ANDREA SCHACHT
Jägermond
Im Auftrag
der Katzenkönigin
Roman
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© 2012 by Penhaligon Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Lektorat: Holger Kappel
Redaktion: Rainer Schöttle
Karten: Jürgen Speh
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-08394-6
V002
www.penhaligon.de
Kralle lehrt alle!
Mira
Erster Teil
Lehrlinge
1. Unter dem Jägermond
Silbern ergoss sich das Licht des Vollmonds über die weite Landschaft, in der sich der Flusslauf zwischen den Wiesen und Gehölzen zu einem breiten Geflecht von Silberadern auffächerte. Wie ein silberner Spiegel glänzte auch der stille See inmitten eines Kranzes von dornigem Gebüsch. Doch am Fuße des Felsens wuchsen schwarze Schatten über den Boden.
Vollmond – hell genug für die nächtlichen Jäger, um ihre Beute zu erspähen. Katzenaugen ließen ihre Blicke über das Land schweifen. Das Land, in dem der immerwährende Jägermond am Himmel stand.
Das Land unter dem Jägermond galt für viele als ein mystischer Ort, den sie nur aus den Geschichten der Alten kannten, ein Sinnbild für die vollkommene Nacht, für Abenteuer und Erfolg, Sieg und Sättigung. Nur ganz wenige wussten, dass dieses Land wirklich existierte. Und noch geringer war die Zahl derer, denen die Wege dorthin bekannt waren. Jene aber, die sie gefunden hatten, hatten an dem Felsen, der dräuend an der Grenze des Reiches stand, einen Tropfen des klaren Wassers zu sich genommen, das dort langsam, ach so langsam aus dem Gestein sickerte.
Heldenwasser, so nannten es die Wissenden und Weisen. Denn es verlieh denjenigen, die einen Tropfen davon zu sich genommen hatten, Mut, Standhaftigkeit und Leidensfähigkeit. Gefahrvoll war es, an diese geheimnisvolle Quelle zu gelangen, denn es wachten, so hieß es, die Herrscherinnen des Jägermondes darüber. Wurde der Eindringling entdeckt, so zerrissen sie ihn mit ihren Klauen und Zähnen.
Dennoch begaben sich manche Bewohner von Trefélin, dem Heim der Katzen, auf die Suche nach dem kostbaren Nass. Hatten sie den Tropfen davon geleckt, waren sie befähigt zu den höchsten Ämtern in ihrem Reich, sie vervollkommneten ihre Begabungen und waren umgeben vom Charisma der Macht.
Ein Tropfen nur bewirkte dies. Ein zweiter aber führte nach und nach in den Wahnsinn.
Katzen, nicht Menschen, suchten das Land unter dem Jägermond auf. Und doch hatten zwei menschliche Wesen von dem Heldenwasser genascht, und nun entfaltete es seine wundersame Wirkung in ihnen.
Dies war geschehen unter den Augen der gestrengen Hüterinnen der Quelle.
Sechmet, die Löwenköpfige, saß am Ufer des silbrig schimmernden Sees und gähnte. Dann stippte sie mit ihrem langen Fingernagel in das Wasser und beobachtete, wie die kleinen Wellen sich darin ausbreiteten. Das leise Rascheln von bloßen Füßen im Gras ließ sie den Kopf wenden, und mit einem heiseren Knurren sagte sie: »Bastet, ich langweile mich.«
Die katzenköpfige Frau nickte.
»Ich weiß. Das tust du ständig.«
»Ich will spielen!«
»Ja, das willst du ständig.«
»Ich habe etwas Fieses angestellt.«
»Ich weiß. Das tust du ständig.«
»Willst du mitspielen?«
Bastet wirkte milde interessiert und setzte sich neben ihre Schwester.
»Was hast du getan, Sechmet?«
»Mich geärgert.«
»Ich weiß. Das tust du ständig.«
»Und gleich ärgere ich mich auch über dich!«, fauchte Sechmet. Bastet lächelte sanft. Aber sie antwortete nicht.
Sechmet grollte noch einmal leise auf, dann plätscherte sie wieder mit den langen Fingernägeln im Wasser.
»Es war ein Kater hier, der mir eine amüsante Geschichte erzählt hat«, begann sie dann. »Ein Unruhestifter, den man in die Grauen Wälder geschickt hat. Ich frage mich, wie auch immer er den Weg hergefunden hat – sehr helle erschien er mir nämlich nicht. Aber er wusste von den beiden Menschen, die verbotenerweise von dem Heldenwasser geleckt haben und nun wieder in ihre Welt zurückgekehrt sind. Ich habe ihm ebenfalls einen Tropfen davon gestattet.«
»Ohne Bedingungen, Sechmet?«
Die Löwenköpfige lächelte böse.
»Ach ja, er glaubt, mir gefallen zu müssen.«
»Du hast ihn gegen die Menschenkinder aufgehetzt?«
»Ich brauchte gar nichts zu hetzen. Ich habe ihm nur berichtet, was ich beobachtet habe.«
»Du spielst sie gegeneinander aus!«
»Ach nein. Komm her und beobachte sie, Bastet.«
Bastet, die katzenköpfige Göttin, ließ sich geschmeidig neben ihrer Schwester nieder und schaute in den Spiegel des silbern glänzenden Sees. In ihm zeigten sich ihnen die Geschehnisse in den Welten der Katzen und Menschen und in vielen anderen auch.
»Schau! Das da ist das Menschenweibchen Feli, dort der Menschenjunge Finn.«
Bastet schnurrte.
