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Draußen wurde es Tag. Aber die kleinen Fensterscheiben waren dick vereist und ließen so wenig von der heraufdämmernden Helle ein, dass ich die Kerosinlampe brennen ließ. Das Feuer im Ofen war erloschen; trotzdem ging von dem weiß verputzten Koloss noch ein Hauch von Wärme aus. Links im Nebenraum schliefen die Melder auf ihrem Strohlager, über das sie Zeltbahnen und Decken gebreitet hatten. In der winzigen Kammer zur Rechten – der Türausschnitt war mit einer Zeltbahn verhängt – befand sich das ähnlich beschaffene Lager des Kommandeurs. Ich hatte damals, Ende November, als wir in Pawlowskaja Quartier bezogen, ein Bett für ihn besorgt. Aber Oberst Metzelbrod hatte das Bett ins Schulhaus bringen lassen, wo die Sanitätsabteilung der Division den Hauptverbandsplatz eingerichtet hatte. Ich selbst hatte meinen Schlafplatz auf der Ofenbank, denn oftmals kamen nachts Anrufe oder Melder waren abzufertigen, und ein Regimentsadjutant muss stets zur Stelle sein.
Die Morgenmeldung für die Division war fertig gestellt; bald war es Zeit, sie durchzugehen. Eine ähnlich ruhige Nacht wie die vergangene hatte es lange nicht gegeben. Ich schrieb dies der Kälte zu, die seit einigen Tagen ausgesprochen sibirisch war. Sogar das übliche Störungsfeuer der russischen Batterie, die jede Nacht die Stellung wechselte, war ausgeblieben. Auch die eigene Artillerie hatte diese Nacht geschwiegen.
Ich stand auf und ging zur Haustür, um nach dem Thermometer zu sehen, das draußen am Türstock angebracht war. Als ich die Tür öffnete, sprang die Kälte mich förmlich an. Das Quecksilber war auf minus 36 Grad gesunken. Der bleiche Winterhimmel war wolkenfrei; die Sterne waren schon verglüht. Der Schnee, der, wo er nicht niedergetreten oder geräumt war, bis an die Fenstersimse reichte und in dicken Hauben auf den Strohdächern lag, hatte eine schattenhaft bläuliche Färbung angenommen. Pulverschnee. Aber wir waren nicht zum Skilaufen in Pawlowskaja. Hinter dem weißen Horizont schob sich riesenhaft der blutrote Sonnenball hoch. Rosiger Schimmer breitete sich über den Schnee.
Nach Osten und Norden zu gab es nur wenige kleine Waldstücke. Im Westen dagegen zogen sich Eichenwälder, die freilich bis auf spärliche rostbraune Blätterreste entlaubt waren, bis zum Donez hinunter. Das Land war hügelig, von einzelnen Balkas, tiefen Schluchten, durchschnitten. Unser Dorf war in eine weite, pfannenähnliche Mulde gebettet. Die Hauptkampflinie zog sich am überhöhten diesseitigen Donez-Ufer entlang. Der Fluss unter seiner meterdicken Eisdecke war in russischer Hand, das heißt, er war eigentlich Niemandsland, nur gelegentlich von Späh- oder Stoßtrupps betreten.
Das Dorf ruhte wie ausgestorben in der Winteröde. Aus einigen Kaminen stieg Qualm in die frostige Luft. Die russischen Bewohner hatten Pawlowskaja verlassen. Zwei oder drei Häuser waren durch Volltreffer zerstört.
Ich stand noch immer vor der Tür und fühlte, wie mir Gesicht und Hände erstarrten. Ich wusste, es war töricht, so ohne Mantel in der grimmigen Kälte zu stehen, aber ich blieb und lauschte angespannt. Etwas war außer der Reihe an diesem Januarmorgen, und mir war, als müsste ich ergründen, was es sein mochte. Vielleicht irritierte mich die vollkommene, fast verwunschene Stille so sehr.
Plötzlich regte sich etwas, ein fernes, grollendes Rumpeln, es schwoll sekundenschnell an, hundertfältig, drohend und elementar, wie das düstere Murren eines aufziehenden Gewitters. Aber es war kein Gewitter. Abschüsse und Einschläge verschmolzen zu einem schauerlich brüllenden Getöse. Und die schneebedeckte Erde bebte unter meinen Füßen.
Ich riss die Tür auf und stürzte ins Haus. Oberst Metzelbrod stand am Tisch, in Socken, das graue Haar zerzaust, wie er aus dem Schlaf aufgefahren war. Erst jetzt setzte er die horngefasste Brille auf, die ihm das Aussehen eines weltkundigen, hoch gebildeten Mannes verlieh, was er im Übrigen in jeder Lebensäußerung war. Sein Blick traf mit meinem zusammen.
»Hören Sie sich das an, Emser!«, sagte er.
Seine Stimme klang heiser, wie verrostet. So erregt hatte ich ihn nie gesehen, nicht einmal damals, südlich Emilowka, als das Regiment in Gefahr war, überrannt zu werden.
»Ein Feuerschlag«, bemerkte ich, nur um etwas zu sagen, obgleich es gewiss nicht übermäßig geistreich war. »Vielleicht kommt er mit einem verstärkten Stoßtrupp, Herr Oberst«, setzte ich hinzu. »Er« – das war »der Russe« auf der anderen Seite der Front.
»Stoßtrupp?« Der Oberst schüttelte den Kopf. »Stoßarmee, Emser! Für einen Stoßtrupp verpulvert man auch drüben nicht so viel Munition!«
Ich gab ihm im Stillen Recht und fragte, ob ich Verbindung mit dem Ia herstellen sollte.
