Für meine Frau und meine Tochter

© edition lichtblick, oldenburg 2020

Books on Demand GmbH, Norderstedt

Dritte, überarbeitete Auflage: 7.2020

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Fotografie: Michael Schildmann

Lektorat: Nicolaus Bornhorn

Satz und Layout: Michael Schildmann/edition lichtblick

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

ISBN 9783752675658

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Als ich vor einigen Jahre eine Wallfahrt von Skalstugan in Schweden über Stiklestad nach Trondheim in Norwegen leitete, folgte eine Gruppe von pensionierten Frauen uns über die schwedische Grenze. An einer Stelle fragte ich sie, was sie mit dem Wort „Pilger“ verbänden. Nach längerem Überlegen sagte eine Frau: „Es ist etwas Feierliches!“ Ich glaube, es war eine schöne Antwort, die eine gute Pointe: enthält: Wallfahrt ist etwas Feierliches, „vor Gott zu wandeln“, das ist „mit erhobenen Herzen zum Herrn“, wie wir in der frühen Kirche das Kommunionsritual nannten: „Erhebt eure Herzen zum Herrn, lasst uns loben Seinen Namen.“ Plötzlich werden die vertrauten Worte sehr konkret: in der inneren und äußeren Landschaft zu wandern, wird das gleiche: eine Feier der Schöpfung.

Dag Hammarskjöld schrieb in seinem Tagebuch „Wegweiser“: „Die längste Reise ist die Reise nach innen“. Mit anderen Worten, wir müssen mit uns selbst beginnen. Denn hier beginnt die eigentliche Wallfahrt auf dem Weg nach innen. Sind wir weit genug, fühlen wir eine Verbundenheit mit allen Menschen zu allen Zeiten und mit allen Lebewesen, allen Dingen der Natur.

Und wir müssen nicht unbedingt nach Jerusalem, Rom oder Santiago de Compostela reisen. Skandinavien hat mehrere herrliche Pilgerwege, nicht zuletzt zum alten heiligen Ort, der Nidaros Kathedrale. Trondheim ist das „Santiago de Compostela des Nordens“, wegen der Legende von Olav dem Heiligen in der Nidaros Kathedrale. Hierher wallfahren Pilger aus ganz Europa, und es ist meine Aufgabe als Pilgerpastorin, im Sommer die Pilger am Ziel ihrer Wanderung zu empfangen.

So traf ich Michael Schildmann das erste Mal im Jahre 2010, als er den ganzen Weg von Oslo über die Berge zur Nidaros Kathedrale gegangen war. Wir erzählten uns gegenseitig unsere Lebens- und Glaubensgeschichten und sprachen über das Wort Gottes und gingen gemeinsam zum Abendmahl in der kleinen Mariakapelle der Kathedrale. Plötzlich tauchte der deutsche Pilger im Sommer 2012 wieder im Pilgerzentrum auf, nach einer erfolgreichen Wallfahrt in St. Olavs Spuren durch die schwedischen Wälder von Selånger in Schweden. Schließlich kreuzten sich unsere Wege erneut im Jahr 2013, in einer Pilgerherberge am „Ochsenweg“ - dem „dänischen Camino“.

Jetzt hat Michael Schildmann uns das Buch „Auf dem Olavsweg durch Schweden“ gegeben. Das Buch enthält Tagebucheinträge mit Reflexionen, Begegnungen, historischen Fakten und schöne Fotos von Kirchen und der herrlichen Landschaft. Es ist ein inspirierendes Geschenk für jeden, der eine äußere und innere Reise machen will.

Elisabeth Lidell
Pilgerpastorin, Århus

Warum? Warum ich mich wieder auf den Weg machte.

