Inhaltsverzeichnis
DER AUTOR
Widmung
DER VERLIEBTE NAZI
IN DER MITTE DER STRASSE
DIE NACHT DER FLAMMEN
ABSCHIED
HEIMWEH
ERWACHSEN SEIN
ABGEHOLT
JAKOV
IN DER HÖHLE DES LÖWEN
UNTERGETAUCHT
WIE LANGE NOCH?
BLINDER PASSAGIER
»ICH BIN CILLY«
ANHANG
ANMERKUNGEN
LITERATUR
Danksagung
Copyright
DER AUTOR
Lutz van Dijk wurde 1955 in Berlin geboren. Er war mehrere Jahre Lehrer an einer Sonderschule in Hamburg. Nach einem Zweitstudium (u. a. in Israel) und der Promotion zum Dr. phil. war er in der Lehrerausbildung und im Anne-Frank-Haus in Amsterdam tätig. Seine Jugend- und Sachbücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und erhielten verschiedene Preise. Seit 2001 arbeitet Lutz van Dijk für die Stiftung HOKISA (Homes for Kids in South Africa), die sich für AIDS-Waisenkinder in Südafrika einsetzt. Er lebt in Amsterdam und Kapstadt.
Lutz van Dijk im Urteil der Presse:
»Reale Menschenschicksale und Geschehnisse, historische wie heutige, nutzt [...] Lutz van Dijk als Ausgangssituationen seiner schriftstellerischen Arbeit. Mit dokumentarischer Literatur schreibt er gegen das Vergessen an. Sein Credo: Wahrhaftigkeit; seine Zielgruppe: Jugendliche.«
Börsenblatt
In der Pressemitteilung zum Hans-im-Glück-Preis, den die Stadt Limburg 1992 an den Autor für »Der Partisan« und »Verdammt starke Liebe« vergab, heißt es: »Lutz van Dijk hat die Jury durch seine bisherigen Bücher überzeugt. Immer ergreift er entschieden Partei für Verfolgte, Verachtete und Ausgestoßene. Er vertritt beharrlich die radikale Idee der Humanität. Er hat für seine aufrüttelnden Geschichten eine eigenständige Fiktion und Dokumentation verbindende Form der Darstellung gefunden.«
Von Lutz van Dijk ist bei cbt erschienen:
Anders als du denkst. Geschichten über das erste Mal (30074)
Der Attentäter (30108)
Der Partisan (30049)
Township Blues (30109)
Verdammt starke Liebe (30213)
Von Skinheads keine Spur (30013)
Weitere Titel von Lutz van Dijk sind geplant.
Dieses Buch ist den Kindern
von Cilly Levitus-Peiser gewidmet:
Rina und Benny
DER VERLIEBTE NAZI
Musik, tanzende Menschen, irgendwo in einer kleinen Stadt in Osteuropa. Es ist ein besonderes Fest: eine Hochzeit. Eine jüdische Hochzeit mit Rabbi und verschleierter Braut und zertretenem Glas unter einem Tuch. Alle Blicke sind auf das junge Brautpaar gerichtet. Wie sehen sie aus? Ob sie glücklich sind? Oder ist es wieder nur eine Ehe, die die Eltern wollten, eine lang verabredete Sache aus praktischen Beweggründen, bei der das Mädchen und der Junge kaum nach ihrer Meinung, geschweige denn Liebe, gefragt worden sind?
Es ist so lange her, dieses Fest. Von denen, die da tanzten und lachten und durcheinander redeten, lebt kein Einziger mehr. Aber ohne diesen Tag hätte es mich nicht gegeben. Ohne diesen Tag wäre die Geschichte, die ich erzählen möchte, nicht geschehen. Und obwohl es auch eine dramatische und gefährliche und ernste und traurige Geschichte ist, beginnt sie doch mit etwas ganz Sanftem und Zärtlichem: mit Liebe. Oder besser gesagt, mit dem Anfang einer Liebe. Der ersten Verliebtheit.
Ob das Brautpaar verliebt war? Keine Ahnung. Die waren so aufgeregt, dass es keiner von den angereisten Verwandten genau herausbekam. Aber auf der Hochzeit waren noch zwei andere junge Leute, die einander hier begegneten und den ganzen Tag kaum noch die Blicke voneinander abwenden konnten. Die irgendwann gar nicht mehr auf das Brautpaar achteten, sondern nur noch darauf, wie sie zueinander kommen könnten, ohne dass sofort darüber getratscht würde. Sie wollten sich um Himmels willen nicht wieder aus den Augen verlieren, ohne wenigstens ein paar persönliche Worte gewechselt zu haben.
