Über das Buch
Die wichtigste Zutat für eine erfüllte Kindheit
Kinder brauchen ein stabiles Fundament – die sichere Bindung zu ihren Eltern. Sie ist der Grundstein für Gesundheit, Resilienz, Selbstvertrauen und Lebensglück. Was Eltern tun können, um ihren Kindern eine so stabile Basis zu schaffen, zeigen hier drei renommierte Bindungsforscherinnen. Schlafen, Schreien, Ernährung, Geschwisterstreit oder Grenzensetzen – zu allen wichtigen Familienthemen erfahren Eltern ganz konkret, wie sie ihre Kinder stärken können.
In diesem neuen Standardwerk lesen Sie:
Über die Autorinnen
Fabienne Becker-Stoll, Kathrin Beckh und Julia Berkic sind Bindungsforscherinnen und Mitarbeiterinnen des Staatsinstituts für Frühpädagogik (IFP) in München.
Fabienne Becker-Stoll, Kathrin Beckh, Julia Berkic
Bindung –
eine sichere Basis fürs Leben
Das große Elternbuch für die ersten 6 Jahre
Kösel
Inhalt
Kapitel 1 – Bindung: eine sichere Basis fürs Leben
Bindung ist überlebenswichtig
Bindung entsteht im täglichen Miteinander
Die Eltern als sichere Basis und sicherer Hafen
Feinfühligkeit und gelingende Kommunikation
Kindliche Entwicklung – warum der Blick aufs Verhalten nicht ausreicht
Wie eine sichere Bindung das Kind in seiner Entwicklung fördert
Wie Bi ndungsmuster sich entwickeln
Kapitel 1: Das Wichtigste in Kürze
Kapitel 2 – Das erste Lebensjahr: Bindung entsteht
Der Aufbau einer Bindung – die erste große Entwicklungsaufgabe im Leben
Grundbedürfnisse im ersten Lebensjahr: zwischen Bindung und Erkundung
Was bedeutet Feinfühligkeit im ersten Lebensjahr?
Verschiedene Aspekte von Feinfühligkeit
Was tun, wenn es nicht klappt?
Die Entwicklung verschiedener Bindungsmuster
Feinfühligkeit im Alltag mit dem Baby
Elterliche Feinfühligkeit hilft dem Baby zu denken und zu verstehen
Kapitel 2: Das Wichtigste in Kürze
Kapitel 3 – Das Kleinkindalter: Die ganze Wucht der Gefühle
Wie sich die Bindungsbeziehungen im Kleinkindalter verändern
Der Kreis der Sicherheit: die Eltern als sichere Basis und als sicherer Hafen
Den Bedürfnissen von Kleinkindern feinfühlig begegnen
Die ganze Wucht der Gefühle
Feinfühligkeit im Alltag mit dem Kleinkind
Kapitel 3: Das Wichtigste in Kürze
Kapitel 4 – Das Kindergartenalter: Nun wächst Persönlichkeit
Entwicklungsschritte im Kindergartenalter
Aus Beziehungserfahrung wird Persönlichkeit
Die Bindung an die Eltern verändert sich
Kindergartenkinder in ihrer Entwicklung feinfühlig begleiten
Feinfühligkeit im Alltag mit Kindergartenkindern
Kapitel 4: Das Wichtigste in Kürze
Kapitel 5 – Bindung in der Familie und darüber hinaus
Elternschaft und die Beziehung zu den eigenen Eltern
Partnerschaft und Elternschaft
Familiäre Veränderungen feinfühlig gestalten
Der Übergang in außerfamiliäre Betreuung
Kapitel 5: Das Wichtigste in Kürze
Kapitel 6 – Alte Muster durchbrechen – neue Wege beschreiten
Alarmsysteme aus der Vergangenheit verstehen lernen
Sich auf den Weg machen zu mehr Feinfühligkeit
Umgang mit Stress und Belastung
Hilfen bei Überforderung
Kapitel 6: Das Wichtigste in Kürze
Anhang
Kurzbiographien von John Bowlby, Mary Ainsworth, Klaus und Karin Grossmann
Über die Autorinnen
Register
Anmerkungen
Bildnachweis
Vorwort
Allen Eltern gemeinsam ist der Wunsch, gute Eltern zu sein. Sie möchten das eigene Kind auf seinem Weg zu einem selbstständigen und selbstsicheren Erwachsenen begleiten und ihm dabei etwas mit auf den Weg zu geben, das es ihm ermöglicht, vertrauensvolle Beziehungen einzugehen und seine Ziele zu verwirklichen, und das es auch in schwierigen Zeiten und Krisen trägt. Als Bindungsforscherinnen und Mütter möchten wir deshalb in diesem Buch die vielfältigen und aktuellen Ergebnisse der Bindungsforschung für Eltern verständlich und alltagstauglich zur Verfügung stellen, damit sie ihrem Kind von Anfang an eine sichere Basis fürs Leben bieten können.