Im Jahre 2007 erfasste mich das Pilger“virus“, das Bedürfnis, mich auf den Weg zu machen. Pilgern bedeutet heute, nach fünf Pilgerwegen, für mich: Rückkehr. Es ist eine Rückkehr in eine Ruhe, anders als die Ruhe zu Hause. Es ist eher eine Rückkehr zu mir, der Wunsch außerhalb der normalen Zeit und Welt zu sein. Dabei weiß ich nicht einmal genau, was, wen oder wonach ich suche. Es gibt für mich nicht die blaue Blume wie in der Romantik. Eine innere Unruhe treibt mich, ein Bedürfnis nach Weite, wie ich sie in der skandinavischen Natur finde. Gleichzeitig ist es inzwischen die Suche nach meiner religiösen Identität. Ich zweifle an dem Gott meiner Kindheit und Jugend, von dem ich in der Bibel las und von der Kanzel hörte, verzweifle manchmal an den Widersprüchen der Bibel und ihren Auslegungen. Suche „Beweise“ und finde natürlich keine.

Auf meinen Wegen suchte ich jede Kirche am Weg auf, stand aber gerade in Norwegen und Schweden oft vor verschlossener Tür. Fast schien es mir, als wollte die Kirche mich nicht. Als sollte ich keinen Ort finden, der mir die Zeit und die Ruhe gibt, um mich Gott zu nähern, um mit „Ihm“ ins Gespräch zu kommen.

Fairerweise muss ich einräumen, dass ich natürlich oft auch zu „unmöglichen“ Zeiten an den Kirchen vorbeikam. Zum Teil ist es also sicherlich auch mein Verschulden. Es dauerte aber bis Åre, bis ich an einem Gottesdienst teilnehmen konnte.

Es wäre schön, wenn mehr Kirchen am Pilgerweg offen wären – oder der Schlüssel in der Nähe erhältlich. Kirchen fand ich offen in Selånger, Mörsil, Borgsjöbyn, Hallandsgården, Åre und Stiklestad.

Der Weg wurde im Sommer 2013 umbenannt in

St. Olavsleden.

Olaf II. von Norwegen / norwegischer Name: Olav

Gedenktag katholisch: 29. Juli

Gedenktag evangelisch: 29. Juli

Der Name bedeutet: Spross der Ahnen (schwedisch - skandinavisch)

König von Norwegen, Märtyrer

* 995 westlich des Oslofjords in Norwegen

† 29. Juli 1030 bei Stiklestad bei Levanger in Norwegen

Statue am Ostportal des Doms in Uppsala in Schweden, 13. Jahrhundert. Olaf, Sohn des wikingischen Kleinkönigs Harald Graenske, der schon vor seiner Geburt starb, und der Aristokratentochter Ásta, wuchs bei seinem Stiefvater, dem Kleinkönig Sigurd Syre von Ringerike in Oppland auf. Die Wikinger machten damals mit Piratenzügen die Küsten Europas unsicher; mit zwölf Jahren bekam auch Olaf ein Schiff, seine Räuberfahrten führten ihn 1007 bis 1009 in die Ostsee, 1009 bis 1011 nach Dänemark, Holland und England, wo er Canterbury eroberte, dann eine Zeitlang im Dienst von König Ethelred II. stand und das Christentum kennenlernte. Danach kam er auf seinen Beutezügen bis vor Gibraltar; dort hatte er eine Vision, in der ihm der Königsthron Norwegens verheißen wurde.

1013 / 14 wurde Olaf in Rouen in der Normandie getauft. Bald darauf kehrte er in seine Heimat zurück und machte sich mit 220 Mann Gefolge, einigen Priestern und einem Bischof auf, seine Vision in die Tat umzusetzen: durch Kooperation und Geschick vereinigte er die vielen kleinen Königtümer in Norwegen, vertrieb in der Schlacht von Nesjar - heute die Stadt Larvik - die Dänen und ließ sich 1016 in ganz Norwegen zum König ausrufen. Die darauf folgende Reichseinigung erfolgte durch Benennung von örtlichen Repräsentanten des Königs und den Aufbau einer zentralen Hofverwaltung nach englischem Vorbild sowie einer dem Erzbischof von Bremen-Hamburg unterstellten Kirchenorganisation.