»Hör auf damit«, knurrte Sechmet.
Bastet lachte. Dann wies sie auf den wuscheligen grauweißen Kater, der zielstrebig durch die Grauen Wälder eilte.
»Dein Favorit in dem Spiel?«
»Shepsi? Vielleicht.«
2. Pu-Shens Ausflug
»Panther!«, hörte Feli es flüstern.
Schon sprinteten drei schwarze Gestalten auf sie zu.
Ihr blieb ein Schrei in der Kehle stecken. Sie rannte in heller Panik los. Zwei waren direkt hinter ihr. Sie sprang über den Bach, ihre Verfolger flogen hinterher wie schwarze Pfeile. Einer überholte sie. Der andere verharrte hinter ihr. Sie knurrten.
Feli versuchte, nach links zu laufen. Der Dritte sprang von der Seite auf sie zu. Er setzte sich hin und leckte sich die Pfote.
»Was wollt ihr von mir?«
Sie bekam keine Antwort.
Sie versuchte, langsam rückwärtszugehen. Sie folgten ihr. Geduckt, die gelben Augen glühend vor Blutdurst. Sie stolperte, fiel hin.
Knurrend näherten sich die großen schwarzen Katzen.
»Nicht. Ich hab euch nichts getan!«
Auf dem Boden rutschte sie weiter weg von ihnen.
Sie setzten sich, still, lauernd.
Ihr Herz raste, sie keuchte.
Einer fauchte leise.
Wieder versuchte sie aufzustehen.
Die drei standen ebenfalls auf.
Sie kam auf die Füße, schaute kurz nach hinten.
Freie Ebene. Keine Deckung. Vor ihr ansteigendes Geröllfeld.
Oh Gott, das war ihr Ende!
Die Panther schlichen näher, einer riss sein Maul auf. Ein tiefes, böses Grollen ertönte.
Es würde schnell gehen, hoffte sie und warf sich aufschluchzend zu Boden.
Feli wurde von ihrem eigenen Schluchzen geweckt und starrte zitternd zu dem nachtdunklen Fenster. Ihr Herz klopfte wie wild, Schweiß stand ihr auf der Stirn.
Wieder hatte sie diesen furchtbaren Albtraum gehabt.
Mit einer Hand tastete sie nach dem warmen Pelzkringel, der sie in den Fällen zuvor so tröstlich beruhigt hatte.
Aber Pu-Shen war fort.
Seit drei Tagen war er verschwunden.
Ein weiteres Schluchzen kam aus ihrer Kehle. Ihr kleiner, ängstlicher Kater war seit zwei Tagen verschwunden. Und sie träumte wieder von diesen mordlüsternen Panthern.
Mit einer Hand tastete sie nach dem Schalter der Nachttischlampe, um dem Dunkel zu entfliehen. Zwar hatte sie die Jalousien nicht geschlossen – das tat sie schon lange nicht mehr –, aber die Nacht war mondlos, und Wolken sogen das Sternenlicht auf.
Noch immer zitternd kroch Feli aus dem Bett und tappte ins Badezimmer, um sich das Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen und einen Schluck zu trinken. Allmählich beruhigte sich ihr Herzklopfen wieder. Es war nur ein Traum gewesen, eine Erinnerung im Traum, sagte sie sich wieder und wieder vor. Kein schwarzer Panther war hinter ihr her.
Aber die Sorge um Pu-Shen wollte nicht weichen. Nervös drehte sie die kleine goldene Kreole in ihrem Ohrläppchen. Er war noch sehr jung und sehr anhänglich. Vor gut einem halben Jahr hatte sie ihn aus dem Tierheim geholt, ein Maikätzchen, eben vier Monate alt. Er hatte sie auf den ersten Blick bezaubert, der kleine Rote mit den weißen Pfoten. Finn, ihr Nachbar, der ebenfalls eine Katze zu sich nehmen wollte, hatte sich dagegen auf Anhieb in eine schlanke Schwarze verguckt, die jedoch alles andere als ängstlich war. Er hatte sie entsprechend Chipolata – kleines, scharfes Würstchen – genannt, und wann immer Feli ihn sah, waren seine Arme und Hände von Kratzern übersät.
Wohin mochte Pu-Shen sich verirrt haben? Die Vorstellung, er könnte überfahren worden sein, schmerzte sie zutiefst, mehr aber noch die Vision, dass er gefangen in einem dunklen Keller um sein Leben schrie.
Sie trottete zu ihrem Bett zurück, schlafen konnte sie jedoch nicht mehr. Eine Stunde lang quälte sie sich mit den Gedanken herum, dann stand sie auf.
Vielleicht – in der Morgendämmerung …
In eine warme Jacke gehüllt ging sie nach draußen und rief leise nach Pu-Shen. Hier und da waren schon andere Frühaufsteher unterwegs, die sie mitleidig oder irritiert musterten, aber das störte sie nicht. Sie rief und gurrte und lauschte, doch von dem Kater fand sie kein Lebenszeichen.
Schließlich kehrte sie nach Hause zurück. Sie musste in die Schule.
Als sie am Nachmittag zurückkehrte, war ihre erste Frage an ihre Tante: »Iris, hat sich Pu-Shen irgendwo blicken lassen?«
Ihre Tante, die über einer Wanderkarte brütend am Esstisch saß, schaute auf.