Mit diesem Buch möchten wir Eltern im Umgang mit ihrem Kind informieren, ermutigen und begleiten:
Nach über 50 Jahren weltweit intensiver Bindungsforschung und Tausenden von Studien kristallisiert sich immer mehr eine beruhigende Botschaft heraus, die wissenschaftlich mittlerweile als sehr gut belegt gelten kann: Eltern tragen alles in sich, was sie brauchen, um gute Eltern zu sein. Und wenn ein Kind auf die Welt kommt, dann ist es biologisch darauf vorbereitet, eine enge Bindung an seine Eltern (oder die Personen, die sich um das Kind kümmern) aufzubauen. Denn die Bindung an mindestens eine beschützende erwachsene Person, die sich verantwortlich fühlt und zuverlässig um das Kind kümmert, ist für das Baby überlebenswichtig.
Diese Bindung schützt das Kind nicht nur vor dem Verhungern und gegen Gefahren aus der Umwelt, sondern gleichzeitig garantiert die Bindung auch ein sicheres Umfeld und den schützenden Rahmen, in dem das Kind allmählich alle Fähigkeiten erwirbt, um zunehmend selbstständig und unabhängig zu werden. Demgegenüber steht aufseiten der Eltern der intuitive Wunsch, auf das Bindungsbedürfnis des Babys einzugehen, es zu beschützen und zu umsorgen. Von Geburt an entwickelt sich die Bindung zwischen Eltern und Kind durch tausendfach wiederholte Momente von Schutz und Fürsorge. Die Ergebnisse der Bindungsforschung zeigen ganz klar: Das emotionale Bedürfnis nach Schutz und Nähe ist für die Entwicklung des Kindes genauso wichtig, wie die Erfüllung von körperlichen Bedürfnissen nach Nahrung, Körperpflege oder Schutz vor Kälte oder Hitze. Denn durch eine sichere Bindung entwickeln Kinder das Vertrauen, bei Bedarf Unterstützung zu finden. Dieses Vertrauen gibt ihnen wiederum das Selbstvertrauen, sich von den Eltern wegzubewegen, die Welt zu erkunden und mit den unvermeidbaren Schwierigkeiten, auf die sie im Laufe ihrer Entwicklung stoßen, fertig zu werden.
Vielleicht fragen Sie sich als Eltern, warum es so lange gedauert hat, bis die Bedeutung von Bindungsbeziehungen anerkannt wurde. Das liegt daran, dass im 20. Jahrhundert das Verhalten von Säuglingen und Kleinkindern und die besondere Beziehung zur Mutter vor allem aus der Sicht der Behavioristen verstanden wurden. Sie gingen davon aus, dass Babys Verhaltensweisen wie Lächeln oder Weinen zeigen, um das Verhalten ihrer Bezugspersonen zu steuern. Daher empfahlen die Behavioristen, Kindern nicht zu viel Liebe und Aufmerksamkeit zu schenken, da dies ihr Weinen verstärken würde und sie von der liebevollen Zuwendung ihrer Mutter abhängig würden. Diese Forderung passte fatalerweise auch sehr gut zu den preußischen und nationalsozialistischen Erziehungsidealen, und sie passt leider ebenfalls zu manchen Vorstellungen unserer heutigen Leistungsgesellschaft. Dies erklärt die nach wie vor bestehenden Vorbehalte gegen die Erkenntnisse der Bindungstheorie und Bindungsforschung.
Der Begründer der Bindungstheorie, John Bowlby, war einer der ersten Forscher, die auf dem Gebiet der kindlichen Entwicklung interdisziplinär gearbeitet haben. Er hat die Erkenntnisse aus unterschiedlichen Disziplinen wie Medizin, Biologie, Entwicklungspsychologie und Kybernetik zusammengetragen, um diese in seine Bindungstheorie zu integrieren. Damit entwickelte John Bowlby eine neue Antwort auf die Frage, was die besondere Beziehung zwischen Mutter und Kind ausmacht. Er erkannte als Erster, dass Säuglinge aufgrund biologisch verankerter Verhaltenssysteme von Anfang an Bindungen zu den Personen aufbauen, die sich dauerhaft um sie kümmern – um ihr Überleben und damit das Überleben der ganzen Art zu sichern. Damit legte er den Grundstein für 50 Jahre weltweite Bindungsforschung, die maßgeblich von seiner Mitarbeiterin Mary Ainsworth vorangebracht und in Deutschland von Klaus und Karin Grossmann in bahnbrechenden Langzeitstudien weitergeführt wurde. Das vorliegende Buch beruht auf der Pionierarbeit von John Bowlby, Mary Ainsworth und Klaus und Karin Grossmann. Daher haben wir ihre Kurzbiografien im Anhang aufgeführt.
Neben allen wissenschaftlichen Erkenntnissen der Bindungsforschung und aller Anstrengung, die der Alltag und die Erziehung von Kindern mit sich bringt, möchten wir Eltern auch ermutigen, den besonderen Charme und die Lebensfreude ihrer Kinder immer wieder bewusst wahrzunehmen und sich in der Beziehung mit ihren Kindern daran zu freuen.