Olaf rief Missionare ins Land, ließ Kirchen bauen und Strafen einführen für alle Menschen, die die Taufe ablehnten. Götzenbilder und heidnische Heiligtümer ließ er zerstören, in offenen Feldschlachten, die oft als Gottesurteil verstanden wurden, bekämpfte er die Gegner des Christentums. Mit der Christianisierung einher ging der zivilisatorische Aufbau. Die neuen Gesetze des heiligen Olaf blieben für Jahrhunderte in Kraft; sie sicherten u.a. den Priestern den Lebensunterhalt, verordneten die Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen und untersagten die Ehe unter nahen Verwandten.

Olafs Heirat mit Astrid, der Tochter des Königs Olaf I. von Schweden, brachte auch diesen auf seine Seite. Aber ab 1025/26 machte der dänische König Knud - auch durch Bestechung und Versprechungen - die meisten mächtigen Männer des Landes Olaf abspenstig. Gleichzeitig wuchs der Widerstand gegen die zentrale Herrschaft und Olafs oft rüde Methoden. Knud kam 1027 mit einer englisch-dänischen Flotte nach Norwegen und besiegte Olaf in der Schlacht in der Flussmündung des Helgeå; Olaf musste mit seinem Sohn Magnús zu seinem Schwager, Jaroslav I. v. Kiev, nach Weliki Nowgorod fliehen.

In Schweden sammelte Olaf dann ein neues Heer um sich, mit dem er gegen Trondheim loszog. 1030 fiel er bei dem Versuch, sein Reich zurückzuerobern, in der Schlacht von Stiklestad gegen die Parteigänger Knuds, der Überlieferung nach mit dem Kampfesruf: Vorwärts, Christmänner, Kreuzmänner, Königsmänner! Die Legende erzählt, wie Olaf vor der Schlacht um einen Trunk Wasser bat; vom Bischof gesegnet, verwandelte es sich in Bier, das Olaf, da Fasttag sei, nicht trinken wollte; ein zweiter Trunk Wasser wurde zum Honigmet und wiederum von ihm abgewiesen; als aber das Wasser, das beim drittenmal herbeigeholt wurde, sich in Wein verwandelte, trank Olav, nachdem der Bischof es ihm ausdrücklich befohlen hatte.

Olaf wurde schon bald als Heiliger angesehen. Enttäuschung über Knuds unerfüllte Versprechen und Verbitterung über die strenge Herrschaft seines als König eingesetzten Sohnes Svein Álfifason förderten Olafs Verehrung. Selbst in der Hymne auf den Sieger der Schlacht, König Svend Knudson, heißt es: Olaf hat, bevor er starb, sündlos seine Seele gerettet. Olafs Gebeine wurden im Sommer 1031 in die Clemenskirche in Trondheim überführt, Ende des 11. Jahrhunderts wurde ihm zu Ehren die Kathedrale in Trondheim gebaut, die größte skandinavische Kirche, Sitz der norwegischen Erzbischöfe. Bald entwickelten sich Wallfahrten, Olaf wurde nach dem Vorbild englischer Könige zum Reichs- und Volksheiligen. In der Reformationszeit wurde der goldene Olaf-Schrein nach Dänemark gebracht, die Reliquien wurden zerstört. Im 12. Jahrhundert wurden eine lateinische Leidensgeschichte und Wunderlegenden unter dem Titel Ólafs saga helga verfasst. Olaf war zusammen mit Knud von Dänemark und Erik von Schweden einer der drei großen Könige und Missionare des Nordens.

Tag 1 - Von Selånger nach Gålviken

Sundsvall

ist eine Hafenstadt am Bottnischen Meerbusen mit etwa 45 000 Einwohnern. Sie liegt nahe dem geografischen Mittelpunkt von Schweden. Im Süden und Norden erheben sich die beiden Stadtberge Södra Berget (240 m) und Norra Berget (141 m).

1621 übertrug Gustav II. Adolf von Schweden Sundsvall das Stadtrecht. Er ist heute als Statue auf dem Marktplatz in der Stadt präsent. - Im 19. Jahrhundert verzeichnete Sundsvall ein starkes Bevölkerungswachstum und brachte es im Jahre 1887 auf 10.726 Einwohner. Zu dieser Zeit hatte die Stadt die höchste Sägewerksdichte der Welt. - Sundsvall wurde insgesamt vier Mal von großen Bränden heimgesucht, das erste Mal im Jahre 1721 nach einem Beschuss durch russische Truppen und zuletzt am 25. Juni 1888. Im Zentrum durften daraufhin nur noch Steinhäuser gebaut werden. - Im Jahr 2010 ist ein Exemplar eines Sachsenspiegels aus dem Jahr 1481 in der Stadtbücherei gefunden worden.