Der junge Mann war höchstens Mitte zwanzig, sah gut aus, hatte eine schlanke, sportliche Figur und trug einen modern rasierten Schnurrbart. Seine dunklen Haare waren glatt zurückgekämmt. Aufgefallen waren Regina zuerst seine vollen, weichen Lippen. Sie mochte keine Männer, die so militärisch verkniffen in die Welt schauten. Bei ihm aber glaubte sie, etwas Mutiges und Unangepasstes zu entdecken. Das gefiel ihr. Bislang wusste sie nur, dass er der älteste Bruder der Braut war.
Sie selbst war gerade achtzehn geworden. Zweimal schon hatte sie in ihrem bisherigen Leben geglaubt, verliebt zu sein. Aber es hatte sich beide Male als Irrtum herausgestellt. Eigentlich hatte sie gar nicht genau gewusst, wie das war, verliebt zu sein. Niemand sprach offen darüber. Angeblich geschah es einfach so – und für manche bedeutete es dann das größte Glück und für andere das größte Unglück. Sie hoffte natürlich, dass sie zur ersten Gruppe der glücklich Verliebten gehören möge. Deshalb hatte sie sich jedes Mal gefragt: Kann ich mit dem Mann wirklich glücklich werden? Darüber hatte sie sich dann so lange den Kopf zerbrochen, bis sie am Ende dachte, dass es wohl nicht Liebe sein könne, wenn man so schrecklich darüber nachgrübeln müsse.
Bei dem Bruder der Braut, von dem sie bisher so gut wie gar nichts wusste, dachte sie überhaupt nicht. Sie wollte ihn am liebsten immer nur anschauen. Und ihm nahe sein. Ihn vielleicht ein einziges Mal berühren. Einmal stieß ihre beste Freundin sie an und zischte ihr zu: »Ist dir schlecht? Du stehst nur rum und starrst vor dich hin.« Aber sie starrte gar nicht vor sich hin. Sie schaute, wenn auch so unauffällig wie möglich, unablässig zu dem jungen Mann hinüber.
Und dann geschah es: Der junge Mann, der schon ein paar Mal vorsichtig, aber ohne zu lächeln, zurückgeschaut hatte, unterbrach plötzlich das Gepräch mit einem älteren kahlköpfigen Herrn und kam direkt auf sie zu. Als er unmittelbar vor ihr stand, deutete er eine Verbeugung an und sagte mit einer ungewöhnlich tiefen Stimme: »Darf ich Ihnen ein Getränk holen?«
Regina schluckte und bekam kein Wort heraus. Sie schaute ihn an und schluckte erneut. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und antwortete: »Ich möchte lieber tanzen. Und Sie?«
Sie tanzten den ganzen Abend. Geredet haben sie dabei nur wenig. Aber am nächsten Tag, als Regina mit ihrer Familie im Zug zurück nach Wien fahren musste, da wusste sie immerhin, dass er nicht Schneider werden wollte wie sein Vater und sein Großvater, sondern dass er am liebsten die Welt kennen lernen und in Berlin damit beginnen wollte. Während der langen Eisenbahnfahrt, als die anderen, noch müde vom Feiern, in ihren Sitzen dösten, war Regina hellwach. »Das ist er! Auf so einen Mann habe ich gewartet!«, dachte sie. In der Hand hielt sie einen kleinen Zettel mit seiner Anschrift. Das Papier war zerknittert und die Tinte an einer Stelle verlaufen, aber sie konnte noch deutlich die Worte lesen, die er unter der Adresse für sie notiert hatte: »Ich will dich unbedingt wieder sehen! Dein Nazi.«
Dieser verliebte junge Mann war mein Vater. Eigentlich hieß er Ignatz, aber alle Freunde nannten ihn Nazi. Das Wort hatte damals noch keine andere Bedeutung als die freundliche Abkürzung seines Vornamens. Regina war meine Mutter. Und ich erinnere mich, wie stolz sie später zu mir gesagt hat: »Dein Vater und ich – wir haben aus Liebe geheiratet!«
Bis ich Abschied nehmen musste von ihr, 1938, nach der Pogromnacht der Nazis in Deutschland, hat sie die ersten Liebesbriefe von meinem Vater bewahrt, alle unterschrieben mit: »In Liebe, dein Nazi.« Erst nachdem die deutschen Nazis unser Waisenhaus in Frankfurt gestürmt hatten, las sie mir einige der Briefe vor. In einem stand: »Ich soll das reichste Mädchen aus unserer Stadt heiraten. Aber das werde ich auf keinen Fall. Ich liebe nur dich!« Wenig später hat sie alle Briefe von ihrem geliebten Mann vernichtet. Sie sollten nicht den Nazis in die Hände fallen. Im November 1938 war das, ein Monat nach meinem dreizehnten Geburtstag.