Fabienne Becker-Stoll, Kathrin Beckh und Julia Berkic
Kapitel 1
Bindung:
eine sichere Basis fürs Leben
In diesem Kapitel lesen Sie:
»Wenn wir das Vorhandensein eines Bindungsverhaltenssystems im Organismus annehmen, das als Ergebnis der Evolution betrachtet wird und dessen biologische Funktion Schutz ist, dann (…) muss man den Drang, Nähe aufrechtzuerhalten respektieren, wertschätzen und fördern, da er zu potenzieller Stärke führt. Man soll nicht auf ihn als ein Zeichen der Schwäche bei einem Menschen herabsehen, wie dies bis jetzt so häufig geschehen ist.«
John Bowlby, 19911
Bindung ist überlebenswichtig
Bestimmt kennt jeder diese Erfahrung: Sobald wir intensive Gefühle erleben, entsteht das Bedürfnis, sie mit anderen zu teilen. Egal, ob es die Freude über die Geburt eines Kindes ist, die Angst, sich einer großen Herausforderung zu stellen, eine neue Partnerschaft, Liebeskummer, existenzielle Ängste durch den drohenden Verlust des Jobs – Gefühle mit anderen Personen zu teilen verändert die Art und Weise, wie wir diese Gefühle und damit auch uns selbst erleben. Oft reicht es schon aus zu wissen, dass es jemanden gibt, dem wir vertrauen und bei dem wir uns öffnen können, damit wir uns (selbst)sicherer und besser fühlen.
Und in der Tat entsteht aus den Befunden aus 60 Jahren Bindungsforschung ein immer klareres Bild über die immense lebenslange Bedeutung von Bindungen und zwischenmenschliche Beziehungen: Der Mensch ist von Natur aus sozial ausgerichtet.
Menschen jeden Alters fühlen sich sicherer und zufriedener, wenn es in ihrem Umfeld Menschen gibt, denen sie ihre Sorgen und Nöte, aber auch freudige Ereignisse mitteilen können, und auf deren Unterstützung sie vertrauen können. Und irgendwo spüren wahrscheinlich alle Eltern, spätestens sobald sie ihr Baby zum ersten Mal im Arm halten, dass genau dies ihre wichtigste Aufgabe ist: das Kind in allen seinen Gefühlen zu begleiten, ihm Halt und Orientierung zu geben, und es auf seinem Weg in die Welt zu beschützen und zu unterstützen.
In der Bindungsbeziehung zu den Eltern lernt das Kind so während der ersten Lebensjahre sich selbst als liebenswert zu erleben und dabei sowohl auf die Unterstützung anderer als auch auf sich selbst zu vertrauen. Aufgrund dieser Erfahrungen können echtes Selbstvertrauen und Selbstständigkeit entstehen – genauso wie die Fähigkeit, später im Leben enge Beziehungen einzugehen. Der nahe, verlässliche Kontakt zu den Eltern, erleichtert es dem Kind die Herausforderungen des Lebens gut zu bewältigen.
Bindung bietet Schutz vor Gefahren und unterstützt das Lernen
Unabhängig davon, wie alt Menschen sind, in manchen Situationen brauchen sie den Schutz und die Unterstützung von anderen, ihnen nahestehenden Personen. Für Babys und kleine Kinder ist dieser Schutz, der in Bindungen entsteht, jedoch von noch größerer Bedeutung: Sie könnten sonst die ersten Lebensjahre nicht überleben. Denn erst die zuverlässige Nähe einer erwachsenen Person, die als größer und stärker erlebt wird, garantiert auch den bestmöglichen Schutz vor den vielfältigen Gefahren, die in der Umwelt lauern – zum Beispiel fremde Personen, deren Vertrauenswürdigkeit man nicht einschätzen kann, Raubtiere oder die Folgen von Unwettern.2
Zu der Zeit, als unser Bindungssystem entstanden ist, war die Umwelt voller lauernder Gefahren. Auch heute noch sind Bindung und Schutz für ein Baby überlebenswichtig.
John Bowlby, der Begründer der Bindungstheorie, nahm an, dass die Trennung von einer beschützenden erwachsenen Person für den Säugling die größte Gefahr überhaupt darstellt. Darum hat sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte ein Verhaltenssystem herausgebildet, dessen Funktion es ist, die Nähe von mindestens einer erwachsenen Person zu sichern: das sogenannte Bindungsverhaltenssystem. Wenn ein Baby auf die Welt kommt, dann ist es genetisch dazu vorprogrammiert, eine schutzgebende Person zu suchen, sich an sie zu binden und dafür zu sorgen, die Nähe zu ihr aufrechtzuerhalten. Dies ist die erste große Aufgabe im Leben, und sie hat in den ersten Lebensjahren Vorrang vor allem anderen.3
Erst wenn das Kind sich in seiner Bindungsbeziehung sicher fühlt, fängt es an, seine Aufmerksamkeit stärker auf die Umgebung zu richten und sie neugierig zu erkunden. In der Bindungsforschung wird dieses Verhalten »Exploration« genannt. Gemeint ist damit der ebenfalls angeborene Drang, sich aktiv mit der Umwelt zu beschäftigen und so all die Dinge zu lernen, die für das Leben als Erwachsener notwendig sind.
Bindung bietet also nicht nur Schutz, um das Überleben zu sichern, sondern bereitet gleichzeitig auch den Weg dafür, dass Kinder selbstständig werden und alles lernen, was für das Überleben in dieser Umwelt wichtig ist.