»Nein. Immer noch nicht. Aber Feli, er ist ein junger Kater. Mach dir nicht so viele Gedanken, er wird ein paar Tage herumstreunen und dann wiederkommen. So sind sie nun mal.«
Mochte ja sein, dass Iris recht hatte, aber sie warf ihren Rucksack in die Ecke und erklärte: »Ich geh ihn suchen!«
»Ist recht. Um halb sieben gibt es Abendessen. Wär gut, wenn du dann wieder zurück wärst.«
»Ja, bin ich.«
Wie schon zuvor streifte Feli an den Gärten entlang, rief den Namen ihres Katers, gab kleine lockende Laute von sich, blieb stehen, lauschte angestrengt. Doch weder ein jämmerliches noch ein freudiges Maunzen war zu hören. Nur Chipolata saß in hoheitsvoller Haltung auf der Gartenmauer und schien in ihre eigenen Meditationen versunken zu sein. Feli trat zu ihr, die Katze sah sie an. Eigentlich hätte sie gerne das schwarze Fell gestreichelt, aber Madame gestattete keine ungebetenen Berührungen. Daher sammelte Feli nur ein leises Schnurren in ihrer Kehle. Chip legte den Kopf schief.
Schnurren, das verstand jede Katze, und schnurren konnte Feli recht gut. Sie hatte eine ausgezeichnete Lehrerin in dieser Kunst gehabt.
»Hast du Pu-Shen gesehen?«, fragte sie mit sanfter Stimme. Nicht dass sie eine Antwort erwartete, aber Katzen waren kluge Wesen, und sie verstanden mehr, als viele glaubten.
Chipolata kratzte sich am Ohr. Dann hüpfte sie von ihrem Platz und beschnüffelte ausgiebig die Zaunlatten.
Katzen hinterließen Geruchsnachrichten, das hatte Feli gelernt. Und sie bedauerte, dass ihre Nase nicht so fein war wie die von Chip, sonst hätte sie vielleicht eine Spur aufnehmen können. Wenn Finn hier wäre, würde er ihr vielleicht helfen können, aber der kam, seit er studierte, nur am Wochenende nach Hause, um seine Wäsche im Hotel Mama abzuliefern. Finn hatte das Fährtenlesen von einigen Meistern gelernt. Tatsächlich hatte er geradezu kätzische Fähigkeiten entwickelt, beinahe unsichtbare Spuren zu erkennen.
Feli setzte sich auf die Mauer und sah Chipolata zu, die weiter einige Blätter des Kirschlorbeers beroch und schließlich müßig an einem Grashalm nagte. Sie schien sich keine Sorgen um ihren Kumpel Pu-Shen zu machen.
Warum war der kleine Kater verschwunden? Sicher neigten Katzen zum Herumstreunen, aber seit er bei ihr lebte, hatte er sich kaum weiter als in den Nachbargarten gewagt. Er hatte Angst vor Autos, und über die Straße war er noch nie gelaufen. Keiner der Nachbarn hatte ihn gesehen, alle hatten entgegenkommend in ihren Garagen, Gartenhäuschen und Kellern nachgeschaut, ob er sich dort versteckt hatte.
Chip kam und sprang zu ihr auf die Mauer. In höflichem Abstand blieb sie sitzen und starrte auf die andere Straßenseite. Die Kätzin war weit unternehmungslustiger als Pu-Shen, sie hatte gleich zu Beginn ihr Revier gegen zwei Tigerkater verteidigt, eine Siamesin das Fürchten gelehrt und einem Dackel die Nase blutig gekratzt. Jetzt war sie die Chefin über den halben Straßenzug und herrschte über ihren Haushalt mit scharfer Kralle. Mit Pu-Shen hingegen verstand sie sich recht gut, vielleicht weil der Kater so sanftmütig war. Manchmal balgten sie miteinander, übermütig wie kleine Kinder. Und wenn sie sich unbeobachtet fühlten, dann putzten sie sich gegenseitig auch schon mal einträchtig das Fell.
Warum war Pu-Shen weggelaufen?
Oder hatte ihn jemand eingefangen und mitgenommen?
Es gab Menschen, die das taten. Finn war im vergangenen Jahr mit solchen Idioten herumgezogen. Sie hatten eine Katze gefangen und wollten sie quälen und umbringen. Finn hatte das Tier gerettet und war von seinen Freunden dafür verprügelt worden. Und damit hatte alles angefangen.
Denn die Katze war Bastet Merit gewesen, Herrin über Trefélin.
Wie so oft tastete Feli nach dem Ring in ihrem Ohr. Unglaubliches war geschehen, Bedrohliches, Gefährliches, Atemberaubendes. Sie und Finn hatten Dinge erlebt, die ihr Leben verändert hatten. Zum Besseren, das hatten sie beide schließlich erkannt. Aber sie hatten beide auch eine Last auf sich genommen, und sie trugen beide eine Sehnsucht in ihren Herzen.
»Maumau!«, sagte Chipolata und sprang von der Mauer.
Feli sah auf, und dann geschah alles gleichzeitig.
Auf der anderen Straßenseite kam Pu-Shen angehumpelt. Ein Sportwagen näherte sich mit hoher Geschwindigkeit, ein Kleinwagen kam entgegen. Chipolata sprang auf die Straße, Feli hechtete hinterher. Bremsen quietschten, Blech kreischte. Feli schlidderte auf dem Bauch über die Motorhaube, zog den Kopf ein und rollte sich auf dem Asphalt ab. Ein Mann brüllte Flüche, eine Frau keifte, ein Kind heulte. Pu-Shen drückte sich mit bebenden Flanken an eine Mülltonne, auf der Chipolata thronte.