Meine Eltern waren sehr glücklich miteinander. Mein Vater verwirklichte noch als junger Mann seinen Traum und reiste nach Berlin, wo er sich einen Strohhut kaufte, mit dem er sich später stolz fotografieren ließ. Meine Mutter mochte dieses Foto sehr. Aber der Rest der Weltreise hat nie mehr stattgefunden.
Ignatz Levitus (27) und seine Frau Regina (20) in Frankfurt am Main 1922, drei Jahre vor Cillys Geburt.
Nach ihrer Heirat verließen sie ihre kleine Stadt in jenem Teil des Landes, das 1918 zur Tschechoslowakei geworden war. Sie zogen nach Frankfurt am Main, um dort ihr Glück zu suchen. Doch behielten sie ihre tschechische Staatsangehörigkeit, sodass auch wir vier Kinder als Ausländer in Deutschland geboren wurden. 1924 kam zuerst meine ältere Schwester Hanna auf die Welt und 1925 folgte ich. Jutta wurde 1928 in Straßburg geboren, wo meine Eltern vorübergehend eine koschere Pension führten. Unser kleiner Bruder Josef kam 1930 wieder in Frankfurt zur Welt, wohin unsere Familie inzwischen zurückgekehrt war.
Cilly (links), ein Jahr alt, und Hanna (rechts) 1926 in Frankfurt am Main.
In den ersten Jahren hatten meine Eltern keine finanziellen Sorgen. Mein Vater konnte mit den mitgebrachten tschechischen Kronen, die gut im Kurs standen, sogar mehrere Häuser in Frankfurt kaufen. Deren Verwaltung ermöglichte zunächst richtigen Wohlstand. Aber er war leider kein guter Geschäftsmann. Er begann, mit Aktien zu spekulieren. Nach dem großen Börsenkrach am ›Schwarzen Freitag‹ 1929 verlor er über Nacht allen Besitz. Plötzlich herrschte große Not bei uns daheim. Aus dem großen Haus mussten wir in eine kleine Wohnung umziehen.
Als meine Mutter auch noch mit Josef schwanger wurde, schickten meine Eltern mich für eine Weile zu den Großeltern, die im ungarisch sprechenden Teil der Tschechoslowakei lebten. Dort gefiel es mir sehr. Ich war das einzige Kind und Oma und Opa verwöhnten mich von morgens bis abends. Am schönsten waren die Schabbat-Feiern am Freitagabend. Die ganze Woche bereiteten wir uns darauf vor. Im Garten gab es eine kleine Laube, die für mich zum großen Puppenhaus wurde. Dort schmückte ich ebenso wie im Wohnzimmer der Großeltern alles für den Schabbat, deckte einen kleinen Tisch und durfte sogar zwei Kerzen anzünden.
Ich war fünf, als ich 1930 zu meinen Eltern und Geschwistern nach Frankfurt zurückgeschickt wurde, und sprach nur noch Ungarisch. Die deutsche Sprache hatte ich so gut wie vergessen. Alles hier erschien mir auf einmal fremd und kalt, meine Mutter und meine ältere Schwester Hanna blieben eigenartig distanziert. Zuerst habe ich nur geheult und wäre am liebsten sofort zurück zu Oma und Opa gegangen. Aber dann kam mein Vater nach Hause, nahm mich auf den Arm und rief strahlend: »Wie schön, dass du wieder bei uns bist!« Und auf einmal kam es mir schon weniger schlimm vor. Ich hatte keine Ahnung, dass er zu der Zeit bereits sehr krank war. Doch dann war er plötzlich nicht mehr daheim und Mutter, die kurz vor der Geburt mit dem kleinen Josef stand, nahm meine beiden Schwestern und mich mit ins jüdische Spital in der Gagernstraße.