Das Bedürfnis nach Bindung ist aber weit mehr als nur ein Relikt aus der Steinzeit. Die Gefahr, die von gefährlichen Raubtieren ausgeht, ist für uns inzwischen vernachlässigbar. Doch auch heutzutage ersetzen liebevoll eingerichtete und sichere Kinderzimmer nicht die beständige Präsenz und Verfügbarkeit der Eltern. Bindung an mindestens eine erwachsene Person ist auch heute noch überlebenswichtig.
Erst wenn das Kind sich sicher fühlt, kann es beginnen, die Umwelt zu entdecken und selbstständiger zu werden.
Die Bindungssignale des Säuglings sorgen dafür, die physiologischen Bedürfnisse nach Nahrung, Körperpflege und Schutz vor Kälte oder Hitze ebenso wie die emotionalen Grundbedürfnisse des Babys zu stillen. Gleichzeitig dient die Bindung dem Schutz vor Gefahren, die aus der Umwelt kommen. Kinder lernen auf diesem Weg, ihrerseits Gefahren zu erkennen und sich zunehmend selbst zu schützen. Denn egal, welcher »Gefahr« man gegenübersteht – Raubtieren, unübersichtlichem Autoverkehr, neuen Situationen oder fremden Personen –, um weder zu ängstlich noch zu vertrauensvoll zu handeln, müssen wir uns auf unsere Erfahrungen, unser Wissen, aber insbesondere auch auf unsere Gefühle verlassen können.
Gefühle wie Angst, Neugier, Ärger, Trauer oder Freude haben eine wichtige Signalfunktion, um Situationen besser einschätzen zu können und das Verhalten daran auszurichten. Die Fähigkeit, Gefühle zu verstehen und damit angemessen umzugehen, ist jedoch nicht angeboren, sondern muss erst gelernt werden. Die wichtigsten Grundlagen dafür werden in den ersten Lebensjahren gelegt: in der Bindungsbeziehung zu den Eltern.4
Wie Selbstwertgefühl, Vertrauen und Autonomie entstehen
Wenn Babys auf die Welt kommen, können sie ihre Bedürfnisse noch nicht selbst erfüllen. Neben Nahrung, Körperpflege und Schutz brauchen Babys vor allem den Kontakt zu vertrauten Menschen, die sie im Umgang mit ihren Gefühlen unterstützen.
Um die Erfüllung dieser Grundbedürfnisse zu sichern, sind Babys von Geburt an mit einem gewissen Repertoire an angeborenen Verhaltensweisen ausgestattet. Sie helfen ihnen, mit ihren Eltern in Kontakt zu treten und ihnen zu signalisieren, dass sie ihre Nähe und Unterstützung brauchen. Hierzu gehören beispielsweise schreien und weinen, etwas später auch anklammern, hinterherkrabbeln oder -laufen, die Suche nach Aufmerksamkeit und Blickkontakt durch Lächeln und Brabbeln. Eltern verstehen viele dieser Signale intuitiv und reagieren darauf instinktiv mit Fürsorgeverhalten: Sie nehmen das Baby hoch und trösten es, wenn es schreit, sie erwidern das Lächeln des Babys und halten den Blickkontakt.5
Durch diesen beständigen emotionalen Austausch entsteht im Verlauf der ersten Lebensmonate allmählich die Bindung zwischen Eltern und Kind.6 Für das Kind ist diese Entwicklung existenziell: denn erst dadurch, dass es von seinen Eltern mit seinen Bedürfnissen wahrgenommen wird, fängt es an, sich selbst zu spüren, und lernt differenzierter wahrzunehmen und auszudrücken, was es braucht.
Die eigenen Gefühle zu verstehen, muss ein Kind erst lernen – die Beziehung zu den Eltern ist der beste Ort dafür.
Zunächst vor allem durch Körperkontakt und die Stimme der Eltern und etwas später auch durch Blickkontakt lernt das Kind, sich im Zusammensein mit anderen selbst als eigenständige Person wahrzunehmen. Die Erfahrungen in den ersten Bindungsbeziehungen legen damit den Grundstein dafür, wie das Kind sich selbst zukünftig wahrnimmt und mit seinen Gedanken und Gefühlen umgeht. In der Tat hat vieles, was sich Eltern für ihr Kind wünschen – Selbstbewusstsein, Beziehungsfähigkeit, Belastbarkeit im Umgang mit Stress –, seinen Ursprung in den ersten Bindungserfahrungen.7
Dies bedeutet nicht, dass die ersten Bindungsbeziehungen das weitere Leben für immer vorherbestimmen – Veränderungen sind jederzeit möglich – aber die frühen Erfahrungen bilden das Fundament, auf dem Kinder ihr weiteres Leben aufbauen.8 Dabei sind es nicht einzelne Erlebnisse, die entscheidend sind, sondern die sich im Alltag mit dem Kind hundert- und tausendfach wiederholenden Momente: Jedes Mal, wenn die Eltern das Kind trösten oder ermutigen, jedes Mal, wenn sie ihm bei der Erkundung der Welt zur Seite stehen, entsteht im Kind ein kleines Stückchen mehr Vertrauen in die Bindungsbeziehung und damit auch in sich selbst.
