er mich beiseitegenommen und gesagt, dass er sich als Einziger gegen diese Ehe ausgesprochen hatte; aber letztendlich war er ein strenger Pflichtmensch wie alle anderen auch. Ich konnte vor allem den Gelehrten und den Kanzler nicht leiden, und das wussten sie ganz genau, aber ich fühlte mich deshalb nicht besonders schuldig, denn diese Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Immer wenn ich in ihrer Nähe war, bekam ich Gänsehaut. Gerade so, als wäre ich soeben über eine Wiese voller blutsaugender Zecken gelaufen. Sie freuten sich wahrscheinlich mehr als jeder andere, mich loszuwerden.
Mein Vater kam auf mich zu, küsste mich auf beide Wangen und trat wieder zurück, um mich zu betrachten und schließlich tief zu seufzen: »Genauso schön wie deine Mutter am Tag unserer Hochzeit.«
Ich fragte mich, ob diese ungewohnte Zurschaustellung von Gefühlen für unser Publikum bestimmt war. Augenblicke der Zuneigung zwischen meiner Mutter und meinem Vater erlebte ich nur äußerst selten, aber jetzt bemerkte ich, dass sein Blick von mir zu ihr schweifte und dort verharrte. Meine Mutter erwiderte ihn, und ich versuchte zu verstehen, was da zwischen ihnen in der Luft hing. Liebe? Oder Bedauern über die verlorene Liebe und darüber, was hätte sein können? Diese Ungewissheit füllte eine seltsame Lücke in mir, und hundert Fragen brannten mir auf den Lippen; doch unter den Augen des Kanzlers und des Gelehrten und der ungeduldigen Entourage widerstrebte es mir, auch nur eine einzige davon zu stellen. Vielleicht war dies die Absicht meines Vaters.
Der Zeitwächter, ein rundlicher Mann mit Froschaugen, zog seine ständig präsente Taschenuhr hervor. Er und die anderen scheuchten meinen Vater herum, als wären sie es, die das Reich regierten, und nicht er. »Die Zeit drängt, Eure Majestät«, mahnte er.
Der Vizeregent sandte mir einen teilnahmsvollen Blick, nickte aber zustimmend. »Wir wollen die königliche Familie von Dalbreck bei diesem bedeutsamen Anlass nicht warten lassen. Wie Ihr sehr wohl wisst, Eure Majestät, würde das nicht gut aufgenommen werden.«
Der Bann war gebrochen genau wie der Blick. Meine Mutter und mein Vater nahmen den Umhang auf, legten ihn mir um die Schultern und schlossen die Spange an meinem Hals. Dann schob mein Vater die Kapuze über meinen Kopf und küsste mich abermals auf jede Wange, diesmal allerdings viel zurückhaltender und auch nur, um dem Protokoll Genüge zu tun. »Du erweist heute dem Königreich Morrighan einen großen Dienst, Arabella.«
Lia.
Er hasste den Namen Jezelia, weil ihn vor mir noch niemand in der königlichen Linie getragen hatte – und auch niemand sonst, wie er ins Feld führte, doch meine Mutter hatte ohne jede Erklärung darauf bestanden. In diesem Punkt war sie unnachgiebig geblieben. Es war wahrscheinlich das letzte Mal gewesen, dass mein Vater einem Wunsch von ihr entsprochen hatte. Ich hätte nie davon erfahren, wenn Tante Bernette nicht gewesen wäre, und sogar sie behandelte das Thema, das noch immer ein wunder Punkt zwischen meinen Eltern war, mit größter Vorsicht.
Ich forschte in Vaters Gesicht. Die flüchtige Zärtlichkeit von eben war verschwunden, seine Gedanken wandten sich wieder Staatsangelegenheiten zu; doch in der Hoffnung auf mehr hielt ich seinem Blick stand. Es kam nichts. Ich hob das Kinn, um mich größer zu machen. »Ja, ich erweise dem Königreich einen großen Dienst, wie es meine Pflicht ist, Eure Majestät. Schließlich bin ich ein Soldat in Eurer Armee.«
Er runzelte die Stirn und sah fragend zu meiner Mutter. Sie schüttelte den Kopf, stumm darum bittend, meinen Worten keine Beachtung zu schenken. Mein Vater, der immer zuerst König und dann Vater war, ließ meine Bemerkung auf sich beruhen, denn wie immer waren andere Angelegenheiten wichtiger. Er drehte sich um, sagte, dass wir uns in der Abtei sehen würden, und verließ mit seiner Entourage den Raum, da er seine Pflichten für den Moment erfüllt hatte. Pflichten. Dieses Wort hasste ich genauso wie Tradition.
