Die Kernzelle von Andorra findet sich in Max Frischs Tagebuch als Eintragung des Jahres 1946. Andorra ist der Name für ein Modell: Es zeigt den Prozeß einer Bewußtseinsveränderung, abgehandelt an der Figur des jungen Andri, den die Umwelt so lange zum Anderssein zwingt, bis er es als sein Schicksal annimmt. Dieses Schicksal heißt in Max Frischs Stück »Judsein«. Das Schauspiel erschien als Buchausgabe zuerst 1961.
»Frisch hat das Drama eines unheilbaren Vorurteils geschrieben. Er hat sich ... dabei auf die Frage nach dem Wie beschränkt. Nicht warum die Andorraner antisemitisch reagieren, wird erörtert, sondern auf welche Weise sie es tun. Das Drama fragt sich nicht in Menschen hinein, sondern es stellt fest. Am Anfang gleicht es beinahe einer dramatisierten Soziologie gesellschaftlich vermittelter antisemitischer Verhaltensweisen.«
Joachim Kaiser, Süddeutsche Zeitung
Max Frisch, am 15. Mai 1911 in Zürich geboren, starb dort am 4. April 1991. Sein Werk erscheint im Suhrkamp Verlag.
Andorra
Stück in zwölf
Bildern
Suhrkamp
Das Andorra dieses Stückes hat nichts zu tun mit dem wirklichen Kleinstaat dieses Namens, gemeint ist auch nicht ein andrer wirklicher Kleinstaat; Andorra ist der Name für ein Modell. M.F.
Die Fabel des Stückes ist als Prosaskizze im »Tagebuch 1946-1949« veröffentlicht. Die Arbeit am Stück wurde 1958 begonnen, im Herbst 1960 wiederaufgenommen und im Herbst 1961 abgeschlossen. Die Uraufführung fand am 2. November 1961 im Schauspielhaus Zürich statt.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
Hinweise zur Textgrundlage:
Der vorliegende Text folgt der 66. Auflage 2008 der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 277.
© 1961 Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
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Umschlagfoto: André Ficus, Max Frisch, 1964
Umschlaggestaltung: Göllner, Michels, Zegarzewski
eISBN 978-3-518-73480-3
www.suhrkamp.de
Andorra
Dem Zürcher Schauspielhaus
gewidmet in alter Freundschaft und Dankbarkeit
ANDRI | DER SOLDAT |
BARBLIN | DER WIRT |
DER LEHRER | DER TISCHLER |
DIE MUTTER | DER DOKTOR |
DIE SENORA | DER GESELLE |
DER PATER | DER JEMAND |
Stumm | |
EIN IDIOT | |
DIE SOLDATEN IN SCHWARZER UNIFORM | |
DER JUDENSCHAUER | |
DAS ANDORRANISCHE VOLK |
Vor einem andorranischen Haus. Barblin weißelt die schmale und hohe Mauer mit einem Pinsel an langem Stecken. Ein andorranischer Soldat, olivgrau, lehnt an der Mauer.
BARBLIN Wenn du nicht die ganze Zeit auf meine Waden gaffst, dann kannst du ja sehn, was ich mache. Ich weißle. Weil morgen Sanktgeorgstag ist, falls du das vergessen hast. Ich weißle das Haus meines Vaters. Und was macht ihr Soldaten? Ihr lungert in allen Gassen herum, eure Daumen im Gurt, und schielt uns in die Bluse, wenn eine sich bückt.
Der Soldat lacht.
Ich bin verlobt.
SOLDAT Verlobt!
BARBLIN Lach nicht immer wie ein Michelin-Männchen.
SOLDAT Hat er eine Hühnerbrust?
BARBLIN Wieso?
SOLDAT Daß du ihn nicht zeigen kannst.
BARBLIN Laß mich in Ruh!
SOLDAT Oder Plattfüße?
BARBLIN Wieso soll er Plattfüße haben?
SOLDAT Jedenfalls tanzt er nicht mit dir.
Barblin weißelt.