Benommen rappelte Feli sich auf die Knie. Ihre Handflächen und Unterarme taten weh, ihre Hüfte schmerzte ebenfalls, aber auf ihren Lippen lag ein feiner, süßer Geschmack. Der Autofahrer zerrte sie hoch und beschimpfte sie unflätig, die andere Frau telefonierte hektisch, das Kind heulte noch immer.
Die Benommenheit wich kalter Wut, und mitten in die Tirade des Mannes fauchte Feli: »Halten Sie endlich den Mund!«
Mit einer energischen Bewegung riss sie sich los und ließ den Aufgebrachten stehen. Hinkend eilte sie zu den beiden Katzen.
»Pu-Shen!«, rief sie und ging ächzend auf die Knie. Der Kleine kroch zu ihr, schmiegte sich an ihr Bein. Vorsichtig hob sie ihn hoch und setzte ihn an ihre Schulter. Er klammerte sich zitternd fest. Als sie sich umdrehte, sah sie ihre Tante Iris zwischen den beiden Fahrzeugen. Der Fahrer des Sportwagens hatte einen hochroten Kopf, schwieg jedoch, die Frau hatte es inzwischen geschafft, das Kind zu beruhigen, und Iris las beiden die Leviten. Eine Kunst, die sie vollendet beherrschte. Um nicht zwischen die Fronten zu geraten, verhielt Feli sich ganz still und beobachtete, wie die beiden Unfallgegner den Blechschaden begutachteten und schließlich ihre Karten austauschten. Neugierig sah Feli zu Chipolata hin, die noch immer auf der Mülltonne saß, und wenn sie nicht alles täuschte, hatte diese verrückte Katze ein Grinsen auf den Lippen.
»Gute Leistung, Chip«, flüsterte Feli und ging langsam, da ihr jede Bewegung wehtat, hinter den Fahrzeugen über die Straße. Sie bemerkte den mahnenden Blick ihrer Tante. Besser, sie verzog sich ins Haus.
»Wir werden ausgeschimpft werden, Pu-Shen. Aber ich bin so froh, dass du wieder hier bist«, wisperte sie in sein Ohr. Der Kater schnurrte ein wenig und ließ es sich gefallen, dass sie ihn in der Küche nach Verletzungen untersuchte. Seine Pfoten waren ein bisschen wund, sein Fell am Bauch schmuddelig, aber ansonsten schien er in Ordnung zu sein. Sie selbst war weit mehr zerkratzt.
Was Iris zum Anlass nahm, sie zu verarzten.
Ohne Beschimpfung.
»Der Typ war zu schnell – hier ist dreißig vorgeschrieben«, grollte sie lediglich und klebte ein Pflaster über eine Schramme.
»Tut mir leid, dass ich so unvorsichtig war …«
»Du hast mich fünf Jahre meines Lebens gekostet, Felina. Ich habe das Ganze vom Küchenfenster aus mitbekommen.« Sie legte ihr die Hand auf die Schulter. »Mach das nicht noch mal.«
Zärtliche, liebevolle Gesten erlaubte sich ihre Tante selten, aber als Feli diesmal den Kopf an sie lehnte, strich sie ihr unbeholfen über die Haare.
»Ich sagte doch, dass der Kater nur ein bisschen herumstreunen wollte«, murmelte sie dabei.
»Ja, vielleicht.«
Feli sah zu Pu-Shen hin und meinte: »Du warst wohl sehr abenteuerlustig, was?«
Der Kater war verlegen, man merkte es ihm deutlich an. Er schlich mit hängendem Schwanz, hängenden Ohren und hängenden Schnurrhaaren zu seinem Körbchen und legte sich hinein.
Feli folgte ihm und kraulte ihn, glücklich, dass er wieder bei ihr war. Sie bedauerte jedoch zutiefst, dass sie nicht seine Erklärung dafür verstehen konnte, dass er fortgegangen war.
3. Auftrag ihrer Majestät
In dem Land hinter den Grauen Wäldern, in Trefélin, dem Reich der Katzen, lagerte die graue, schwarz getupfte Königin auf ihrem Regierungsfelsen und betrachtete die kleine Gruppe, die sich um sie versammelt hatte. Sie bestand aus den zwei Hofdamen Tija und Seba, dem einäugigen Kater Nefer und der rundlichen Che-Nupet. Seba war eine schlanke weiß-rote Katze, die ein rot und braun gestreiftes Tuch nach Art der Pharaonen trug, Tija mit dem braunen Wuschelpelz hatte eines in blassem Blau gewählt. Diese Kopfbedeckungen galten als die Insignien des Rates: Nur jene, die in diesen Kreis aufgenommen wurden, durften sie tragen. Man legte großen Wert auf Qualität und Farbgebung, und die beiden anwesenden Hofdamen galten als ausgesprochen elegant.
»Wir brauchen neue Kopftücher«, erklärte Majestät. »Es sind einige verloren gegangen.« Ein strenger Blick traf Che-Nupet, die gelassen zwinkerte. »Andere haben die Berechtigung erworben, sie zu tragen.« Ein wohlwollender Blick streifte den schwarzen Nefer. Dann blickte sie die beiden Hofdamen an.
»Ihr zwei werdet die Aufgabe übernehmen, einige geschmackvolle Tücher aus der Menschenwelt zu besorgen. Ihr wisst, wie das geht.«
»Ja, Majestät«, antworteten Tija und Seba gleichzeitig.
»Che-Nupet, du wirst mit Tija und Seba gehen.«
Die träge Katze blinzelte, kam aus ihrer liegenden Position auf die Pfoten und trappelte mit ihnen auf dem weichen Gras herum.