»Lassen Sie nur«, meinte er, »ich denke, in Slawiansk klirren die Fensterscheiben zur Genüge. Sogar in Kramatorskaja beim AOK werden sie das hören!«
Aus dem Nebenraum tauchten die beiden Obergefreiten Janke und Kerst auf. Als sie den Kommandeur erblickten, nahmen sie Haltung an. Oberst Metzelbrod winkte ab. Er hatte immer nur einen Blick für das Wesentliche; das Herz eines Mannes war ihm wichtiger als ein eingedrillter Gruß.
Ich wies auf die Morgenmeldung. Der Oberst blickte auf seine Armbanduhr. »Seit 7 Uhr 30 im Einzelnen wie im Ganzen überholt«, sagte er.
Er hatte Recht, denn was seit wenigen Minuten an unserer Hauptkampflinie vorgehen mochte, war für die, die es auszukosten hatten, wie Weltuntergang und Inferno. »Verluste: keine«, hatte ich vor kurzem auf die Meldung geschrieben. Auch dies war jetzt überholt. Es gab in unserem Abschnitt nichts, was dem unvermindert rollenden Trommelfeuer standhalten konnte, keine sicheren Bunker, keine Unterstände, nichts. Als die Kompanien Ende November in die Stellung einrückten, war die Erde schon beinhart gefroren gewesen. Nur ein paar kurze Grabenstücke am Rand der Ortsunterkünfte hatte man mit vieler Mühe ausgehoben. Das war alles und so gut wie nichts.
Im Fernsprecher I – vier Apparate standen auf dem Tisch – schrillte das Läutwerk. Ich hob ab. Major Knappe, der Kommandeur des ersten Bataillons, sprach am anderen Ende der Leitung. Die Kompanien lägen in schwerem Feuer, sagte er, sie meldeten starke Bewegung auf dem Donez-Eis, auch Panzer. Er habe Sperrfeuer angefordert. Der Hauptstoß allerdings richtete sich augenscheinlich nach Südwesten gegen den linken Nachbarn.
Ich gab die Meldung an den Kommandeur weiter und reichte ihm den Hörer. Er fragte nach Einzelheiten, aber auf einmal war die Stimme im Hörer weg. Die Leitung war tot, offenbar zerschossen. Ich rief die Vermittlung an, ließ mir den Führer des Nachrichtenzuges geben und befahl ihm, Störungssucher in Marsch zu setzen. Die Verbindungen mussten intakt sein.
Der Oberst hatte am Tisch Platz genommen. Seine grauen Augen blickten durch die runden Gläser auf die Karte. Mit Kohle waren unsere Standorte und Stellungen eingezeichnet. Es gab breite Lücken dazwischen; eine zusammenhängende Linie hätten wir mit den vorhandenen Kräften nicht besetzen können. Bei dem herrschenden Frost wäre dies ohnehin undenkbar gewesen. Wir waren auf die Ortschaften angewiesen, denn es gab keine Winterbekleidung, nicht einmal Filzstiefel für die Gefechtsvorposten und Feldwachen. Die Russen waren erheblich besser und zweckmäßiger ausgerüstet; sie besaßen wattierte oder pelzgefütterte Uniformen, dichte, filzige Mäntel, Pelzkappen und vor allem geeignetes Schuhwerk. Wir hatten uns, so gut es ging, selbst geholfen. Aus Bettzeug hatten wir Schneehemden herstellen lassen, und die Stahlhelme waren weiß gestrichen, aber das war kein Kälteschutz.
Die mangelhafte Bekleidung allein war es freilich nicht, was mich jetzt, wo die Rote Armee offensichtlich zum Großangriff antrat, bedenklich stimmte. Beim Armeeoberkommando hatte man zwar den Angriff erwartet, aber weiter im Süden, bei Artemowsk oder ostwärts Stalino bei der italienischen Division »Celere«. Oberst Metzelbrod dagegen hatte die Linie am nördlichen Donez zwischen Isjum und Liman stets für besonders gefährdet gehalten. Er hatte immer wieder Draht zur Sicherung unserer Stützpunkte, mehr Artillerie, schwere Flak zur Panzerbekämpfung und eine wirksame Reserve aus Panzern oder Sturmgeschützen angefordert. Aber woher nehmen? Der Papierkrieg der vergangenen Wochen war höchst unerfreulich und aufreibend gewesen, und Oberst Metzelbrod hatte sich in den höheren Regionen manchen Feind geschaffen.
Mittlerweile hatten sich auch das zweite und dritte Bataillon gemeldet. Auch dort beobachtete man im Schutz der russischen Feuerglocke übers Eis vorgehende feindliche Kräfte. Die siebente Kompanie hatte bereits einen Angriff in Kompaniestärke abgewiesen. Die Verluste, die das Trommelfeuer verursachte, das jetzt nach und nach das ganze Hauptkampffeld erfasste, waren nicht so hoch, wie ich insgeheim befürchtet hatte. Aber wir standen ja erst am Anfang, und zunächst gab es noch kein klares Bild.
In unser Dorf krachten die ersten Einschläge. Ein Splitter fegte durch die Tür und blieb im Lehmfußboden stecken. Schon vernahm man das Prasseln von stürzendem Gemäuer und Rufe nach den Sanitätern. Die Häuser – einstöckige Katen – waren Lehmbauten; sie schützten gegen die Kälte, aber nicht gegen Granaten.