Zentrale Sehenswürdigkeit ist Stenstaden, die "Steinstadt", rund um den Marktplatz Stora Torget. - Ein schöner Blick auf Sundsvall herab bietet sich vom Norra Berget (141 m). Hier befinden sich das Freiluftmuseum, das Handwerks- und das Seefahrtsmuseum. - Das Gräberfeld von Högom, ca. 2 km vom Stadtzentrum entfernt, ist das größte Gräberfeld Nordschwedens (400-550 n. Chr.). Es umfasst elf Grabhügel und einen Runenstein. - Das 1990 gebildete Nordische Kammerorchester ist das jüngste professionelle Kammerorchester in Skandinavien.

Selånger

ist ein historischer Ortsteil von Sundsvall und der Name der dortigen Kirchengemeinde. Er war im Mittelalter der Hafen und das Zentrum von Medelpad. Hier soll der Überlieferung nach 1030 Olav der Heilige bei seiner Heimkehr aus Gardarike (Russland) an Land gestiegen sein und von hier aus seinen Marsch nach Stiklestad angetreten haben. Deshalb war es der bedeutendste Ausgangspunkt für die Pilgerreise nach Nidaros. Sie führt an einer Kette von Olavs-Quellen entlang, über Medelpad, Jämtland und Trøndelag. Der Volksüberlieferung nach lag dieser Hafen unterhalb der heutigen alten Kirchenruine. Selånger wird als einer von sechs Königshöfen in Norrland und Sitz des Vogtes und Amtmannes genannt. 1780 wurde eine neue Kirche in neoklassizistischem Stil erbaut, die die alte Kirche ersetzte. Sie ist heute eine Ruine.

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde dann Sundsvall gegründet, das allmählich die leitende Position in der Region übernahm. Die Halbinsel Kungsnäs in Selånger mit seinem alten Königshof wurde wegen seiner zentralen und verkehrsgünstigen Lage noch lange als Sitz des Landeshauptmanns verwendet.

Mattfors

ist eine Stadt im Bezirk Västernorrland mit etwa 3200 Einwohnern am Fluß Ljungan.

Olavsquelle

Einen Zusammenhang zwischen St. Olav und Wasser kann man auf die Quelle, die von seinem Grab entsprang, zurückführen. Später kam der Olavsbrunnen am Dom zu Nidaros dazu. Aber viele der „Olavs“-Quellen sind wahrscheinlich viel älter und haben in der christlichen Zeit ihre Anknüpfung an St. Olav bekommen. Die Quellen waren sicherlich eine wichtige Stütze der Pilger auf dem Weg zum Nidarosdom in Trondheim.

05./06.07 Laila

Laila kenne ich schon seit geraumer Zeit aus e-Mail-Kontakten.

Während ich im Bus schon durch Schweden fahre, nehme ich per SMS mit Laila Kontakt auf – sie hatte mir angeboten, für eine Unterkunft in Sundsvall oder in Selånger zu sorgen. Daher möchte ich ihr meine voraussichtliche Ankunftszeit durchgeben. Doch der Busfahrer ist sich nicht sicher, wann wir am Hauptbahnhof von Stockholm ankommen. Somit ist ungewiss, ob ich einen der Züge aus meiner Liste überhaupt erreiche. Ich simse ihr also nur, wo ich gerade bin und dass ich mich später mit einer genauen Uhrzeit melde. Aus dem Zug von Stockholm nach Sundsvall schicke ich ihr erneut eine SMS, wieder ohne genaue Zeitangabe, weil der Zug aus mir unbekannten Gründen verspätet ankommen wird. Mit einer Verspätung von dreißig bis sechzig Minuten müsse ich rechnen, sagen mir Mitreisende. Das gebe ich weiter an Laila. Ich möchte nicht, dass sie unnötig früh am Bahnhof steht. Sie bestätigt und schreibt, dass sie da sein wird.