»Willnich, Majestät.«
»Das interessiert mich nicht. Es wird Zeit, dass du deine Kenntnisse erweiterst. Du wirst meine Beauftragten als Hauskatze begleiten.«
Che-Nupet rupfte Grashalme aus.
Nefer brummelte leise. Die rotbraune Katze mit der elfenbeinfarbenen Hinterpfote war ein eigenartiges Geschöpf. Gewöhnlich übernahm sie den Wachdienst am Roc’h Nadoz, dem Felsen, an dem der Übergang in die Menschenwelt möglich war. Viel wusste er nicht von ihr, außer dass sie von geradezu überwältigender Faulheit sein konnte und hin und wieder ein absurdes Verhalten an den Tag legte. Aber seit einigen Monaten war seine ursprüngliche Verachtung für die Transuse gewichen und hatte einer gewissen Bewunderung Platz gemacht. Selbstlos hatte sie seinem Freund geholfen, der durch ihn, Nefer, in eine ausgesprochen gefährliche Situation geraten war. Und da er wusste, dass sie den Menschen zugetan war – genauer gesagt, einem besonderen Menschenmädchen –, schlug er Majestät vor: »Tija und Seba könnten Che-Nupet zu Feli bringen.«
Che-Nupet hörte auf zu trappeln und zu rupfen.
»Das könnten sie«, meinte Majestät nachdenklich. »Ja, das könnten sie. Dort wirst du unter freundlicher Anleitung das menschliche Revier erkunden. Feli hat auf mich einen guten Eindruck gemacht.«
»Ja, Majestät«, pflichtete Nefer seiner Königin bei und grinste. »Ich würde auch gerne mitgehen.«
»Für dich habe ich eine andere Aufgabe vorgesehen. Nephthys’ Berater ist alt geworden; sie hat darum gebeten, dass er einen jungen Kater anlernen möge. Ich habe ihr zugesagt, dass ich ihr jemanden schicke.«
»Nephthys? Sie ist die Clanchefin der fel’Landa, nicht wahr?«
»Und Sarapis ist der Weise dort in den Witterlanden.«
Nefer fühlte sich geschmeichelt. Vor einem halben Jahr hatte er die zweite Prüfung abgelegt und sie nach anfänglichen Schwierigkeiten doch mit Bravour gemeistert. Allerdings war er in einem Kampf mit einer hinterhältigen Kätzin verwundet worden, und dabei hatte er ein Auge verloren. Er hatte sich inzwischen daran gewöhnt, ja, es schien sogar, dass andere Sinne dadurch schärfer geworden waren. Insbesondere seine Schnurrhaare reagierten deutlich sensibler. Einzig seine Eitelkeit war noch nicht wieder ganz genesen. Nefer war einst stolz auf sein gutes Aussehen gewesen – schwarz war er, ohne ein einziges weißes Haar, schlank und muskulös wie ein Krieger, doch besonders beeindruckend waren die strahlend blauen Augen in seinem schmalen Gesicht.
Nun war eines erloschen und nur eine Narbe an dieser Stelle verblieben.
Indes – die Position eines Beraters würde er auch einäugig wahrnehmen können. Und die Witterlande waren ein schönes Gebiet – eine Heidelandschaft mit vereinzelten Gehölzen, von kleinen Gewässern durchzogen, karstig zum Mittelgrat hin, wo Höhlen den Bewohnern Unterschlupf boten. Der Clan der fel’Landa war als genügsam und umgänglich bekannt, weit unprätentiöser als etwa die fel’Avel, die sich damit brüsteten, besonders oft die Königin gestellt zu haben, oder die fel’Sapin mit ihrem pflegeaufwendigen Langhaarpelz, die namenlos arrogant waren. Die fel’Landa hingegen waren überwiegend grau getigerte Kurzhaarkatzen, oft mit weißem Latz oder weißen Pfoten, unauffällig im Gelände, begabte Jäger und wenn nötig auch kraftvolle Kämpfer. Man sagte ihnen zudem nach, dass ihre Angehörigen auch recht menschenfreundlich waren und etliche von ihnen einige Jahre in der anderen Welt verbrachten, um die Menschen Weisheit zu lehren.
Ja, Nefer war zufrieden mit der königlichen Entscheidung, ihn dorthin zu schicken. Nur ein klein wenig bedauerte er, dass er Feli nicht besuchen durfte. Er hatte eine sehr lebhafte Erinnerung daran, wie angenehm sich das Kraulen ihrer Finger angefühlt hatte. Und anderes …
Dennoch war seine neue Aufgabe eine Herausforderung, der er erfreut entgegensah. Aber bevor er in die Witterlande aufbrach, wollte er noch eine weitere Angelegenheit geregelt wissen. Seine drei Freunde, Sem, Pepi und Ani, die er bei der Bewältigung seiner letzten Prüfung mitgenommen hatte, damit sie ihre ersten Erfahrungen in der Menschenwelt sammeln konnten, waren kläglich gescheitert, und dafür fühlte er sich noch immer verantwortlich. Sie sollten eine zweite Chance bekommen. Deshalb schlug er Majestät nun vor: »Auf Sem, Pepi und Ani hat Felina auch einen guten Eindruck gemacht. Es wäre nicht schlecht, wenn die drei Kater mit den Einkäuferinnen und Che-Nupet mitgehen würden. Sie haben aus dem letzten Aufenthalt viel gelernt.«
»Meinst du?«
Majestät sah ihn über ihre königliche Nase höchst zweifelnd an.