GUT ZU WISSEN
Eine sichere Bindung entsteht dann, wenn es der Bindungsperson gelingt:
Bindung entsteht im täglichen Miteinander
Die Bindung zwischen Eltern und Kind entwickelt sich ganz von allein – einfach dadurch, dass die Eltern sich um ihr Baby kümmern und es versorgen. Alle Kinder entwickeln im Verlauf des ersten Lebensjahres eine Bindung an eine Bezugsperson oder auch an einige wenige Personen, die größer und stärker sind und die das Kind pflegen und versorgen.
In der Regel sind dies die Eltern, das ist aber nicht notwendigerweise so. Für die Bindungsentwicklung ist nicht die biologische Verwandtschaft entscheidend. Das Kind bindet sich an die Personen, die die meiste Zeit mit dem Kind verbringen und die sich am zuverlässigsten um seine emotionalen Bedürfnisse kümmern. Je öfter ein Kind im Kontakt die Sicherheit und den Schutz findet, nachdem es sucht, umso wahrscheinlicher ist es, dass es sich an diesen Menschen bindet. In der Regel wird also zur Hauptbindungsperson, wer das Kind die meiste Zeit versorgt (siehe Kapitel 2).
Bindung entsteht zu denjenigen, die am meisten Zeit mit dem Kind verbringen und es am zuverlässigsten versorgen – vor allem auch emotional.
Kinder binden sich aber auch an vernachlässigende oder sogar gewalttätige Eltern – das zeigt, wie existenziell wichtig es für das Kind ist, wenigstens eine Bindung einzugehen, selbst wenn diese die Bedürfnisse des Kindes nicht erfüllt.9 Zwar entwickeln alle Kinder eine Bindung an ihre Eltern, es gibt jedoch deutliche Unterschiede in der Qualität der Bindung. Diese spiegeln wider, wie gut die Kommunikation und der emotionale Austausch zwischen Eltern und Kind im Alltag funktionieren.
Wenn das Kind die Erfahrung macht, dass die Eltern versuchen, seine Bedürfnisse zu erkennen und zu erfüllen, und dass dies meistens auch gelingt, dann wird es aus dieser Sicherheit heraus lernen, seine Bedürfnisse immer klarer auszudrücken. Das wiederum erleichtert es den Eltern zu erkennen, was das Kind gerade braucht.
Erlebt ein Kind dagegen häufig, dass die Eltern sich abwenden, seine Bedürfnisse ignorieren oder nur sehr unzuverlässig darauf reagieren, dann ist es für das Kind sehr viel schwerer, dieses Vertrauen zu entwickeln. Es wird seine Bedürfnisse selbst weniger deutlich wahrnehmen und mit der Zeit immer weniger klar zum Ausdruck bringen. Die Kommunikation mit den Eltern – und in der Folge auch mit anderen Personen – wird dadurch zunehmend schwieriger.
Aus diesen sich wiederholenden Interaktionsmustern entwickelt das Kind im Verlauf der Zeit allmählich Erwartungen darüber, wie die Eltern in bestimmten Situationen reagieren. An diesen Erwartungen richtet das Kind immer mehr sein Verhalten aus. In der Tat finden sich schon mit einem Jahr deutliche Unterschiede darin, wie klar Kinder ihre Bedürfnisse zeigen – Unterschiede, die eindeutig nicht auf Temperament oder angeborene Persönlichkeitseigenschaften zurückzuführen sind, sondern auf die Erfahrungen der Kinder im Verlauf des ersten Lebensjahres10 (siehe Kapitel 2).
Eine sichere Bindung hängt also weniger von einzelnen, konkreten elterlichen Verhaltensweisen ab, sondern spiegelt vor allem wider, dass die Kommunikation zwischen Eltern und Kind gut funktioniert.
Bindung und Erkundung der Umwelt gehören zusammen
Um die Signale von Kindern richtig lesen zu können, ist es wichtig, ihre Bedürfnisse zu kennen. Eine der Hauptaussagen der Bindungstheorie ist, dass die Befriedigung von physiologischen Grundbedürfnissen nach Nahrung oder Schlaf alleine nicht ausreicht, sondern dass die Erfüllung von emotionalen Grundbedürfnissen für die Entwicklung des Kindes mindestens genauso wichtig ist. Dazu gehören einerseits die Bedürfnisse nach Bindung, Nähe und Schutz sowie andererseits nach Erkundung der Umwelt, Selbstständigkeit und Lernen. Beides, obwohl scheinbar so gegensätzlich, gehört untrennbar zusammen.
Die Bindungstheorie nimmt an, dass sich im Verlauf der Evolution verschiedene Verhaltenssysteme herausgebildet haben, deren Aufgabe es ist, die Erfüllung der wichtigsten physiologischen und emotionalen Grundbedürfnisse sicherzustellen. Das Bindungssystem und das Explorationssystem sind wie eine Wippe miteinander verbunden, das heißt, sie arbeiten abwechselnd und können nicht gleichzeitig aktiviert sein.12
Das Explorationssystem und das Bindungssystem des Kindes.