Ich fand, dass es eigenartig roch in diesem Krankenhaus. Und wir Kinder mussten ganz leise sein, weil alle Menschen in Betten lagen und sehr schwach waren. Auch Vater.
Ein paar Mal brachten wir ihm kandierte Früchte mit, die er sonst immer so gern gegessen hatte. Aber er rührte sie kaum an, sah schrecklich abgemagert aus und sagte kaum etwas. Ich fragte Mutter, wann er denn endlich wieder nach Hause käme, und sie antwortete: »Bald.«
Tatsächlich kehrte er nach Hause zurück, aß kandierte Früchte und bekam wieder etwas Farbe im Gesicht. Nur sein Husten und die Atemnot wollten nicht verschwinden.
Dann wurde Josef geboren und Vater freute sich mit uns und lachte und hustete immer abwechselnd. Ein paar Wochen später musste er wieder ins Spital. Als ich wissen wollte, welche Krankheit Vater habe, entgegnete meine Mutter nur: »Ich will nicht, dass man darüber spricht!« Und schwieg.
1931 starb Vater und ließ Mutter mit uns vier Kindern und den Schulden zurück. Hanna kam früher als sonst zu mir in den Kindergarten und sagte ganz leise: »Papa ist tot.« Ich rief erschrocken: »Aber so was darf man nicht sagen!« Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, was es bedeutet, dass ein Mensch tot ist – und dann noch mein geliebter Vater. Hanna entgegnete nichts, sondern sah mich nur stumm und traurig an. Und da wusste ich, dass Tod so etwas wie Abschied bedeutet. Dass wir unseren Vater nicht mehr sehen würden. Nie mehr.
Was sollte nun aus uns werden? Mutter hatte nie einen richtigen Beruf gelernt. Aber sie konnte gut kochen und so tauchte irgendwann eine entfernte Verwandte auf, die ihr eine Stelle als Haushälterin bei dem wohlhabenden Fräulein Oppenheimer vermittelte. Diese Verwandte erlaubte meiner Mutter auch, vorübergehend bei ihr einzuziehen. »Aber nicht mit vier Kindern. Höchstens zwei!«
Was blieb meiner Mutter übrig? Sie nahm Josef, den Säugling, und die kleine Jutta mit und brachte Hanna und mich in die Israelitische Waisenanstalt am Röderbergweg. Mir fiel vor allem die Trennung von meiner jüngeren Schwester schwer. Ich liebte Jutta sehr und hatte mich von klein auf um sie gekümmert. Dafür hing ich nun plötzlich mit Hanna zusammen, auf die ich oft eifersüchtig war. Hanna war mit einer Hirnblutung geboren worden und wurde deswegen von den Eltern immer mit besonderer Rücksicht behandelt. Und ich fand, dass sie das ganz schön ausnutzte. Wenn wir etwas gemeinsam angestellt hatten, war immer ich diejenige, die beschuldigt wurde, und Hanna sagte dann nie etwas, sondern schaute nur so leidend. Das fand ich ziemlich gemein.
Im Waisenhaus nun ließ ich mir nichts mehr gefallen, sondern ärgerte Hanna öfter mit den anderen Kindern. Das war meine Rache. Bei den anderen Kindern war ich beliebter als Hanna. Nachts, wenn es dunkel und kalt im Waisenhaus war und eine von uns Mädchen über den langen Flur zum Klo musste, gingen wir immer mindestens zu zweit, weil wir sonst Angst hatten. Und wenn Hanna dastand, mitten in der Nacht in ihrem dünnen Hemd, und rief: »Wer geht mit mir aufs Klo?«, dann antwortete niemand. Niemand wollte mit ihr aufs Klo gehen. Auch ich nicht.
Wie sehr vermisste ich dagegen die kleine Jutta! Manchmal besuchte sie Hanna und mich im Waisenhaus, um etwas zum Naschen vorbeizubringen. Sie sagte: »Hier, das ist von meiner Mutter!« Eine Weile kapierte sie gar nicht, dass das auch unsere Mutter war.