»In Menschengestalt haben sie einen Monat dort zugebracht und sind sorgfältig unterrichtet worden. Sie haben sogar menschliche Identitäten erhalten.«
Nefer erhielt Unterstützung von Tija, die meinte: »Es könnte ganz nützlich sein, ein, zwei Männer dabeizuhaben. Menschen leben in Paaren zusammen, wir wären unauffälliger.«
»Ja, aber sie müssen uns gehorchen, Tija. Sie sind noch sehr jung, die drei«, gab Seba zu bedenken.
»Ein Mann, zwei Kater«, entschied Majestät. »Und eine Katze.«
Nefer beobachtete, dass es unter Che-Nupets Fell zuckte. Aber sie sagte nichts.
»Einen Monat lang. Vom nächsten Silbermond an. Che-Nupet, sind die Grauen Wälder passierbar?«
»Haben die Pfadfinder alle Namenlosen geholt, ja, ja. Ist nur einer noch in den Schatten.«
»Der bleibt auch da. Was ist mit Shepsi?«
»Versteckt sich, ne? Muss ich suchen, ja? Bleib ich hier.«
»Keine Ausrede, Che-Nupet.«
Majestät sah die rundliche Katze sehr streng an, und Nefer verspürte so etwas wie Mitleid mit ihr. Ganz offensichtlich hatte Che-Nupet Angst davor, sich unter Menschen aufzuhalten. Sie war schon ein seltsames Geschöpf.
»Es ist wirklich nicht schlimm«, brummelte er ihr zu. »Finn und Feli werden sich freuen, dich zu sehen. Sie tragen beide Ringe und werden dich verstehen.«
»Muss ich kleine Katze sein, ne«, nuschelte Che-Nupet.
»Ich war es auch, und es war ziemlich nett. Fahrrad fahren hat mir gefallen und … ähm … Eierlikör.«
Majestät grollte.
»Und dir haben die Sahne und die Leberwurst auch geschmeckt, Majestät!«, schnaubte Nefer.
»Ja, ja, ja. Sie gehen sehr pfleglich mit ihren Katzen um, diese Menschen. Nathan hat mich sogar ohne Ring verstanden. Such ihn auf, Che-Nupet!«
Che-Nupet trappelte wieder, putzte sich dann den Schwanz und das zuckende Fell.
Majestät ignorierte sie und fixierte Tija und Seba.
»Ach ja, Leberwurst. Bringt mir ein ordentliches Stück mit, wenn ihr zurückkommt. Feine, geräucherte.« Und ihr Blick wurde strenger. »Und nicht unterwegs auffressen, klar?«
»Klar, Majestät!«
»Also dann!«
4. Gestaltwandler
Anfangs war es Wut gewesen, gespeist aus Niederlagen und Demütigung. Verrat und Hinterlist hatten ihn dazu getrieben, die Flucht anzutreten, und seit jenen Tagen war er durch die Grauen Wälder gezogen, zornig, verbittert, gekränkt. Allerlei Ideen hatte er gewälzt, Möglichkeiten, denen zu schaden, die ihn betrogen hatten. Insbesondere dem hochgelobten, wohlgeachteten Seelenführer, der ihm die Macht in Aussicht gestellt hatte – und sie doch nur für sich erstrebte.
Aber dann war der bestraft worden, und seit er als Namenloser wie ein Schatten durch das ewige Dämmerlicht schlich, war seine eigene brennende Wut erkaltet und hatte dem kühlen, besonnenen Wunsch nach Rache Platz gemacht.
Er konnte wieder klar denken, planen, Dinge bewegen. Dankbar erinnerte er sich an die Löwenköpfige, die sein Anliegen verstanden hatte. Ihr zu Gefallen würde er die Frevler vernichten, die gegen alle Weisung von dem kostbaren Nass gekostet hatten. Die ersten Schritte waren schon erfolgreich gewesen. Wenn er auch die Menschen verabscheute, so war er doch in der Lage, sie nach seinen Wünschen zu lenken. Wie nützlich, dass ausgerechnet Feli und der dämliche Finn Katzengeborene zu sich genommen hatten. Pu-Shen war vertrauensvoll und hatte ihm in den drei Tagen, die sie miteinander verbracht hatten, allerlei Wissenswertes erzählt. Weit weniger hilfreich war die kleine Schwarze, diese Chipolata. Sie hatte auf seine freundlichen Annäherungen als Kater ausgesprochen kratzborstig reagiert. Ein widerlich krallenscharfes Geschöpf. Aber dennoch hatte er insgesamt genug erfahren, um seine nächsten Schritte zu planen.
In der Gestalt eines Menschen.
5. Kopftuch-Contest
Auf Felinas Schreibtisch stand neben dem Bildschirm eine kleine Katzenfigur aus schwarzem Marmor. Sie war eine Replik jener Statuen, die man im alten Ägypten mit großer Liebe und Kunstfertigkeit von diesen königlichen Tieren angefertigt hatte. Die Katze saß aufrecht, den Schwanz sorgsam um die Füße gelegt, den Blick in die Ferne gerichtet. In einem Ohr baumelte ein winziger goldener Ring, um den Hals trug sie ein Ankh – ein Henkelkreuz, Sinnbild des ewigen Lebens.
Die Statue hatte Gesa, Felis Großmutter, gehört, ebenso wie die kleine goldene Kreole, die Feli seit deren Tod im vergangenen Frühjahr immer im Ohrläppchen trug.