Am Bahnhof in Stockholm habe ich Glück. Sehr schnell komme ich aus dem Bus heraus, schnappe mir meinen Rucksack und stehe kurz danach schon im gegenüberliegenden Bahnhof am Fahrkartenschalter. Die Zeit scheint knapp, während ich in der Warteschlange stehe. Die große Bahnhofsuhr gibt mir nicht einmal vier Minuten. Schließlich bin ich dran – und bekomme das letzte Ticket für heute nach Sundsvall. Bezahlen kann ich mit Kreditkarte, Bargeld habe ich noch nicht.

Gibt es das bei uns überhaupt: Ausverkauft, keine Fahrkarte mehr für eine Fahrt von A nach B? Es ist im übrigen ein Erste-Klasse-Ticket und damit bedeutend teurer als meine ganze Busfahrt von Oldenburg nach Stockholm. Im Zug bemerke ich jedoch bald die Vorteile, die so ein Erste-Klasse-Ticket hat: sehr bequeme Sitze, eine eigene Zugbegleiterin, eine kleine Küche mit Kaffee, Tee und Schokolade, dazu Kekse, Muffins und Obst. „Richtiges“ Essen - man könnte es auch bekommen - bestelle ich jedoch nicht, im Moment bin ich satt. So ist es nicht schlimm, dass ich noch immer kein Bargeld habe.

Wie schon auf der Busfahrt, zieht draußen Wald vorüber, selten einmal ein Haus, noch seltener mehrere Häuser oder ein Dorf. Oft sind es Häuser, die an einem Seeufer verteilt liegen, Ferienhäuser oder dauerhafte Wohnsitze – ich kann es nicht unterscheiden. Von Zeit zu Zeit hält der Zug in einem Bahnhof, Leute steigen aus, neue Fahrgäste steigen nicht mehr ein. Gegen dreiundzwanzig Uhr verlangsamt der Zug erneut, hält an.

Jetzt steige ich auch aus, suche den Bahnsteig mit den Augen ab, wo könnte Laila sein? Aber niemand steht wartend herum, jeder, der zuvor gewartet hat, geht auf jeweils einen meiner Mitreisenden zu. Am Ende des Bahnsteigs überquere ich die Gleise, will zum Bahnhofsgebäude hinübergehen. Da sehe ich sie, eine kleine Geste reicht, ein Lächeln, ich gehe auf sie zu, begrüße sie, begrüße auch den Mann neben ihr. Es ist ihr Ehemann, sie stellt uns vor. Ich kann mein Gepäck in den silbergrauen Mercedes laden und ab geht die Fahrt Richtung Selånger. Inzwischen ist es trotz der langen Mittsommernächte dämmerig geworden, die Sonne ist untergegangen.

Unterwegs im Auto beginnt Laila zu erzählen, erkundigt sich, wie die Fahrt war, erklärt, dass sie eine günstige Herberge bei einer Frau im Dorf für mich gefunden habe, dass sie mir morgen die Ruine zeigen wolle, fragt, wann ich denn wohl ins Büro kommen werde. Bald darauf stehen wir vor einem älteren schwedischen Häuschen. Aus dem Haus gegenüber kommt eine Frau zu uns herüber, es ist die Besitzerin, die uns sehr herzlich begrüßt. Während sie uns das Haus zeigt, von der Küche bis zum Badezimmer, erzählt sie, dass sie und ihr Mann dieses alte Haus, das Haus ihrer Eltern, wieder instand gesetzt hätten und es erst seit kurzem vermieten würden; es stammt aus dem 18. Jahrhundert.