Vielleicht ein Engel!
Der Soldat lacht.
Daß ich ihn noch nie gesehen hab.
BARBLIN Ich bin verlobt!
SOLDAT Von Ringlein seh ich aber nichts.
BARBLIN Ich bin verlobt,
Barblin taucht den Pinsel in den Eimer.
und überhaupt – dich mag ich nicht.
Im Vordergrund, rechts, steht ein Orchestrion. Hier erscheinen – während Barblin weißelt – der Tischler, ein behäbiger Mann, und hinter ihm Andri als Küchenjunge.
TISCHLER Wo ist mein Stock?
ANDRI Hier, Herr Tischlermeister.
TISCHLER Eine Plage, immer diese Trinkgelder, kaum hat man den Beutel eingesteckt –
Andri gibt den Stock und bekommt ein Trinkgeld, das er ins Orchestrion wirft, so daß Musik ertönt, während der Tischler vorn über die Szene spaziert, wo Barblin, da der Tischler nicht auszuweichen gedenkt, ihren Eimer wegnehmen muß. Andri trocknet einen Teller, indem er sich zur Musik bewegt, und verschwindet dann, die Musik mit ihm.
BARBLIN Jetzt stehst du noch immer da?
SOLDAT Ich hab Urlaub.
BARBLIN Was willst du noch wissen?
SOLDAT Wer dein Bräutigam sein soll.
Barblin weißelt.
Alle weißeln das Haus ihrer Väter, weil morgen Sanktgeorgstag ist, und der Kohlensack rennt in allen Gassen herum, weil morgen Sanktgeorgstag ist:
Weißelt, ihr Jungfraun, weißelt das Haus eurer Väter, auf daß wir ein weißes Andorra haben, ihr Jungfraun, ein schneeweißes Andorra!
BARBLIN Der Kohlensack – wer ist denn das wieder?
SOLDAT Bist du eine Jungfrau?
Der Soldat lacht.
Also du magst mich nicht.
BARBLIN Nein.
SOLDAT Das hat schon manch eine gesagt, aber bekommen hab ich sie doch, wenn mir ihre Waden gefallen und ihr Haar.
Barblin streckt ihm die Zunge heraus.
Und ihre rote Zunge dazu!
Der Soldat nimmt sich eine Zigarette und blickt am Haus hinauf.
Wo hast du deine Kammer?
Auftritt ein Pater, der ein Fahrrad schiebt.
PATER So gefällt es mir, Barblin, so gefällt es mir aber. Wir werden ein weißes Andorra haben, ihr Jungfraun, ein schneeweißes Andorra, wenn bloß kein Platzregen kommt über Nacht.
Der Soldat lacht.
Ist Vater nicht zu Hause?
SOLDAT Wenn bloß kein Platzregen kommt über Nacht! Nämlich seine Kirche ist nicht so weiß, wie sie tut, das hat sich herausgestellt, nämlich seine Kirche ist auch nur aus Erde gemacht, und die Erde ist rot, und wenn ein Platzregen kommt, das saut euch jedesmal die Tünche herab, als hätte man eine Sau drauf geschlachtet, eure schneeweiße Tünche von eurer schneeweißen Kirche.
Der Soldat streckt die Hand nach Regen aus.
Wenn bloß kein Platzregen kommt über Nacht!
Der Soldat lacht und verzieht sich.
PATER Was hat der hier zu suchen?
BARBLIN Ist’s wahr, Hochwürden, was die Leut sagen? Sie werden uns überfallen, die Schwarzen da drüben, weil sie neidisch sind auf unsre weißen Häuser. Eines Morgens, früh um vier, werden sie kommen mit tausend schwarzen Panzern, die kreuz und quer durch unsre Äcker rollen, und mit Fallschirmen wie graue Heuschrecken vom Himmel herab.
PATER Wer sagt das?
BARBLIN Peider, der Soldat.
Barblin taucht den Pinsel in den Eimer.
Vater ist nicht zu Haus.
PATER Ich hätt es mir denken können.