»Bist du bereit?«, fragte meine Mutter, als auch die anderen den Raum verlassen hatten.
Ich nickte. »Aber ich muss noch etwas Persönliches erledigen, bevor wir gehen. Wir treffen uns im unteren Saal.«
»Ich kann doch …«
»Bitte, Mutter …« Zum ersten Mal brach mir die Stimme. »Ich brauche nur ein paar Minuten.«
Sie gab nach, und ich lauschte dem Hall ihrer einsamen Schritte, während sie sich auf dem Gang entfernte.
»Pauline?«, flüsterte ich.
Pauline schlüpfte durch das Ankleidezimmer in meine Kammer. Wir blickten uns an; Worte waren nicht notwendig, da wir genau wussten, was vor uns lag – jede Einzelheit dieses Tages hatten wir bereits in einer langen, schlaflosen Nacht durchgespielt.
»Es ist noch nicht zu spät, deine Meinung zu ändern. Bist du dir sicher?«, fragte Pauline, um mir eine letzte Gelegenheit für einen Rückzieher zu geben.
Sicher? Meine Brust schnürte sich unter Schmerzen zusammen, Schmerzen, die so stark und echt waren, dass ich mich fragte, ob Herzen tatsächlich brechen können. Oder war es Angst, die mich quälte? Ich presste mir die Hand fest auf die Brust und versuchte, das Stechen zu lindern. Vielleicht war dies der Augenblick der Entscheidung. »Es gibt kein Zurück. Die Wahl wurde mir abgenommen«, antwortete ich. »Von diesem Moment an ist dies das Schicksal, mit dem ich leben muss, im Guten wie im Schlechten.«
»Ich bete, dass es im Guten sein möge.« Pauline nickte verständnisvoll.
Damit eilten wir den Gewölbegang entlang zum rückwärtigen Teil der Festung und dann die dunkle Dienstbotentreppe hinab. Wir begegneten niemandem – alle waren entweder unten in der Abtei mit Vorbereitungen beschäftigt oder warteten vor der Festung auf den königlichen Festzug zum großen Platz.
Wir traten durch eine kleine Holztür mit dicken schwarzen Scharnieren ins blendende Sonnenlicht; der Wind fuhr in unsere Kleider und riss mir die Kapuze vom Kopf. Mein Blick fiel auf das rückwärtige Festungstor, das nur für Jagden und heimliche Ausflüge benutzt wurde. Nun stand es wie befohlen offen. Pauline führte mich über einen schlammigen Sattelplatz zu der im Schatten liegenden Mauer des Kutschenhauses, wo ein Stallbursche mit weit aufgerissenen Augen und zwei gesattelten Pferden auf uns wartete. Seine Augen wurden noch größer, als ich näher kam. »Eure Hoheit, Ihr sollt die Kutsche nehmen, die schon bereitsteht.« Er verschluckte sich fast an den Worten, die nur so aus ihm heraussprudelten. »Sie wartet an der Treppe vor der Festung. Wenn Ihr …«
»Die Pläne haben sich geändert«, sagte ich fest. Ich raffte mein Brautkleid zusammen, damit ich den Fuß in den Steigbügel schieben konnte. Dem strohblonden Burschen fiel die Kinnlade herunter, als er mein einst so makelloses Kleid betrachtete. Der schlammbespritzte Saum beschmutzte jetzt auch meine Ärmel und das Spitzenmieder und – was wohl am schlimmsten war – den juwelenbesetzten Hochzeitsumhang.
»Aber …«
»Beeil dich! Deine Hand!«, herrschte ich ihn an und entriss ihm die Zügel. Er gehorchte und half Pauline aufs Pferd.
»Was soll ich ausrichten …«
Ich hörte nicht mehr, was er danach noch sagte, denn die trappelnden Pferdehufe stampften alle ausgesprochenen und unausgesprochenen Argumente in Grund und Boden. Einer Entscheidung folgend, die nie mehr ungeschehen zu machen war, die tausend Träume beendete und einen einzigen gebar, galoppierte ich mit Pauline an meiner Seite auf die Deckung des Waldes zu. Ich sah nicht ein einziges Mal zurück.
Damit wir die Geschichte nicht wiederholen,
sollen die Geschichten weitererzählt werden,
vom Vater auf den Sohn, von der Mutter auf die Tochter,
denn innerhalb einer einzigen Generation
gehen Geschichte und Wahrheit für immer verloren.
Buch des Heiligen Textes von Morrighan, Bd. III