Nach zwei Jahren war die Zeit der Trennung endlich vorüber, als Mutter 1934 eine Stelle als Köchin in unserem Waisenhaus bekam. Josef wurde bei den Jungen untergebracht und Jutta kam zu uns Mädchen. Das war ein Fest für mich! Ich stellte sie allen vor und sagte stolz: »Das ist Jutta, meine kleine Schwester. Wehe, der tut jemand etwas!«
Mutter wohnte anfangs noch nicht bei uns im Waisenhaus. Sie kam morgens zur Arbeit und ging abends wieder weg. Ich hatte sie als ziemlich streng in Erinnerung. Im Waisenhaus war ich sehr selbständig geworden, obwohl ich noch so klein war. Ich ging in die Volksschule und dort hatte ich ebenso wie im Heim inzwischen Freundinnen gefunden und war mir nun gar nicht so sicher, wie es werden würde, wenn Mutter plötzlich wieder alles kontrollierte.
Aber Mutter war bald bei allen im Waisenhaus sehr beliebt und geachtet. Jeder kam mit seinen Problemen zu ihr. Die Kleinen ließen sich von ihr trösten, wenn sie hingefallen waren oder etwas kaputt gegangen war. Die Älteren teilten auch schon mal ihren Liebeskummer mit ihr. Und sie kochte prima.
Ihre eigenen Kinder ermahnte sie: »Ich möchte keine Klagen über euch hören!« Das war natürlich blöd, dass wir immer Vorbilder sein sollten. »Anständige Mädchen« sollten wir werden. Aber da sie von den anderen so geachtet wurde, freute ich mich doch auf ihren Einzug, als sie schließlich ein Dienstzimmer im Obergeschoss des Waisenhauses bekam.
Ich stand schon vor sechs Uhr früh auf, um ihr am ersten Morgen bei der Vorbereitung des Frühstücks für die etwa hundert Kinder im Waisenhaus zu helfen. Ich war stolz auf meine Mutter, als ich sie da in der Küche bei den riesigen Töpfen stehen sah. Dann merkte ich aber, dass sie mich nicht brauchte, weil sie ältere Mädchen zur Seite hatte, die bei ihr Kochen und Haushaltskunde lernen sollten, zur Vorbereitung für ihre Auswanderung nach Palästina. Ich war enttäuscht, ließ mir aber nichts anmerken und zupfte weiter die Johannisbeeren für die Marmelade vom Stängel, als sei nichts geschehen. Ich half ihr auch später noch öfter in der Küche, stand aber nie mehr so früh dafür auf.
Nachdem wir uns gewaschen, angezogen und unsere Betten gemacht hatten, gingen wir jeden Morgen in den Speisesaal, wo wir eine halbe Stunde beteten. Die Jüngsten waren sechs und die Ältesten ungefähr siebzehn Jahre alt. Diese halbe Stunden Beten hat mir immer gut gefallen. Das war etwas so Ruhiges und Schönes. Ich mochte auch mein Gebetbuch gern. Die dünnen Seiten fühlten sich gut an und die Schrift war so liebevoll gezeichnet. Die Jungen waren zur gleichen Zeit mit einem Vorbeter in der Synagoge. Wir Mädchen brauchten keinen Vorbeter. Wir machten das selbst, während die Leiterin der Mädchenabteilung, Tante Ella, schon mit anderem beschäftigt war. Danach gab es Brötchen und Kakao und dann ging’s in die Schule.
Auch die Schule war, wie das Waisenhaus, Teil der ›Israelitischen Religionsgemeinschaft‹, die frommer als die anderen leben wollte und sich von der jüdischen Gemeinde Frankfurts getrennt hatte. Ich habe darüber nicht groß nachgedacht, es war einfach normal, weil es alle um mich herum so machten. In der Schule lernten wir von Anfang an Hebräisch und nahmen regelmäßig den jeweiligen Wochenabschnitt aus der Thora durch. Am besten fand ich die Geschichten, die als Erklärungen zur Thora erzählt wurden – von irgendwelchen Gelehrten aus fernen Ländern, die alle möglichen Abenteuer zu bestehen oder Rätsel zu lösen hatten. Am Freitagabend, dem Beginn des Schabbat, wurde dann im Waisenhaus gefragt: »Wer kann eine Geschichte erzählen?« Und ich rief sofort: »Mach ich!« Die anderen Mädchen hingen an meinen Lippen. Manchmal erfand ich auch ein bisschen was dazu, doch ich dachte, das werde der liebe G”tt schon verstehen. Denn wenn es langweilig wird und niemand mehr zuhört, hat er ja auch nichts davon.