Ich holte für alle Fälle die Stiefel des Kommandeurs aus der Kammer. Als er sie gerade an den Beinen hatte, rief Oberstleutnant Soltern an, der Ia der Division. Oberst Metzelbrod erklärte ihm die Lage, so weit sie uns selbst bekannt war. Seine Auffassung war, die feindlichen Verbände seien auf Durchbruch und Einkesselung aus. Soltern schien diese Meinung zu teilen. Der Oberst gab mir den Hörer, und ich notierte die Befehle der Division. Major Knappe sollte demnach unter allen Umständen die abgerissene Verbindung zum linken Nachbarn wieder aufnehmen.
Eine Stunde später wussten wir, dass der linke Nachbar unter starkem Feinddruck nach Südwesten zurückging, dass also die Front an dieser Stelle bereits nachgab. Unsere linke Flanke war somit offen. Major Knappe, der Kommandeur des ersten Bataillons, meldete, er habe die erste Kompanie zurückgenommen und baue mit ihr eine Flankensicherung auf, um der drohenden Umfassung zu begegnen.
Der Kommandeur war währenddessen im Schlitten nach vorn gefahren. Der Melder Janke begleitete ihn.
Solche Frontfahrten oder -gänge gehörten zu den Eigenheiten von Oberst Metzelbrod. Er unternahm sie nicht, um »nach dem Rechten zu sehen« oder jemanden bei einem Versäumnis zu ertappen. Es war bei ihm das Bestreben, die Verhältnisse persönlich in Augenschein zu nehmen, um danach die Lage zu beurteilen und seine Entschlüsse entsprechend zu fassen. Die Furchtlosigkeit, die er auf seinen Wegen zur Hauptkampflinie und gelegentlich bis zu den Gefechtsvorposten zur Schau trug, bereitete mir oftmals Sorge, und nicht nur mir, sondern auch den Bataillonskommandeuren und Kompaniechefs, die bei ihm waren. Im vergangenen Herbst, am Dnjepr, hatte der General ihn sogar einmal ermahnt, etwas weniger couragiert zu sein, da kein Überfluss an brauchbaren Regimentskommandeuren bestehe. Der Oberst hatte damals erwidert: »Herr General, mir geht es unter anderem darum, meinen Leuten zu zeigen, dass die Kugeln, die von drüben kommen, nicht nur für sie gegossen worden sind.«
Nun war er wieder unterwegs, und niemand konnte sagen, ob nicht gerade dort, wo er sich befand, ein Stoßkeil des angreifenden Feindes die dünne Front aufgerissen hatte.
Doch am Mittag kehrte Oberst Metzelbrod wohlbehalten zurück. Ich hatte tüchtig einheizen lassen, und drei Mann der Stabskompanie hatten mittlerweile im Lehmfußboden ein tiefes Deckungsloch ausgehoben.
Das Artilleriefeuer hatte nachgelassen, aber immer wieder kamen Feuerüberfälle, und Pawlowskaja wurde nicht verschont.
Oberst Metzelbrod war sehr erschöpft. Er hatte den ganzen Rückweg zu Fuß zurückgelegt. Im Schlitten hatte er Verwundete mitgebracht. Ich meldete ihm, der Ia habe mehrmals nach ihm gefragt, aber er nickte nur stumm und setzte sich an den Tisch, wo ich das Essen auftragen ließ. Später brachte Kerst Kaffee, und ich holte die Kognakflasche, die noch halb voll war.
Der Oberst zündete sich eine Zigarette an.
»Emser«, sagte er, »Emser, wir sind so weit. Man geht eben nicht ungestraft in Sommerschuhen nach Russland.«
»Geht man denn überhaupt, Herr Oberst?«, fragte ich. Ich vertraute ihm, und er schätzte die offene Rede, wie ja auch er selbst die Dinge mir gegenüber stets beim Namen nannte. »Musste man denn nach Russland gehen, Herr Oberst?«, fügte ich hinzu. Ich hatte mir diese Frage seit dem 22. Juni 1941 oft gestellt.
»Davon verstehen wir nichts«, meinte Oberst Metzelbrod, »Sie nicht und ich nicht. Das ist nicht unser Ressort. Ich führe das Regiment, und Sie sind mein Adjutant. Wir haben unseren Abschnitt zu halten, da wir nun einmal hier sind, und wir werden ihn halten, solange es menschenmöglich ist. So ist das, Emser!«
Wir kamen später noch einmal auf dieses Gespräch zurück, das heißt, ich warf meine Frage noch einmal auf, und Oberst Metzelbrod stellte die nahe liegende Gegenfrage, ob wir denn nach Hause gehen sollten …
An jenem Nachmittag aber hatten wir anderes zu tun, als grundsätzliche Probleme zu erörtern, denen wir ohnehin nicht beikommen konnten. Noch hatten die Bataillone, wiewohl sie zeitweilig in schwere Abwehrkämpfe verwickelt waren, kein Gelände aufgegeben. Man verteidigte die Unterkünfte, und die russischen Soldaten, von den Kommissaren angefeuert und vom Frost bedroht, wollten hinein. So war es. Dies war kein Krieg wie der im Sommer 40 in Frankreich; es war ein Wolfskrieg, aber es war nicht so, dass nur die anderen die Wölfe gewesen wären.
Es wurde sehr früh dunkel. Der Himmel hatte sich bedeckt. Sacht fing es an zu schneien. Im Dorf brannten zwei Häuser. Purpurner Schein rötete den Schnee und das Eis an den Fenstern.