Pause
Warum trinkt er soviel in letzter Zeit? Und dann beschimpft er alle Welt. Er vergißt, wer er ist. Warum redet er immer solches Zeug?
BARBLIN Ich weiß nicht, was Vater in der Pinte redet.
PATER Er sieht Gespenster. Haben sich hierzuland nicht alle entrüstet über die Schwarzen da drüben, als sie es trieben wie beim Kindermord zu Bethlehem, und Kleider gesammelt für die Flüchtlinge damals? Er sagt, wir sind nicht besser als die Schwarzen da drüben. Warum sagt er das die ganze Zeit? Die Leute nehmen es ihm übel, das wundert mich nicht. Ein Lehrer sollte nicht so reden. Und warum glaubt er jedes Gerücht, das in die Pinte kommt?
Pause
Kein Mensch verfolgt euren Andri –
Barblin hält inne und horcht
– noch hat man eurem Andri kein Haar gekrümmt.
Barblin weißelt weiter.
Ich sehe, du nimmst es genau, du bist kein Kind mehr, du arbeitest wie ein erwachsenes Mädchen.
BARBLIN Ich bin ja neunzehn.
PATER Und noch nicht verlobt?
Barblin schweigt.
Ich hoffe, dieser Peider hat kein Glück bei dir.
BARBLIN Nein.
PATER Der hat schmutzige Augen.
Pause
Hat er dir Angst gemacht? Um wichtig zu tun. Warum sollen sie uns überfallen? Unsre Täler sind eng, unsre Äcker sind steinig und steil, unsere Oliven werden auch nicht saftiger als anderswo. Was sollen die wollen von uns? Wer unsern Roggen will, der muß ihn mit der Sichel holen und muß sich bücken Schritt vor Schritt. Andorra ist ein schönes Land, aber ein armes Land. Ein friedliches Land, ein schwaches Land – ein frommes Land, so wir Gott fürchten, und das tun wir, mein Kind, nicht wahr?
Barblin weißelt.
Nicht wahr?
BARBLIN Und wenn sie trotzdem kommen?
Eine Vesperglocke, kurz und monoton.
PATER Wir sehn uns morgen, Barblin, sag deinem Vater, Sankt Georg möchte ihn nicht betrunken sehn.
Der Pater steigt auf sein Rad.
Oder sag lieber nichts, sonst tobt er nur, aber hab acht auf ihn.
Der Pater fährt lautlos davon.
BARBLIN Und wenn sie trotzdem kommen, Hochwürden?
Im Vordergrund rechts, beim Orchestrion, erscheint der Jemand, hinter ihm Andri als Küchenjunge.
JEMAND Wo ist mein Hut?
ANDRI Hier, mein Herr.
JEMAND Ein schwüler Abend, ich glaub, es hängt ein Gewitter in der Luft ...
Andri gibt den Hut und bekommt ein Trinkgeld, das er ins Orchestrion wirft, aber er drückt noch nicht auf den Knopf, sondern pfeift nur und sucht auf dem Plattenwähler, während der Jemand vorn über die Szene geht, wo er stehenbleibt vor Barblin, die weißelt und nicht bemerkt hat, daß der Pater weggefahren ist.
BARBLIN Ist’s wahr, Hochwürden, was die Leut sagen? Sie sagen: Wenn einmal die Schwarzen kommen, dann wird jeder, der Jud ist, auf der Stelle geholt. Man bindet ihn an einen Pfahl, sagen sie, man schießt ihn ins Genick. Ist das wahr oder ist das ein Gerücht? Und wenn er eine Braut hat, die wird geschoren, sagen sie, wie ein räudiger Hund.
JEMAND Was hältst denn du für Reden?
Barblin wendet sich und erschrickt.
JEMAND Guten Abend.
BARBLIN Guten Abend.
JEMAND Ein schöner Abend heut.
Barblin nimmt den Eimer.
Aber schwül.
BARBLIN Ja.
JEMAND Es hängt etwas in der Luft.