Abb. nach K. Grossmann, K. E. Grossmann (2012)11
Das Bindungssystem wird durch inneren oder äußeren Stress aktiviert, zum Beispiel durch Fremdheit, Hunger, Müdigkeit und alles, was Angst und Unwohlsein auslöst. Das Kind beginnt zu schreien, zu weinen oder sich anzuklammern. So versucht es, die Nähe der Bindungsperson zu sichern oder wiederherzustellen. Durch die Wahrnehmung der Bindungsperson und den liebevollen Kontakt mit ihr wird dieses System wieder deaktiviert.13
Bei sehr kleinen Kindern oder wenn das Bindungssystem stark aktiviert ist, braucht das Kind zur Beruhigung den Körperkontakt mit der Bindungsperson, es will sich an ihr festhalten und kuscheln. Bei älteren Kindern oder weniger beunruhigenden Situationen reicht häufig auch der Blickkontakt oder ein Zuruf.
Bindung und Selbstständigkeit sind keine Gegensätze, sondern gehören untrennbar zusammen.
Sobald das Kind sich wieder sicher fühlt, wird das Bindungssystem deaktiviert: Das Kind hört auf Nähe zu suchen und erkundet stattdessen seine Umwelt. Erkundungsverhalten bei kleinen Kindern setzt also voraus, dass die Bindungsperson anwesend ist oder dass das Kind genau weiß, wo sie sich befindet und wie sie zu erreichen ist. Erst durch diese Sicherheit kann sein Explorationsverhaltenssystem wieder wirksam werden und ihm ermöglichen, sich neugierig der Umgebung zuzuwenden, um Neues zu entdecken und Dinge auszuprobieren.
Bindung und Selbstständigkeit bilden also keine Gegensätze, sondern gehören untrennbar zusammen. Eine sichere Bindung fördert in jedem Alter auch die Unabhängigkeit, das Selbstvertrauen und damit das Lernen des Kindes.14
Keine Angst vor dem Verwöhnen!
Im Alltag wechseln Kinder also ständig zwischen dem Bedürfnis nach Bindung und Erkundung. Dabei sind sie sehr zuverlässig und deutlich in ihren Signalen, vorausgesetzt, man hindert sie nicht daran. Für viele Eltern kann es eine Herausforderung sein, den Signalen ihres Kindes als »richtig« zu vertrauen. So steht auch heute noch bei einigen Eltern die Angst im Vordergrund, ihr Kind zu sehr zu verwöhnen, wenn sie auf seine Bedürfnisse eingehen.
Das Bild der Wippe zeigt aber sehr deutlich: Es ist nicht möglich, Kinder zu verwöhnen, indem man auf ihre Bedürfnisse nach Nähe und Schutz eingeht. Sobald die Bindungsbedürfnisse eines Kindes erfüllt sind, schaltet das Kind sein Verhalten um – auf entdecken, lernen und selbstständig werden. Beide Seiten der Wippe zeigen gleichberechtigte, angeborene Grundbedürfnisse, die man Kindern nicht erst beibringen muss. Allerdings kann man dieses angeborene Verhalten Kindern auch nicht abgewöhnen – nicht einmal durch Zurückweisung oder Bestrafung.
Bindung und Erkundung sind Grundbedürfnisse, die die menschliche Natur ausmachen, und als solche sind sie tief im Organismus (im zentralen Nervensystem) verankert. Dagegen ist die Art und Weise, wie diese Bedürfnisse im kindlichen Verhalten zum Ausdruck kommen, stark von den Erfahrungen abhängig, die Kinder in ihren Bindungsbeziehungen machen. Ob Kinder zum Beispiel gelernt haben, dass sie mit all ihren Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen gesehen, akzeptiert und geliebt werden.
Je besser es Eltern gelingt, beide Seiten im Verhalten des Kindes zu sehen und ausgewogen darauf zu reagieren, desto eher führt dies zu einer natürlichen alters- und situationsangemessenen Balance zwischen dem Wunsch nach Nähe und nach Selbstständigkeit. Und diese Balance ist nicht nur das wichtigste Kennzeichen einer sicheren Bindung, sondern auch die Grundlage für die Entwicklung von psychischer Flexibilität und Ausgewogenheit. Natürlich ist es jenseits der Säuglingszeit auch wichtig, Kindern in bestimmten Situationen angemessene Grenzen aufzuzeigen (siehe dazu Kapitel 3 und 4). Grenzen sollten jedoch nicht gesetzt werden, solange das Bindungsverhaltenssystem eines Kindes aktiviert ist und es nach Nähe und Schutz sucht.
Ein Kind, das ausreichend beruhigt und getröstet ist, macht sich von ganz allein wieder auf Entdeckungsreise.
Die Eltern als sichere Basis und sicherer Hafen
Je nachdem, ob das Bindungs- oder das Explorationssystem eines Kindes gerade aktiviert ist, richtet es seine Aufmerksamkeit also entweder auf die Bindungsperson oder auf die Umwelt. Dies lässt sich gerade bei kleinen Kindern im Verhalten deutlich beobachten. Aufgabe der Eltern ist es dabei, den kindlichen Bedürfnissen soweit wie möglich zu folgen, bei Bedarf aber auch die Führung zu übernehmen – insbesondere dann, wenn Gefahr oder Überforderung droht.