Eine weitere kleine Statue hatte sie selbst erworben, und die zeigte die katzenköpfige Göttin Bastet. Sie hatte diese Nachbildung in einem Museumsshop entdeckt, und sie hatte Feli derart angezogen, dass sie ihr Taschengeld dafür ausgegeben hatte. Bastet galt als Beschützerin der Katzen, aber sie war auch eine lebenslustige Göttin, die viel für Musik und Tanz übrighatte und für geistige und körperliche Gesundheit sorgte. Nun lächelte die schlanke Ägypterin Felina zu, und dann und wann lächelte sie zurück.
Unter dem Tisch stand auch noch der Weidenkorb, in dem einst für ein paar Wochen ein schwarzer Kater sein Lager gefunden hatte. Pu-Shen hatte einmal an dem Korb gerochen und dann gebührend Abstand davon gehalten. Offensichtlich waren noch deutliche Besitzansprüche an ihn geknüpft.
Feli selbst saß versonnen an dem Tisch und streichelte die Katzenfigur.
Es war jetzt einen Monat her, dass sie Pu-Shen wiedergefunden hatte, und seither wollte der Kater kaum noch das Haus verlassen. Nur zweimal am Tag strich er inwärts um den Zaun, ansonsten blieb er auf einem Gartenstuhl liegen und beobachtete Vögel und Schmetterlinge. Nur Chipolata schaffte es hin und wieder, ihn aufzuschrecken und eine Balgerei mit ihm zu beginnen.
Feli hatte alles versucht, Pu-Shen verständlich zu machen, dass sie ihm nicht böse war, aber der Kater hatte sich von seinem schlechten Gewissen noch immer nicht erholt. Was mochte da nur vorgefallen sein?
Sei’s drum, befand Feli und betastete den Ring in ihrem Ohr. Wie so oft zog ein leises Sehnen an ihrem Herzen. Das Geheimnis, das er barg, konnte sie niemandem anvertrauen –außer Finn. Und von ihm wusste sie, dass er diese Sehnsucht teilte. Wann immer sie sich trafen, spürte sie es, und manchmal sprachen sie darüber. Ihre Tante glaubte, Finn sei ihr Freund, und verdrückte sich immer taktvoll, wenn er sie besuchte. Ein Freund war er auch, sicher. Das, was sie gemeinsam erlebt hatten, hatte ein festes Band zwischen ihnen geknüpft, das allerdings nichts mit einer Liebesbeziehung zu tun hatte. Sie respektierte ihn. Als sie zurückgekommen waren, hatte er endlich seinen Weg gefunden. Er hatte ein Praktikum bei Nathan Walker, dem Förster, begonnen und studierte jetzt Forstwirtschaft. Sie wusste, dass auch er – ähnlich wie sie – hin und wieder unter Albträumen litt. Das war etwas, womit sie zu leben hatten, und einmal hatte Finn sogar gesagt: »Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, sie hätten mir die Erinnerung genommen.«
Seine Albträume waren schlimmer als ihre, qualvoller und grausamer, das wusste sie. Aber weder seine noch ihre wogen die guten Erinnerungen auf.
»Wir haben Freunde gefunden, Finn. Möchtest du die wirklich vergessen?«
Er hatte gelächelt und den Kopf geschüttelt.
»Nein, Feli. Ich vermisse sie oft. Nefer und Sem und sogar diese komische Che-Nupet.«
»Man könnte einfach rübergehen, wir haben die Ringe.«
»Ja, könnte man.«
»Macht man aber nicht.«
»Vielleicht wollen sie uns prüfen …«
Feli hatte sich so etwas auch schon überlegt. Denn noch mehr lastete auf ihr ein weiteres Geheimnis, das zu wahren sie versprochen hatte. Wenn sie es preisgeben würde, war ihr Leben verwirkt. Obwohl Che-Nupet sich als ihre Freundin bezeichnete – sie hatten gemeinsam etwas außerordentlich Verbotenes getan –, die seltsame Katze würde Feli trotz aller Zuneigung töten müssen.
Also schwieg sie, träumte manchmal von Trefélin und seinen bezaubernden Bewohnern.
Aber manchmal wurden diese Träume auch beängstigend. Dann kamen wieder die Panther auf sie zu, jagten sie und wollten sie töten. Inzwischen hatte sie festgestellt, dass vor allem in den Nächten des abnehmenden und des neuen Mondes diese Szenen sie schreckten.
Pu-Shen kam angemaunzt und hatte ein Anliegen, das etwas mit einem Vogel vor dem Fenster zu tun haben musste, der leider nicht in seiner Reichweite war. Feli wachte aus ihren Gedanken auf und öffnete ihm das Fenster.
Und widmete sich wieder der Gegenwart.
Es gab wichtigere Dinge in Angriff zu nehmen. Die Abiturarbeiten waren geschrieben, es gab dafür nichts mehr zu lernen und vorzubereiten. Ihren Führerschein hatte sie gemacht – auch den für Motorräder, was ihre Eltern noch gar nicht wussten. Und das bedeutete, dass der Stress noch nicht vorbei war.
Denn da war ihre Zukunft, und da war ihre Mutter. Und beides zusammen bedeutete nichts als Ärger.