Oberst Metzelbrod hatte soeben mit Major Knappe gesprochen. Die Störungssucher hatten die Leitung wieder in Ordnung gebracht; zwei Mann waren dabei gefallen. In die Abendmeldung hatte ich unter der Rubrik »eigene Verluste« 14 Tote und 47 Verwundete eintragen müssen. Diese Zahlen waren nicht einmal vollständig. Sie waren schlimm genug.
Die Hauptlast an diesem ersten Tag der Winterschlacht bei Isjum hatte unser linker Nachbar zu tragen gehabt. Dort hatte der Feind in Stärke von zwei Regimentern mit Panzerunterstützung angegriffen, wie man uns aus Slawiansk berichtete, und bis auf einige kleine Stützpunkte, die sich am frühen Nachmittag noch verteidigt hatten, war alles im Wanken. Der strenge Frost – wir hatten jetzt trotz der Wolkendecke nahezu 40 Grad – verschärfte die Lage erheblich. Denn die zurückfallenden Bataillone, denen der Feind mit Infanterie, Reitern und Panzern und nicht zuletzt auch mit seiner Artillerie auf den Fersen war, hatten in dem dünn besiedelten Gelände keine Möglichkeit, sich erneut festzusetzen, zumal es keine Auffangstellungen gab. Wie von Wölfen zersprengte Herden trieben sie durch die Winternacht, und Feuerschein im Westen zeigte uns, dass auch das Schicksal der Stützpunkte, die wie Inseln in der vernichtenden Flut tapfer standgehalten hatten, besiegelt war.
Bei den höheren Stäben – der Division, dem Korps und der Armee – betrachtete man die Lage ohne Optimismus. Zwar hatte man einiges aus dem Abschnitt des Nachbarkorps herausgezogen und nach der Durchbruchstelle in Marsch gesetzt, und von Süden, aus der Gegend von Taganrog, hatte man eine Jägerdivision abgerufen, die im Dezember, als Rostow nach kurzer Besetzung hatte aufgegeben werden müssen, an die 1. Panzerarmee überstellt worden war. Aber trotzdem verkannte die Armeeführung nicht, dass der Bestand der 17. Armee und der benachbarten 1. Panzerarmee ernsthaft gefährdet sei, wenn es nicht gelänge, den Vormarsch der Russen zum Stehen zu bringen. Das große Armeeverpflegungslager in Barwenkowo war bereits bedroht, und die Bahnlinie von Lossowaja nach dem nördlichen Donezgebiet war nicht mehr benützbar. Unserem Regiment fiel, wie der General selbst dem Oberst zu verstehen gegeben hatte, die Aufgabe zu, die Durchbruchstelle im Osten abzuriegeln und die Stellung am Donez um jeden Preis zu halten. Es war ein Himmelfahrtskommando für uns alle …
Über die Karte gebeugt, erklärte Oberst Metzelbrod mir die Lage, wie der Ia sie ihm verdeutlicht hatte.
»Das AOK bricht von Kramatorskaja nach Gorlowka aus«, bemerkte er, nachdem er einige Berichtigungen auf der Karte vorgenommen hatte.
Nun, wenn das Armeeoberkommando nach Süden und nicht nach Westen verlegte, sagte ich mir, bedeutete das immerhin, dass einige Aussicht bestand, am Donez zu bleiben.
»Heute Nacht kommt eine Schlittenkolonne aus Slawiansk«, fuhr der Kommandeur fort. »Man schickt uns Verpflegung und Munition. Beides können wir gebrauchen, denn die nächsten Tage werden nichts Gutes bringen.«
Ich gab ihm Recht, und dann bat ich ihn, sich hinzulegen.
»Ich werde Herrn Oberst schon wecken, wenn etwas quer geht«, versicherte ich. Er war ja nicht mehr 20. In seinem Alter brauchte man den Schlaf. Er brummte etwas und zog sich in seine Kammer zurück.
Ich war allein. Auch die Melder hatte ich zur Ruhe geschickt. Die Brände im Dorf waren erloschen. Ein Blick vor die Tür zeigte mir, dass der Schnee jetzt dichter fiel. Ich fand, es war erheblich kälter als am Morgen. Vielleicht kam das daher, dass jetzt ein heftiger, böiger Wind aus Nordosten wehte.
In dieser Nacht wird sogar dem Russen die Lust vergehen, sagte ich mir.
Aber bald zeigte es sich, wie sehr ich mich täuschte. Um neun Uhr rief Major Knappe an. Nach vorübergehender Ruhe griff der Feind erneut aus drei Richtungen an. Auch die Bataillone Merz und Hartung meldeten wenig später neue Angriffe, und das Artilleriefeuer lebte wieder auf. Vor allem Goroditsche im Abschnitt Hartung war als vorgeschobenster Stützpunkt Schauplatz eines wechselvollen, durch Stunden sich hinziehenden Gefechts. Kompaniechef in Goroditsche war Oberleutnant Metzelbrod, der jüngste Oberleutnant des Regiments. Am Weihnachtsabend – noch keine vier Wochen lag es zurück – hatten wir in Pawlowskaja seine Beförderung gefeiert. Um elf Uhr war damals ein Anruf vom Bataillonsgefechtsstand gekommen, der Oberleutnant solle unverzüglich zu seiner Kompanie zurückkehren. Ein russischer Stoßtrupp war als üble Weihnachtsüberraschung vor Goroditsche aufgetaucht und hatte zwei Häuser besetzt. Oberleutnant Metzelbrod war der letzte Sohn des Kommandeurs. Sein jüngerer Bruder Klaus war im Juni 40 an der Aisne gefallen.