Es ist schön, hier könnte ich leben – wenigsten ein paar Tage, vielleicht ein paar Wochen. Aber mein Sinn steht in Wirklichkeit nach Aufbruch, nicht nach Verweilen. Das Haus erinnert mich an das Sommerhaus meiner Großeltern. Wie dieses Haus (und die meisten Häuser, die ich hier sehe), ist es aus Holz gebaut und verströmt einen ganz eigenen Charme. Die Einrichtung, die Atmosphäre, alles ruft Erinnerungen an die Ferien meiner Kindheit wach. Wenn meine Eltern verreisten, „durften“ wir oft die Ferien bei meinen Großeltern an einem See in Norddeutschland verbringen. Manchmal auch, wenn sie nicht verreist waren. Dann konnte es auch geschehen, dass ich alleine bei meinen Großeltern sein durfte. Da ich vier Geschwister habe, war es natürlich besonders schön, die Aufmerksamkeit und Zuwendung der Großeltern mal für mich allein zu haben. Lange Spaziergänge um den See oder auch Fahrten mit dem Ruderboot waren ein herrlicher Zeitvertreib. Besonders lockte auch die Flasche Bluna oder Fanta und ein Stück Kuchen bei einer Einkehr unterwegs. Das war damals Luxus pur.

Selånger - die neue Kirche von 1780
Ausgangspunkt meiner Pilgerwanderung

Irgendwann bin ich allein, habe zu nichts mehr Lust, aber Hunger. Also bereite ich mir ein mexikanisches Reisgericht aus der Tüte zu, dazu zwei Becher Tee und einen Becher Gemüsebrühe. Anschließend kann ich nicht schlafen, bin viel zu aufgedreht, freue mich auf den Weg, der vor mir liegt und kann und will nicht auf Lailas Führung warten. Ich gehe in dieser dämmrigen Nacht Richtung Kirche und schließlich auch noch zur Ruine, mache auch einige Fotos. In mir ist wieder ein ganz besonderes Gefühl der Erwartung. Ich könnte es zwar im Moment nicht in Worte fassen, aber ich fühle es. Es ist wieder ein Aufbruch ins Unbekannte, auch in mein eigenes Unbekanntes. Nach ein Uhr nachts liege ich schließlich im Bett. Sofort fallen mir die Augen zu.

Am nächsten Morgen treffe ich Laila im Büro der Kirchengemeinde, es liegt nahe der „neuen“ Kirche. Meinen Pilgerpass hat sie schon bereit, auch einen Satz von sieben genauen Karten hat sie für mich ausgedruckt. Damit könne ich mich die nächsten Tage zurechtfinden, meint sie mit einem Lächeln. Als sie meine weiteren Karten für die gesamte Strecke durch Schweden und Norwegen sieht, ist sie beruhigt. Ich habe den Eindruck, dass sie befürchtet, ich könne mich verlaufen. Ich selbst bin da nicht so besorgt. Lena hatte mir diese Karten bereits vor meinem Aufbruch in Oldenburg als digitale Datei geschickt. Die beiden Frauen kennen sich wohl von der gemeinsamen Arbeit am und für den Pilgerweg. Lena hat ihr auch für den Streckenabschnitt am Jämtland eine Liste mit Übernachtungsmöglichkeiten für mich gegeben. Es ist schon erstaunlich und erfreulich, wie man sich um mich kümmert. Große Freundlichkeit und Respekt werden hier dem Pilger erwiesen.

Bei strahlendem Sonnenschein führt Laila mich durch die Kirche und dann zur Ruine. Hier soll Olav im Jahre 1030 aus Rußland mit einer kleinen Gruppe von Männern angekommen (Selånger lag damals noch am Meer) und dann Richtung Norwegen aufgebrochen sein. Jetzt breche ich von hier aus auf, gehe auf seinen Spuren, fast 1000 Jahre ist es her. Später benutzten viele Pilger diese Handelsstraße als Weg zum Dom von Nidaros. Spüre ich etwas von der historischen Bedeutung dieses Ortes? Ich meine, ja. Daher bedeutet es mir sehr viel, auf solchen historischen Wegen unterwegs zu sein.