Sicherheit entsteht in den kleinen Momenten
Häufig gelingt diese Balance zwischen Bindung und Erkundung im Alltag automatisch, ohne dass wir es überhaupt bewusst wahrnehmen oder viel darüber nachdenken müssen. So zum Beispiel dann, wenn ein Kind ganz ins Spiel vertieft ist, jedoch plötzlich aufspringt, zu seiner Mutter krabbelt oder läuft, sich kurz ankuschelt und dann wieder weiterspielt. Oder dann, wenn ein Kind bei einem unbekannten Geräusch erschrickt und den Blickkontakt der Eltern sucht, bevor es sich weiter der Erkundung seiner Umwelt widmet. Ebenso, wenn ein Kind hinfällt, weint, vom Vater auf den Arm genommen und getröstet wird, um sich kurze Zeit später wieder aus seinen Armen zu lösen und weiterrennt, als wäre nichts geschehen. Oder wenn es kurz zögert, zu den Eltern schaut, bevor es sich traut, die große Rutsche hinunterzurutschen. Wir können es auch beobachten, wenn sich ein Kind beim Bringen in den Kindergarten nochmal kurz umschaut, bevor es mit anderen Kindern zu spielen beginnt.
Es sind diese kleinen, unscheinbaren Alltagssituationen, in denen sich die Bindungssicherheit langsam und fast unbemerkt entwickelt und vertieft, und aus denen sich durch die ständige Wiederholung im Alltag Sicherheit und Vertrauen entwickelt.
Auf Kommunikationsprobleme aufmerksam werden
Die immense Bedeutung dieser kleinen, sich ständig wiederholenden Erfahrungen wird besonders deutlich, wenn man sich vor Augen hält, was passiert, wenn die Kommunikation zwischen Eltern und Kindern in diesen Situationen nicht funktioniert. Wenn also Eltern die Bedürfnisse ihrer Kinder in solchen Situationen dauerhaft nicht beachten, falsch einschätzen oder unangemessen darauf reagieren. Zum Beispiel: Wenn ein Kind hinfällt – und nicht getröstet, sondern geschimpft wird. Wenn ein Kind erschrickt und verunsichert ist – und die Eltern ihm zu verstehen geben, es soll sich nicht so anstellen. Wenn sich das Kind beim Abschied nochmal kurz nach der Mutter umschaut – und nicht beachtet wird. Wenn das Schokoladeneis auf dem Fußweg landet – und das Kind zu hören bekommt, es sei selbst schuld. Wenn das Kind kurz auf den Schoß möchte – und vom Vater zurückgewiesen wird, weil es doch kein Baby mehr ist. Wenn das Kind weint, weil ein anderes Kind ihm sein neues Spielzeug weggenommen hat, – und gesagt bekommt, es solle nicht selbstsüchtig sein und gefälligst sein Spielzeug mit anderen teilen.
Für sich genommen führt keine dieser Situationen zu einer unsicheren Bindung beim Kind. Alle Eltern kennen vielmehr solche Situationen, in denen sie die Bedürfnisse der Kinder verpassen oder sogar dagegen arbeiten. Das passiert ausnahmslos allen Eltern – auch Eltern von sicher gebundenen Kindern. Und solange solche Missverständnisse nicht zum dauerhaften Muster in der Beziehung werden, sind sie auch nicht schlimm oder schädlich.
Konflikte und Missverständnisse haben eine Signalfunktion.
Viel wichtiger, als solche Situationen um jeden Preis zu vermeiden, ist es deshalb, sich bewusst zu machen, dass sie eine wichtige Signal- oder Alarmfunktion haben. Sie zeigen uns, dass gerade etwas in der Beziehung zum Kind schiefläuft. Erst wenn wir bereit sind zu erkennen, dass gerade ein Missverständnis entsteht oder dass wichtige Bedürfnisse nicht gesehen oder falsch interpretiert werden, ist es möglich, das eigene Verhalten bewusst zu verändern, um das Gleichgewicht in der Beziehung und damit die Sicherheit beim Kind, wiederherzustellen.
Wenn Eltern bemerken, dass sie mit ihrem Verhalten beim Kind (immer wieder) auf massive Widerstände stoßen, sollten sie dies als Chance nutzen. Dann ist es an der Zeit zu überlegen, welche Bedürfnisse sie in dieser Situation möglicherweise übersehen, anstatt ihre Bemühungen zu verstärken, mit dem immer gleichen Verhalten eine Veränderung beim Kind zu erreichen (zum Beispiel dem Kind seine Unachtsamkeit immer wieder vorzuwerfen und damit seine Gefühle in dieser Situation nicht ernst zu nehmen). Denn die Fähigkeit, solche Situationen zu erkennen, den negativen Kreislauf zu stoppen, und zurück zur Sicherheit zu finden, ist ein genau so wichtiger Bestandteil einer sicheren Bindung, wie die Situationen, in denen sich die Sicherheit automatisch einstellt.