Um Mitternacht kam vom Gefechtsstand Hartung die Meldung, dass Goroditsche eingeschlossen sei, aber die Gegenstoßreserve des Bataillons sei angetreten, um die Verbindung wiederherzustellen. Ich überlegte, ob ich den Kommandeur wecken sollte. Aber ich unterließ es. Es wird noch genügend Nächte ohne Schlaf geben, sagte ich mir. Was hätte er auch von Pawlowskaja aus tun können? Im Übrigen vermied er geradezu ängstlich alles, was danach aussehen konnte, sein Sohn habe eine bevorzugte Stellung im Regiment. Gegen drei Uhr morgens kam zudem die beruhigende Meldung, die Lage um Goroditsche sei bereinigt.
Was wird der Morgen bringen? fragte ich mich und legte mich, nachdem ich den Obergefreiten Janke als Telefonwache bestimmt hatte, zu kurzer Ruhe auf die Ofenbank.
Um fünf Uhr weckte mich Janke.
In der Stube erblickte ich im kargen Schein der niedrig geschraubten Kerosinlampe eine Gestalt in Schneehemd und weiß gestrichenem Stahlhelm. Augenbrauen und Schnurrbart des Mannes waren vereist, und sein Gesicht hatte die Farbe einer reifen Tomate. Ich stand auf, und er meldete:
»Feldwebel Strobel mit 16 Schlitten und 43 Mann zur Stelle.«
Es war der Führer der angekündigten Versorgungskolonne.
»16 Schlitten?«, sagte ich verwundert, »Oberstleutnant Soltern sprach von 24.«
»Stimmt, Herr Leutnant«, entgegnete der Feldwebel, »es waren auch 24. Acht Schlitten sind mit Ladung und Pferden beim Russen. Sieben Mann sind gefallen. Ich habe sie bis auf zwei mitgebracht. Auch fünf Verwundete.«
»Was reden Sie da, Feldwebel«, fiel ich ihm ins Wort. »Sind Sie denn unterwegs angegriffen worden?«
»Jawohl, Herr Leutnant«, gab der Feldwebel zu, »auf einmal krachten Handgranaten, dann war der Iwan auch schon über uns. Sie müssen uns regelrecht aufgelauert haben. Wir schossen uns frei und schlugen sie zurück. Ich schätze, sie hatten größere Verluste als wir. Aber es war zu dunkel, und es schneite zu heftig, als dass wir Genaues hätten ausmachen können. Außer meinem Pionierzug hatte ich nur Trossleute. Sie haben sich gut geschlagen.«
Ich ging in die Kammer, um den Kommandeur zu rufen. Im Nu war Oberst Metzelbrod wach.
»Was gibt’s, Emser?«, fragte er, indem er sich aufrichtete.
»Auf der Straße nach Slawiansk steht der Russe«, sagte ich. »Soeben meldete es mir der Feldwebel, der die Munitions- und Verpflegungskolonne geführt hat. Acht Schlitten sind verloren, sieben Mann sind gefallen, fünf verwundet.«
Der Kommandeur zog die Stiefel über, knöpfte die Feldbluse zu, strich sich übers Haar und ging vor mir her in den Gefechtsstand.
Der Feldwebel nahm Haltung an. Von seinen Augenbrauen und den Enden seines Schnurrbarts tropfte das tauende Eis. Er wiederholte, was er mir bereits berichtet hatte, und machte an Hand der Karte nähere Angaben über den Ort des Überfalls.
»Emser«, bemerkte Oberst Metzelbrod, »dort ist doch das kleine Nest, wo die Baupioniere liegen. Verbinden Sie mich mit dem Kompanieführer!«
Ich rief die Vermittlung an und gab den Decknamen der Baupioniere. Sie hatten die Aufgabe, die Nachschubstraße für Fahrzeuge und Schlitten passierbar zu halten.
»Dringend!«, betonte ich, und der Mann in der Fernsprechvermittlung versprach, sein Bestes zu tun. Es dauerte eine Weile, dann hieß es:
»Spitzhacke meldet sich nicht.«
»Gehen Sie zur Stabskompanie«, befahl der Oberst. »Oberleutnant von Eisen soll erkunden, was mit den Baupionieren los ist!«
Ich ging ins Nebenhaus, weckte Eisen und setzte ihm auseinander, um was es sich handelte.
Er stand auf, nahm Stahlhelm, Mantel und Maschinenpistole und schickte sich an, die Leute zu alarmieren, die er mitnehmen wollte.
»Hals- und Beinbruch, Herr von Eisen!«, sagte ich und kehrte durchs Schneetreiben zum Gefechtsstand zurück.
Der Feldwebel war nicht mehr anwesend.
»Er kümmert sich um seine Männer«, sagte der Oberst.
Dann ließ er sich mit dem Divisionsstab verbinden und machte dem ersten Ordonnanzoffizier, O1 genannt, Mitteilung von der neuen Lage.
»Wie es jetzt steht«, setzte er hinzu, »muss ich in Kürze mit einem Angriff auf Pawlowskaja rechnen. Aber ich kann den Angriff nicht abwehren. Ich habe keine Leute. Mit Trossleuten, Sanitätern und meiner Stabskompanie kann ich keinen Krieg führen. Ich bitte um Verstärkung und schlage vor, mit Sturmgeschützen – ihr habt doch welche – gewaltsam aufklären zu lassen, damit festgestellt wird, was in unserem Rücken durchgesickert ist. Ein Spähtrupp ist unterwegs.«
Die Antwort des O1 schien nicht sehr befriedigend zu klingen, denn mit einem zornigen Ausruf beendete der Oberst das Gespräch.