Schnell zeigt sie mir noch einen Ort auf der Karte 6 (bzw. 2 in meinem eigenen Set) – Gålviken lese ich auf der Karte. „Hier wohnt mein Bruder, er freut sich, wenn du bei ihm übernachten willst. Und damit du ihn findest, er wohnt nämlich unten am See, wird er oben an der Straße ein Schild ‚Pilgrim‘ aufstellen. Dann weißt du, hier muss ich zum See hinuntergehen.“ erklärt mir Laila. Also für meine nächste Übernachtung hat sie auch schon gesorgt. Durch das Zelt, das ich wieder mitführe, fühle ich mich allerdings auch ohne Zielherberge auf der sicheren Seite.

Es läuft sich gut an diesem sonnigen Tag. Die Landschaft ist wunderschön, vielleicht ein wenig zu viel Straße. Aber dann biegt die Strecke zum Glück auf einen Schotterweg ab, windet sich auf schmalen Wegen durch das Tal. Irgendwann überquere ich die Schnellstraße, folge ihr einige hundert Meter und erreiche die Olavsquelle bei Matfors. Dort trinke ich vom kühlen Wasser, fülle auch meine Flasche auf. An der Quelle ist es schon fast vier Uhr, ich laufe aber immer noch auf Karte 1 – und bin noch längst nicht am Kartenrand angekommen. Gålviken liegt jedoch auf Karte 2, am Ende des dritten Viertels der Karte. Es ist noch eine lange Strecke. Allmählich befallen mich Zweifel, ob ich Lailas Bruder heute noch erreichen kann. Aber ich habe ja mein Zelt.

Mein Weg verliert sich in einer gerodeten Waldfläche. Nach einigem Suchen finde ich endlich eine Markierung und gelange beim Heimatmuseum von Matfors wieder in die Zivilisation.

Gegen sieben Uhr abends wird mir klar, dass es so nicht klappt. Ich muss einen Platz für mein Zelt suchen. Leider hat es zwischendurch genieselt und die Mücken sind sehr lästig. Freie Plätze finde ich auch nicht. Meine Frage an eine Bäuerin, ob ich auf ihrem Gelände mein Zelt aufbauen darf, wird ängstlich abgelehnt. Weitere Häuser gibt es nicht. Schließlich biege ich ab von der „Hauptstraße“ und gehe hinunter zu einem kleinen See. Am ersten Haus steht kein Auto, ich klingele gar nicht erst, am zweiten Haus rührt sich nichts, am dritten stehen nur alte Autos, niemand öffnet die Tür. Schließlich entscheide ich mich für eine ebene Freifläche nahe des ersten Hauses, trete das Gras runter und baue mein Zelt auf. Als ich Essen zubereiten will, stelle ich fest, dass ich nur noch wenig Wasser habe, zu wenig, um damit zu kochen und davon zu trinken. Also klingele ich am ersten Haus. Es ist doch bewohnt, eine ältere Frau ist zu Hause, mit ihrem Hund. Sie füllt meine Wasserflasche, erkundigt sich auch, wo ich schlafe. Ich zeige ihr das Zelt, man kann es von ihrem Haus aus sehen. Wieder zurück beim Zelt packe ich den Kocher aus, versuche die Kartusche anzuschrauben, sie passen nicht zusammen: ich habe die falschen Kartuschen gekauft! Ich, als „erprobter“ Pilger, probiere vor dem Aufbruch meine Kartuschen nicht aus. Wie dumm kann man sein, wie unaufmerksam? Also kein warmes Essen – und die Mücken nerven.

Als ich dann auch noch bemerke, dass ich meine Kulturtasche im Bad der letzten/ersten Herberge vergessen habe, kommt ein erster „Zusammenbruch“. Sonst hatte es meist ein paar Tage gedauert, bis der erste große Selbstzweifel einsetzte. Ein Tief, dass ich jedes Mal überwunden habe, das ich dieses Mal nicht, oder wenigstens nicht so früh erwartet habe. Und nun? Große Städte haben vielleicht in Outdoorläden diese Campinggaz-Kartuschen. Allerdings hatte ich schon in einem Internet-Forum gelesen, dass Skandinavien meist ein anderes System benutzt. Es könnte also schwierig werden. In meiner Not rufe ich Laila an. Vielleicht kann ich sie überreden, mich zurückzuholen, damit ich dann am nächsten Tag in Sundsvall...