Der Kreis der Sicherheit
Im Alltag kommt es aus den verschiedensten Gründen immer wieder dazu, dass Eltern die Bedürfnisse ihrer Kinder nicht sehen, falsch verstehen oder gerade nicht darauf reagieren können. Damit solche kleinen Brüche in der Kommunikation nicht zum vorherrschenden Muster in der Beziehung werden, ist es für alle Eltern hilfreich, eine Art Landkarte zu haben, an der sie sich bei Bedarf orientieren können. Neben der im vorangegangenen Abschnitt vorgestellten Wippe erfüllt diese Aufgabe vor allem der von den Bindungsforschern Cooper, Hoffman, Marvin und Powell entwickelte »Kreis der Sicherheit«, in dem die Beziehungsdynamik einer sicheren Bindung grafisch dargestellt wird (siehe Kapitel 3).15
Der Kreis der Sicherheit
Die Bindungsperson ist die sichere Basis für das Kind, wenn es die Umwelt erkundet (obere Kreishälfte) und der sichere Hafen, wenn es überfordert ist und Hilfe braucht (untere Kreishälfte).
Abb. nach G. Cooper, K. Hoffmann, R. Marvin, B. Powell (2000)16
Um eine sichere Bindung zu entwickeln, brauchen Kinder drei Dinge:
Für Eltern ist es wichtig, sich immer wieder zu fragen, was gerade im Moment das Bedürfnis des Kindes ist. Ist sein Bindungssystem aktiviert, dann braucht es Nähe, Trost, Schutz und Unterstützung bei der Bewältigung seiner Gefühle. Solange das Bindungsverhaltenssystem aktiviert ist, wird das Kind sich aktiv gegen (gut gemeinte) Angebote wehren, deren Ziel es ist, das Kind zur Selbstständigkeit und Erkundung zu ermutigen.
Ist dagegen das Explorationsverhaltenssystem des Kindes aktiviert, möchte das Kind »alleine« die Welt entdecken. Das Kind möchte nun Aufgaben und Herausforderung auf seine eigene Art und Weise bewältigen – auch wenn dies manchmal nicht sofort zum Erfolg führt. Ein aktives (wenn auch gut gemeintes) Eingreifen der Eltern in seine Aktivitäten wird es als Einschränkung seiner Autonomie erleben und sich dagegen wehren.
Die unterstützende Präsenz der Eltern und bei Bedarf den emotionalen Austausch mit ihnen brauchen Kinder jedoch nicht nur, wenn ihr Bindungsverhaltenssystem aktiviert ist, sondern auch beim Erkunden und Erforschen der Umwelt.17
In den folgenden Kapiteln werden wir darstellen, wie sich das Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen nach Schutz und Nähe sowie nach Selbstständigkeit und Unabhängigkeit in jedem Alter anders darstellt – auch in Abhängigkeit von der Persönlichkeit und der Situation. Der grundlegende Mechanismus bleibt jedoch immer der gleiche: Jedes Mal, wenn Eltern und Kind diesen Kreis der Sicherheit durchlaufen, entsteht beim Kind ein Stück Sicherheit und Vertrauen in sich selbst und in die Beziehung.
Die Unabhängigkeit eines Kindes sollte nie vorrangiges Entwicklungsziel sein. Es geht immer um die richtige Balance zwischen Selbstständigkeit und Verbundenheit.
Auch Eltern brauchen Sicherheit
Der Kreis der Sicherheit gilt auch für Erwachsene. Menschen jeden Alters geht es besser, wenn sie jemanden an ihrer Seite haben, den sie als sichere Basis und sicheren Hafen empfinden. Gerade für Eltern ist dies jedoch besonders wichtig: Kinder brauchen über Jahre hinweg sehr viel Zeit und Aufmerksamkeit. In vielen Situationen müssen Eltern vorübergehend ihre eigenen Bedürfnisse hinten anstellen und zunächst für das Kind sorgen. Die Gefühle und Bedürfnisse der Kinder wahrzunehmen, zu akzeptieren und zu befriedigen konfrontiert uns dabei gleichzeitig auch mit unseren Bedürfnissen und damit, wie wir gelernt haben, mit ihnen umzugehen. Und natürlich sind wir in vielen Situationen unsicher, was jetzt gerade das Richtige ist. Dazu kommen Schlafmangel und andere Aufgaben wie Beruf oder Haushalt, die häufig mit der Sorge um die Kinder in Konflikt geraten. Oder es gibt eigene Interessen, die vielleicht phasenweise oder dauerhaft zu kurz kommen.
Eltern zu sein führt also unweigerlich auch immer wieder zu Belastungssituationen, in denen das eigene Bindungsverhaltenssystem aktiviert wird, und in denen Eltern Unterstützung brauchen. Für Eltern kann es also sehr hilfreich sein, sich in belastenden Situationen immer wieder selbst zu fragen: »Wo auf dem Kreis der Sicherheit befinde ich mich gerade? Was brauche ich, um mich sicher zu fühlen?« Denn um zuverlässig für Kinder da sein zu können ist es für Eltern wichtig, dafür zu sorgen, dass auch sie die nötige Unterstützung bekommen, um sich sicher zu fühlen. Häufig kommt die Unterstützung vom Partner oder der Partnerin, aber auch die eigenen Eltern, gute Freunde, Verwandte oder auch eine professionelle Begleitung durch einen Psychotherapeuten können zur sicheren Basis werden (siehe auch Kapitel 5 und 6).
Immer unabhängig und stark zu sein, kann auch für Eltern kein Ziel sein. Denn dies führt nicht zu der Sicherheit, aus der heraus man gut für Kinder sorgen kann.