»Ich soll die Stellung am Donez halten«, sagte er nach einer Pause, »aber wenn man etwas anfordert, bekommt man zur Antwort: Fehlanzeige. Dieser Krieg wird mit den Knochen des Infanteristen geführt. Wo sind denn die ganzen technischen Wunder? Wo sind die Stuka, Panzer und was weiß ich? Außer unserer Artillerie haben wir nichts, was wir dem T-34 der anderen entgegensetzen können, und die Artillerie leidet unter chronischem Munitionsmangel.«
Erregt schritt er einige Male in der Stube hin und her, dann hatte er seine Ruhe wieder gefunden. Er setzte sich an den Tisch, stützte die Stirn auf die Hände und starrte unmutig vor sich hin. Ich wusste, wie viel auf ihm lastete und wie schwer er alles nahm.
»In Goroditsche war etwas los«, sagte ich, »aber seit zwei Stunden scheint alles wieder klar zu sein. Ich wollte Herrn Oberst nicht stören.«
Er drehte sich zu mir um, aber ohne ein Wort zu sagen, wandte er sich wieder der Karte zu.
Ich schwieg, denn ich wusste, in solchen Augenblicken vollkommener Konzentration pflegte er seiner Umgebung völlig entrückt zu sein. Die Karte belebte sich für ihn, wurde zur Landschaft, zur Szenerie der jeweiligen Ereignisse. So fasste er seine Entschlüsse.
Aber an diesem frühen Morgen war ihm keine Ruhe zum Nachdenken vergönnt.
Die Haustür wurde geöffnet, und mit einem Strom eisiger Luft kam ein fremder Major herein. Sein Mantel und seine Mütze waren mit einer Schneekruste bedeckt. Er grüßte, nahm Mütze und Kopfschützer ab und meldete sich beim Kommandeur, der aufgestanden war, als Major Moll, dritte Abteilung, Artillerieregiment 60. »Mit Teilen in Pawlowskaja eingetroffen«, fügte er hinzu, mit einer Stimme, die wie gefroren klang. Sein Gesicht war ebenso unnatürlich gerötet wie das des Feldwebels, der die Schlittenkolonne aus Slawiansk herangeführt hatte.
»Was heißt das – mit Teilen, Major Moll?«, fragte Oberst Metzelbrod.
Der Major atmete tief.
»Es heißt«, antwortete er nach einer Pause, »dass meine schwere Batterie noch zwei Geschütze besitzt. Zwei sind durch Volltreffer ausgefallen. Die beiden leichten Batterien haben zusammen sieben. Zwölf Mann habe ich mit Verwundungen und Erfrierungen am Verbandplatz abgeliefert. Meine Gefallenen musste ich zurücklassen, Herr Oberst.«
Der Kommandeur reichte Major Moll die Hand.
»Wie steht es mit Ihrer Munition?«, fragte er, obgleich ihm gewiss nach anderen Worten zu Mute war.
»Rund 50 Schuss pro Geschütz«, erwiderte Major Moll und bat, ihn einzuweisen. Er wollte sogleich in Feuerstellung gehen.
Der Oberst überlegte.
»Nicht zu nahe beim Dorf«, meinte er schließlich, »ich möchte es vermeiden, dass das Feuer auf den Verbandplatz gezogen wird. Die Leute liegen in Watte und Verbänden und können nicht in Deckung gehen. Ich schlage den Bereich der Mühle vor. Dort finden Sie auch Unterkunft für Ihre Kanoniere. Sogar ein Stall für Ihre Pferde ist dort.«
Er ging in die Kammer, holte die Kognakflasche – unsere letzte – und reichte dem Major ein Glas.
Major Moll trank in strammer Haltung. Er war noch jung. Seinem ganzen Gehabe nach hielt ich ihn für einen aktiven Offizier.
»Ah, das tut gut«, sagte er in verändertem Ton, als sei er auf einmal aufgetaut. »Eine Lausekälte, Herr Oberst. Die Kanoniere frieren an den Geschützen fest.« Dann wurde er wieder dienstlich und bat, sich abmelden zu dürfen, denn seine Abteilung stehe draußen im Schnee und hätte nach dem Marsch Ruhe nötig.
Der Oberst entließ ihn mit den Worten, er solle zusehen, bald feuerbereit zu sein, niemand könne sagen, was der Tag noch bringe.
Als die Tür hinter dem Major ins Schloss gefallen war, murmelte Oberst Metzelbrod: »Das also war der Erste …«
Ich fragte ihn, was er damit sagen wolle.
Er blickte mich durch seine runden Gläser an. Das kreidige Licht der Lampe warf seinen Schatten verzerrt auf Fußboden und Wand.
»Emser«, sagte er, »es werden noch andere nach Pawlowskaja kommen. Bald wird das Dorf zu klein sein, um alles unterzubringen.«
Ich wies darauf hin, dies werde im Falle eines Angriffs für die Abwehr nur von Vorteil sein.
Er sagte nichts darauf, sondern wandte sich um und ging hinüber in seine Kammer. Gleich darauf hörte ich, wie er sich ächzend auf sein armseliges Lager warf.