Hinten: Die zehnjährige Hanna (hinten links) und Cilly (9 Jahre, rechts) mit ihren jüngeren Geschwistern Jutta und Jossel 1934.
Die Schreibweise G”tt ist übrigens kein Druckfehler, sondern gehört zu unserem Glauben. Das geschieht aus Achtung gegenüber dem Ewigen, dessen Namen man nicht aussprechen und von dem man sich auch kein Bild machen darf, wie es schon Moses und sein Bruder Aaron mit dem goldenden Kalb in biblischen Zeiten hatten lernen müssen.
Dass im Januar 1933 die Nazis mit ihrem ›Führer‹ Adolf Hitler in Deutschland an die Macht kamen, habe ich anfangs gar nicht mitbekommen. Ich war da gerade sieben Jahre alt, immer noch eifersüchtig auf Hanna, und ansonsten vor allem damit beschäftigt, Freundinnen im Waisenhaus zu finden.
IN DER MITTE DER STRASSE
Zu Chanukka, unserem Lichterfest im Dezember, schenkte Mutter Hanna und mir je eine Puppe. Sie hatte die beiden aufs Bett gelegt: Eine mit weißer und eine mit schwarzer Haut. Wir durften uns aussuchen, welche wir haben wollten. Ich rief, ohne nachzudenken: »Ich möchte die mit dunkler Haut!« Hanna war glücklich mit der hellen Puppe. So war es immer: Mich reizte das Neue, Unbekannte, Ungewöhnliche, während Hanna lieber auf Nummer Sicher ging.
Bei uns im Waisenhaus arbeiteten viele christliche Dienstmädchen, oft junge Frauen aus den umliegenden Dörfern, die froh waren, hier Arbeit zu finden. Unser Heimleiter und seine Frau, Onkel Isidor und Tante Rosa,1 behandelten sie genauso wie die jüdischen Angestellten. Manche hatten zu Weihnachten nicht genug Geld, um nach Hause zu fahren. Dann blieben sie über die Feiertage im Heim und Onkel Isidor begleitete sie am Klavier, wenn sie christliche Weihnachtslieder sangen, damit sie sich nicht so allein fühlen sollten. Eine von den Dienstmädchen mochte ich besonders gern, Lisa. Wir redeten nicht viel, aber schauten einander oft an und dann lächelte sie. Ich wusste nicht viel über Christen, außer dass sie irgendwie anders waren als wir. Lisa war die erste Christin, die ich näher kennen lernte.
Einmal war meine schwarze Puppe heruntergefallen und kaputt gegangen. Sogar ihr Kleid war zerrissen. Es war schrecklich. Zu allem Unglück verschwand sie kurz darauf ganz. Ich suchte sie überall. Am Sonntagabend lag sie dann plötzlich wieder auf meinem Bett. Sie war repariert und trug obendrein ein neu gehäkeltes Kleid. Ich schloss sie überglücklich in die Arme. Auf ein Mal stand Lisa hinter mir und lächelte schüchtern, ohne ein Wort zu sagen. Da wusste ich, dass sie die Puppe mitgenommen und für mich heil gemacht hatte. Am liebsten hätte ich sie umarmt, aber ich traute mich nicht. So lächelte ich zumindest dankbar zurück.
Chanukka 1935: Die Jungen der Israelitischen Waisenanstalt in Frankfurt am Main entzünden die Kerzen mit Onkel Isidor, dem Heimleiter (links).
Im Waisenhaus waren auch polnische Kinder. Sie kamen meist aus ärmeren Verhältnissen als die deutschen. Viele sprachen nicht gut Deutsch. Manchmal gab es Streit zwischen den deutschen und den polnischen Kindern. Ich war froh, dass ich mich raushalten konnte, denn ich war ja noch immer tschechisch. Aber meine Sympathien waren meist bei den polnischen Kindern. Die waren nicht so eingebildet, fand ich. Oft waren sie frecher, aber auch herzlicher. Und manchmal machte ich eben auch noch einen Fehler in der deutschen Sprache wie sie.
Im Heim lernten wir jeden Nachmittag mit Tante Ella englische Lieder oder Spiele und lasen englische Bücher, da viele von uns hofften, später einmal nach Palästina auswandern zu können. Als ich meinem Lehrer in der Schule davon erzählte, wies er mich streng zurecht: »Lern du erst mal richtig Deutsch!« Ich war tief beleidigt, weil ich fand, dass mein Deutsch gut genug war.