BARBLIN Was meinen Sie damit?
JEMAND Ein Gewitter. Wie alles wartet auf Wind, das Laub und die Stores und der Staub. Dabei seh ich keine Wolke am Himmel, aber man spürt’s. So eine heiße Stille. Die Mücken spüren’s auch. So eine trockene und faule Stille. Ich glaub, es hängt ein Gewitter in der Luft, ein schweres Gewitter, dem Land tät’s gut ...
Barblin geht ins Haus, der Jemand spaziert weiter, Andri läßt das Orchestrion tönen, die gleiche Platte wie zuvor, und verschwindet, einen Teller trocknend.
Man sieht den Platz von Andorra. Der Tischler und der Lehrer sitzen vor der Pinte. Die Musik ist aus.
LEHRER Nämlich es handelt sich um meinen Sohn.
TISCHLER Ich sagte: 50 Pfund.
LEHRER – um meinen Pflegesohn, meine ich.
TISCHLER Ich sagte: 50 Pfund.
Der Tischler klopft mit einer Münze auf den Tisch.
Ich muß gehn.
Der Tischler klopft nochmals.
Wieso will er grad Tischler werden? Tischler werden, das ist nicht einfach, wenn’s einer nicht im Blut hat. Und woher soll er’s im Blut haben? Ich meine ja bloß. Warum nicht Makler? Zum Beispiel. Warum nicht geht er zur Börse? Ich meine ja bloß...
LEHRER Woher kommt dieser Pfahl?
TISCHLER Ich weiß nicht, was Sie meinen.
LEHRER Dort!
TISCHLER Sie sind ja bleich.
LEHRER Ich spreche von einem Pfahl!
TISCHLER Ich seh keinen Pfahl.
LEHRER Hier!
Der Tischler muß sich umdrehen.
Ist das ein Pfahl oder ist das kein Pfahl?
TISCHLER Warum soll das kein Pfahl sein?
LEHRER Der war gestern noch nicht.
Der Tischler lacht.
’s ist nicht zum Lachen, Prader, Sie wissen genau, was ich meine.
TISCHLER Sie sehen Gespenster.
LEHRER Wozu ist dieser Pfahl?
Tischler klopft mit der Münze auf den Tisch.
Ich bin nicht betrunken. Ich sehe, was da ist, und ich sage, was ich sehe, und ihr alle seht es auch –
TISCHLER Ich muß gehn.
Der Tischler wirft eine Münze auf den Tisch und erhebt sich.
Ich habe gesagt: 50 Pfund.
LEHRER Das bleibt Ihr letztes Wort?
TISCHLER Ich heiße Prader.
LEHRER 50 Pfund?
TISCHLER Ich feilsche nicht.
LEHRER Sie sind ein feiner Mann, ich weiß ... Prader, das ist Wucher, 50 Pfund für eine Tischlerlehre, das ist Wucher. Das ist ein Witz, Prader, das wissen Sie ganz genau. Ich bin Lehrer, ich habe mein schlichtes Gehalt, ich habe kein Vermögen wie ein Tischlermeister – ich habe keine 50 Pfund, ganz rundheraus, ich hab sie nicht!
TISCHLER Dann eben nicht.
LEHRER Prader –
TISCHLER Ich sagte: 50 Pfund.
Der Tischler geht.
LEHRER Sie werden sich wundern, wenn ich die Wahrheit sage. Ich werde dieses Volk vor seinen Spiegel zwingen, sein Lachen wird ihm gefrieren.
Auftritt der Wirt.
WIRT Was habt Ihr gehabt?
LEHRER Ich brauch einen Korn.
WIRT Ärger?
LEHRER 50 Pfund für eine Lehre!
WIRT Ich hab’s gehört.
LEHRER – ich werde sie beschaffen.
Der Lehrer lacht.
Wenn’s einer nicht im Blut hat!
Der Wirt wischt mit einem Lappen über die Tischlein.
Sie werden ihr eigenes Blut noch kennenlernen.
WIRT