Ich kannte Oberst Metzelbrod schon lange. Es war nicht der Krieg, der uns erstmals zusammengeführt hatte. Wir waren im Juli 38 auf dem Stradun in Ragusa miteinander bekannt geworden. Ich hatte, von Mostar aus, einige Touren in den Karst unternommen und war in Bergschuhen. Auf den Steinquadern des Stradun – dieser steinernen Prachtstraße Ragusas – glitt ich aus, und als ich wieder auf den Beinen war, sagte eine Stimme auf Deutsch: »Hoffentlich haben Sie sich nicht verletzt!« Die Stimme gehörte Oberst Metzelbrod. Damals trug er einen hellen Flanellanzug. Eine Dame stand neben ihm. Beide waren von der Sonne Dalmatiens gebräunt und wirkten jugendlich und unternehmungslustig. Ich stellte mich vor und hörte so zum ersten Mal den ungewöhnlichen Namen Metzelbrod. Die Dame war die Frau des liebenswürdigen Herrn Metzelbrod und Mutter zweier erwachsener Söhne, die ich am Abend im Hotel Imperial kennen lernte, als ich meine neuen Bekannten – diesmal natürlich nicht in Genagelten – aufsuchte, um gemeinsam mit ihnen ein Konzert zu hören. Wir sprachen damals über die Sudetenkrise, und der nachmals reaktivierte Oberst und damalige Major der Reserve befürchtete, seine Ferien könnten ein jähes Ende finden. Im Frühjahr 39, als man den weit gereisten, weltkundigen Mann ins Auswärtige Amt holen wollte, hatte er es vorgezogen, ins Heer zurückzukehren, aus dem er im Jahre 1918 ausgeschieden war.
Im Mai 41 hatte Oberst Metzelbrod mich in sein Regiment gerufen. Wir waren seit jenem Sommer in Ragusa ständig in Briefverbindung geblieben – auch während des Krieges –, und ich war mit Freuden Adjutant bei Oberst Metzelbrod geworden. Zuvor hatte ich als Adjutant eines Gebirgsjägerbataillons am Feldzug auf dem Balkan teilgenommen. 1940, in Frankreich, war ich noch Feldwebel bei der Infanterie gewesen und Mitte Juni bei Suippe verwundet worden.
Als ich zu Oberst Metzelbrods Regiment stieß, hatte es in Zelten in Polen unweit des San biwakiert. Frau Metzelbrod hatte mir damals geschrieben, ich solle auf ihren Mann und auf Erich, den Sohn, der ihr noch geblieben war, achten. Und dann waren wir in Russland oder vielmehr in dem von den Russen besetzten Polen einmarschiert, hatten westlich Szarogrod die Stalinlinie überwunden und waren marschierend und kämpfend immer weiter nach Osten vorgedrungen. Die Stadt Tultschin, der ukrainische Bug – Stationen unseres Vormarsches. Wo der Feind uns aufhielt – und er hielt uns häufig auf mit starken Nachhuten, die seinen eiligen Rückzug deckten –, hinterließ das Regiment Gräber. Zuweilen waren es zwei oder drei, an manchen Orten aber lange Reihen. Kreuze mit einem Namen am Saum eines Sonnenblumenfeldes oder eines Dorfes, dessen Bewohner uns nach dem Abzug der Rotarmisten wie Freunde begrüßten.
Dann kam Uman. Zum ersten Mal war das Regiment an einer Kesselschlacht beteiligt, die mehr als 100 000 Gefangene mit einem Arsenal an Beutewaffen, Fahrzeugen und sonstigem Kriegsgerät einbrachte. Aber auch wir hatten Verluste zu beklagen. Wir waren weiter marschiert – nach Kirowograd und weiter zum Dnjepr. In Sturmbooten hatten zwei Kompanien unseres ersten Bataillons den breiten Strom bezwungen und hatten sich am Ostufer festgesetzt, während die Pioniere schon mit dem Brückenschlag begannen. Noch herrschten Staub und Hitze, aber die Nächte, die wir zumeist im Freien verbrachten, waren bereits empfindlich kühl.
Der Sommer war vergangen, über Nacht war nach dem regenreichen Herbst, der Straßen und Wege in grundlose Moräste verwandelte, der Winter eingezogen, und der Winter hatte uns Halt geboten. Jetzt schien der Höhepunkt seiner eisigen Macht gekommen zu sein.
Es war die Stunde der Prüfung – für den Oberst, für Erich Metzelbrod, für uns alle. Ich wusste es seit dem Augenblick, da tags zuvor der Feuerschlag der russischen Artillerie begonnen hatte.
Während ich daran dachte, hörte ich mit halbem Ohr das stuckernde Brummen einer »Nähmaschine«, wie wir die russischen Nachtbomber nannten. Irgendwo warf die Maschine ihre Fracht ab. Die Bomben detonierten mit dumpfem Getöse, und das Flugzeug verschwand.
Ich erinnerte mich an einen Tag des Vormarschs, ostwärts Perwomaisk, nach der Schlacht von Uman. Unser Wagen scherte aus der Kolonne aus und setzte uns am Straßenrand ab. Ein alter Hauptmann stand da, Chef einer Kanonenbatterie. Es war ein goldener Hochsommertag. Die Sonne brannte wie über der Wüste. Der alte Hauptmann blickte eine Weile den vorbeijagenden Fahrzeugen nach, dann sagte er in hartem ostpreußischen Dialekt:
»Das alles wird sich totlaufen, meine Herren. Schade um die vielen jungen Kerls!«
»Sie sind nicht sehr zuversichtlich, Herr Hauptmann«, meinte Oberst Metzelbrod darauf. »Sehen Sie doch nur, wie alles rollt. Uman liegt hinter uns. Ich weiß nicht, wie man an einem Tag wie heute so schwarz sehen kann.«
Sicherlich war ich der Einzige, der den spöttischen Unterton vernahm. Der alte Hauptmann aber ließ sich nicht beirren.