Immer öfter sprachen wir davon, wie denn das Leben in Palästina sei und wie unsere Zukunft dort einmal aussehen sollte. Aber wir hörten auch von anderen Plänen. Ich erinnerte mich, wie mein Vater früher, als er noch Geld hatte, Freunden half, nach Amerika auszuwandern. Später war daran für uns selbst nicht mehr zu denken. Einmal fragte ich meine Mutter: »Warum gehen wir dann nicht zurück in die Tschechoslowakei?« Ich wusste, dass sie noch den grauen tschechischen Pass besaß. Aber sie antwortete nur: »Denkst du, dass man dort auf uns wartet?«
Zwischendurch vergaß ich diese Gespräche über Weggehen und Auswandern wieder. Im Sommer machten wir oft Ausflüge in den Taunus. Wir nahmen Proviant in kleinen Rucksäcken mit und wanderten in Gruppen unbeschwert durch die Natur, sangen Lieder, machten Pausen zum Essen oder Spielen und kehrten abends erschöpft, aber glücklich zurück ins Heim. Zuweilen wurde dann ein Lastwagen gemietet, der uns aus der Stadt hinausbrachte. Das Besondere an diesen Ausflügen war, dass Mädchen und Jungen etwas zusammen unternahmen. Die Speditionsfirma, bei der man den Lastwagen bestellen konnte, hieß ›Der rote Radler‹ und so nannten wir auch unser Ausflugsauto.
Ein Ausflug des Waisenhauses mit dem ›Roten Radler‹ ins Grüne, Sommer 1937. Die drei Schwestern sind mit ihren Zöpfen gut zu erkennen: Cilly (oben links), Hanna (oben Mitte), Jutta (unten rechts), links daneben Jossel (mit Mütze).
Einmal näherten wir uns bei so einem Ausflug einem Lokal in einem kleinen Dorf. Es war schon Nachmittag. Die wenigsten hatten noch etwas zu trinken dabei und so lud uns Tante Ella übermütig zu einem Glas Apfelmost ein. Ausgelassen setzten wir uns an die Tische und Stühle im Vorgarten des Lokals. Tante Ella ging hinein, um zu bestellen. Einen Moment später kam sie mit einem ernsten Gesicht wieder heraus und sagte leise: »Hier wollen wir nichts trinken!« Erst jetzt fiel mir auf, dass alle anderen Gäste uns unfreundlich musterten. Am Eingang des Lokals stand ein Pappschild, auf das jemand von Hand in Druckbuchstaben geschrieben hatte: »JUDEN UNERWÜNSCHT!« Keiner von uns hatte es vorher bemerkt.
Kurz darauf begann es auch auf dem Weg zur Schule. Inzwischen besuchte ich die Samson-Raphael-Hirsch-Schule gleich gegenüber vom Tiergarten. Immer öfter lauerten uns jetzt Schüler von umliegenden Schulen auf. Schon vor 1933 hatten die geschrien: »Jud – scheiß in die Dutt!« Und wir hatten zurückgerufen: »Christ – scheiß in die Kist!« Aber jetzt fingen sie auch an zu schubsen und zu schlagen. Meistens waren es ältere Jungen, da hatten wir jüngeren Mädchen keine guten Karten. Mit meiner Freundin Edith überlegte ich immer neue Strategien, wie wir sicher von der Schule zurück ins Heim kommen könnten.
Eine Schülerzeichnung aus der Samson-Raphael-Hirsch-Schule aus dem Jahr 1929. Der Schüler lässt die Tiere aus dem nahegelegenen Zoo freundliche Worte sagen.
Mutter riet: »Wenn die hinter dir her sind, dann stell dich einfach vor irgendein Wohnhaus und ruf laut: ›Mama, komm runter, schnell!‹ Dann werden die schon abhauen.«
»Gute Idee!«, fand Edith.
Kaum hatte ich am nächsten Tag das Schulgebäude mit ihr verlassen, als schon wieder vier Jungen, höchstens ein oder zwei Jahre älter als wir, uns den Weg versperrten.
»Ihr stinkt!«, rief der Kleinste von ihnen.
Edith und ich sagten nichts. Wir gingen nur weiter nach links auf dem Bürgersteig, um irgendwie an ihnen vorbeizukommen. Da hielt mich der Größte von ihnen am Arm fest und meinte grinsend: »Pack deinen Dreck – dann biste weg!« Die anderen lachten.