»Die Russen sind Wintermenschen, Herr Oberst«, sagte er, »wenn erst mal Schnee liegt, wenn das Thermometer auf 40 Grad oder noch tiefer absinkt, dann gnade uns Gott!«
Er grüßte steif, stieg in seinen Kübelwagen und fuhr seiner Batterie – zehn Zentimeter Langrohr – nach, die Seltenheitswert besaß in der Armee.
Ich fröstelte damals trotz der Sommerhitze wie im Vorgefühl kommender Schrecken. Jetzt schien das düstere Orakel des alten Hauptmanns sich zu bewahrheiten. »Was mag aus ihm und seinen Kanonen geworden sein?«, fragte ich mich. In diesem Augenblick betrat Oberleutnant von Eisen den Gefechtsstand.
»Herr Emser«, sagte er, »holen Sie den Kommandeur! Wir haben keinen Nachschubweg mehr, der Russe steht überall.«
Er war ziemlich außer Atem. Aus dem Eichenwäldchen beim Wegekreuz, knapp acht Kilometer südlich Pawlowskaja, waren er und seine Leute von einem schweren Maschinengewehr »beharkt« worden, wie er sich ausdrückte. Für den schwachen Spähtrupp war es aussichtslos gewesen, auch nur den Versuch zu unternehmen, bis zu dem kleinen Nest vorzudringen, in dem die Baupioniere lagen oder vielmehr gelegen hatten. Denn dort saßen jetzt die Russen, daran war nicht zu zweifeln.
Während Oberleutnant von Eisen noch sprach, kam der Oberst herein. Er hatte alles gehört.
»Wärmen Sie sich auf, Eisen«, sagte er, »Sie haben Ihre Sache gut gemacht. Wir wissen jetzt, was anliegt.«
Es war sieben Uhr. Aber draußen war es noch dunkel. Ich rief die Vermittlung an und verlangte eine Verbindung mit dem Divisionsgefechtsstand. Wenig später erfuhr ich, die Leitung sei gestört. Erst jetzt fiel mir ein, wie einfältig es gewesen war, anzunehmen, dass die Russen unsere Fernsprechleitungen unangetastet lassen würden. Man musste sich erst zurechtfinden.
Ich gab den Befehl, im Gefechtsstand ein Funkgerät aufzubauen, denn die Verbindung zur Division musste klar sein. Nach vorn, zu den Bataillonen, waren die Leitungen noch intakt, und wenn sie zerschossen wurden, gingen die Störungssucher hinaus und flickten den Draht, der, wenn es schlimm kam, zur Lebensader werden konnte. Der Funkverkehr war recht fragwürdig; er war von Witterungs- und anderen Einflüssen abhängig, und gerade, wenn man ihn am nötigsten brauchte, versagte er häufig wie eine komplizierte Spielerei.
So stand es um sieben Uhr. Unteroffizier Baierle kam mit dem Funktrupp. Sie bauten ihr Gerät auf und gaben nach einigem Hin und Her an die Division glücklich die Meldung durch, unsere rückwärtige Verbindung sei in Feindeshand. Darauf gingen sie auf Empfang.
Wenig später kam ein Spruch vom Ia, das Regiment habe, wie am Vortag befohlen, die Stellung, komme was wolle, zu halten. Kein Wort davon, dass man versuchen werde, von außen unseren Nachschubweg freizukämpfen, kein Wort von Verstärkung, keine Silbe über den Gegenangriff, der nach früheren Verlautbarungen am Morgen hätte anlaufen müssen.
Abgeschrieben, dachte ich voller Bitterkeit. Ich wusste damals noch nicht, dass dies die neue Taktik war, dass man ein Jahr später eine ganze Armee, unsere Nachbararmee, die sechste, draußen an der Wolga abschreiben würde wie eine Hand voll ersetzbaren Materials. Ich war tief beeindruckt, aber ich sagte mir, ein Regiment wie das unsere besäße doch genügend Kampfkraft, sich selbst zu behaupten, wenn die Division, wohl auf höhere Weisung hin, nichts für uns tun könne oder dürfe.
Um 7 Uhr 30 oder einige Minuten früher begann es wieder zu rumoren. Der Feuerschlag des Vortages wiederholte sich, und diesmal war unser Abschnitt der Amboss, auf den der Granatenhagel mit geballter Wucht niederschmetterte.
Auch Pawlowskaja war stark betroffen, wieder ging eine Anzahl Häuser in Flammen auf, und Rufe nach Sanitätern gellten durchs Dorf. Als der Beschuss endlich nachließ, meldeten die Bataillone, russische Infanterie greife vom Donez her an. Auch Panzer waren wieder dabei; sie wälzten sich durch den Schnee und walzten die Häuser nieder, in denen diejenigen von den unseren, die nicht in den Gräben am MG standen, vor der mörderischen Kälte Schutz suchten. Trotzdem hielten die Kompanien fürs Erste ihre Stellungen. Aber es war ein ständiges Hin und Her. Auf Einbrüche, die der Feind erzielte, erfolgte der Gegenstoß, und wiederum wurde um die Häuser, um armselige russische Katen, gekämpft, um die Wärme, die darin zu finden war.
Um neun Uhr riss die Verbindung zum dritten Bataillon ab.