Ich wusste nicht, was daran komisch sein sollte. Weder stanken Edith und ich, noch waren wir dreckig. Da nahm ich all meinen Mut zusammen und schrie: »Ihr seid so blöd! Und dann noch feige – vier gegen zwei!«
Plötzlich grinste der Große nicht mehr: »Willst wohl auch noch frech werden, was?« Und schon hatte er mir eine schallende Ohrfeige verpasst. Ich fühlte, wie meine Wange zu glühen begann. Edith schaute nur zu Boden und sagte nichts. Dann packte sie mich mit einem Mal am Ärmel und riss mich mit sich zur Mitte der Straße. Ein Auto bremste quietschend unmittelbar vor uns. Der Fahrer hupte und schrie uns etwas durch die Scheibe hinterher. Aber Edith und ich rannten einfach weiter, so schnell wir konnten. Wir liefen ohne anzuhalten bis zum Eingang unseres Waisenhauses. Direkt hinter dem Tor auf dem Hof blieben wir schwer atmend stehen.
»Wenn der Messias kommt, wird es denen schlecht ergehen!«, keuchte Edith. Daran hatte ich bisher noch gar nicht gedacht. Edith hatte oft gute Einfälle.
»Wir haben gar nicht probiert, uns vor ein Haus zu stellen und nach einer Mutter zu rufen«, meinte sie, als wir wieder zu Atem gekommen waren, aber immer noch im Hof standen und uns den Schweiß aus dem Gesicht wischten. Den Handabdruck des Jungen spürte ich noch immer auf der Wange.
»Meinst du, das hätte die beeindruckt?«, fragte ich zweifelnd.
»Weiß nicht«, erwiderte sie unsicher.
Wir beschlossen, auf dem Schulweg von nun an so weit wie möglich in der Mitte der Straße zu gehen, weil wir dann am besten weglaufen könnten, wenn uns wieder christliche Schüler in die Quere kämen. Den Erwachsenen wollten wir nicht jedes Mal von unserer Angst auf dem Schulweg erzählen. Sie waren danach nur ebenfalls traurig, aber konnten offensichtlich selbst nicht viel machen. Ich fragte Mutter an jenem Abend nur, ob sie nicht doch mal unseren Verwandten in der Tschechoslowakei schreiben könne. Nur um sich zu erkundigen, wie das Leben dort so sei.
Ein kleiner Trost für mich war, dass Jutta, meine geliebte kleine Schwester, die zunehmende Bedrohung außerhalb des Heims weniger wahrzunehmen schien als die meisten von uns älteren Kindern. Sie litt mehr darunter, dass sie als Kleinere von älteren Mädchen im Heim oft geärgert wurde. Wenn ich konnte, habe ich sie dagegen immer in Schutz genommen und auf sie aufgepasst. Manchmal erzählte ich ihr Märchen oder Sagen vor dem Einschlafen, in denen immer die Guten siegten. Und wenn ich etwas fand oder erstehen konnte, womit ich ihr eine kleine Freude machen konnte – ein Spielzeug oder ein Bild oder eine Süßigkeit – dann schenkte ich es ihr und freute mich ebenso darüber wie sie. Jutta selbst wurde für mich zu einem Symbol der heilen Welt.
Onkel Isidor und Tante Rosa, die mehr und mehr Kinder im Heim aufnehmen mussten, taten ihr Bestes, unsere Tage so unbeschwert wie möglich zu gestalten. Gleichzeitig bemühten sie sich immer intensiver um Genehmigungen zur Auswanderung für uns, vor allem nach Palästina. Es war anfangs nicht die deutsche Regierung, die die Ausreise verweigerte, im Gegenteil, immer wieder wurde uns draußen entgegengerufen: Haut doch ab nach Palästina! Es waren die Engländer, die in Palästina damals als Mandatsmacht herrschten und nur sehr begrenzt weitere Juden einreisen ließen, um es sich nicht mit den dort lebenden Arabern zu verscherzen. Auch andere Länder, wie die Schweiz oder die USA, nahmen nur wenige jüdische Einwanderer auf.
Viele Wände in den Zimmern und selbst im großen Speisesaal des Heims waren mit beinah lebensgroßen Märchenfiguren bemalt. Oft standen Jutta und ich fasziniert vor diesen Malereien und Jutta zeigte mit dem Finger und fragte: »Cilly, wer ist das?«