Vor drei Jahren hatten ihre Eltern, beide Wissenschaftler, einen Auftrag angenommen, der sie nach China führte. Feli war bei ihrer Großmutter Gesa geblieben, Vater und Mutter tauchten alle halbe Jahre für einen längeren Heimataufenthalt bei ihr auf. Es waren Besuche, auf die Feli sich nicht besonders freute. Seit sie als Kind eine Herzmuskelentzündung gehabt hatte, war ihre Mutter äußerst besorgt um sie und hatte ihr eingeredet, alle und jede Anstrengung vermeiden zu müssen. Was für einen im Grunde völlig gesunden jungen Menschen eine schreckliche Einschränkung darstellte. Erst als Gesa krank wurde und Tante Iris, die Schwester von Felis Vater, zu ihr gezogen war, um sie zu pflegen, hatte es eine Veränderung gegeben. Iris war eine Naturfreundin, die ein Tourismusunternehmen aufgebaut hatte, das geführte Wanderungen anbot. Sie behandelte Felis angebliche Herzschwäche mit resoluter Missachtung und forderte das Mädchen auf, sich vernünftig zu bewegen. Mehr noch aber hatten Gesas Tod und die darauf folgenden abenteuerlichen Ereignisse dazu beigetragen, dass Feli nun nicht mehr daran glaubte, ein schwächelndes Herz zu haben – anders als ihre Mutter, die, laut Iris, mit ihrer übertriebenen Sorge um ihr Kind bloß das schlechte Gewissen beruhigen wollte, das an ihr nagte, weil sie Feli wegen des Auslandsprojektes allein gelassen hatte.
Und beim letzten Besuch hatte sich diese Sorge in einem weiteren heftigen Streit entladen, denn statt ein langweiliges Sprachenstudium zu absolvieren, hatte Feli beschlossen, Tiermedizin zu studieren.
Tränen, Schluchzen, Beschwörungen, Drohungen, Geschrei, knallende Türen, erneutes Flehen und Schluchzen – das Drama wurde mit allen Requisiten und großen Bühneneffekten aufgeführt. Es endete damit, dass Iris in einer der Spielpausen kühl erklärte, dass sie die Studiengebühren für Feli übernehmen wolle.
»Gesa hat mir genug vererbt, und ich denke, sie hätte es gutgeheißen, wenn ihre Enkelin sich um kranke Tiere kümmert«, war ihre nüchterne Erklärung.
Dem darauf folgenden letzten Akt hatte Feli sich durch Flucht entzogen.
Ihr Vater hatte ihr schließlich aber die Einwilligung erteilt, und gerade deshalb war sie Iris mehr als dankbar für ihre Unterstützung. Mochte ihre Tante auch von herbem Charakter sein, gradlinig und wenig gefühlvoll – von Tag zu Tag mehr gefiel Feli ihr praktisches, logisches Denken und Handeln. Sie verfolgte unbeirrbar ihre Ziele, vertrat ebenso unbeirrbar ihre Ansichten, und selbst wenn man sie deshalb stur nannte, störte sie das wenig. Sicher, auch mit ihr hatte Feli einige Auseinandersetzungen gehabt, aber sie verliefen sachlich und ohne großes Theater.
Der letzte Elternbesuch über Weihnachten endete im Januar, Anfang August stand der nächste an. Bis dahin würden alle Weichen gestellt sein. Den ersten Schritt hatte Feli an diesem Vormittag getan. Dr. Nicole Labanca, Tierärztin im Nachbarort, hatte sich bereit erklärt, sie als Praktikantin aufzunehmen. Und im Herbst würde sie sich zum Studium der Veterinärmedizin einschreiben. Die Unterlagen hatte sie bereits ausgefüllt, und gerade malte sie sich aus, wie sie eine eigene kleine Wohnung suchen würde, in der auch Pu-Shen glücklich leben könnte. Vielleicht eine Wohngemeinschaft …
Felis Zukunftsträume wurden von Kristin, Finns Schwester, unterbrochen, die mit strahlender Miene ins Zimmer getänzelt kam.
»Ich hab einen Job«, quiekte sie. »Einen supermegatollen Job!«
»Ich auch.«
»Aber meiner ist besser. Ich werde mich nicht mit beißenden Hunden und kratzenden Katzen herumschlagen müssen. Ich darf in der Moderedaktion der Visagistin helfen.«
»Dann hast du es ja nur mit beißenden und kratzenden Models zu tun. Das ist bestimmt viel entspannter.«
»Du wirst mir bestimmt ein paar Tricks verraten – mit Chip kommst du ja auch klar.«
»Lern schnurren.«
Kristin kicherte.
»Klappt vielleicht bei männlichen Models.«
»Ganz bestimmt.«
»Sollte Nerissa auch mal lernen. Sie hat derzeit ziemlich Driss mit ihren Männern.«
»Wie das?«
»Georgie ist über das Verfallsdatum. Aber er will es noch nicht wahrhaben. Er lungert ständig in der Redaktion herum und schmollt und bettelt, sagt sie.«
»Hat sie einen Neuen, Frischeren in Aussicht?«
Nerissa, Kristins und Finns geschiedene Mutter, hatte einen regen Verschleiß an Freunden, und bisher hatte noch keiner länger als ein Jahr in ihrer Gunst gestanden.
»Nein, neu nicht. Eigentlich viel schlimmer. Unser Vater ist wieder aufgetaucht.«
»Oh …«
»Ja, Kord hat sich gemeldet. Er ist aus dem Knast raus und arbeitet jetzt für so einen komischen Wohltätigkeitsverein. Du weißt schon, die ›Helfenden Hände‹, die sich um unsere bedürftigen Mitbrüder kümmern.«
»Halleluja?«
»Ich weiß nicht, könnte sein, dass er im Gefängnis das Licht gesehen und zu Gott gefunden hat. So was soll’s ja geben. Aber Nerissa hat ihn, als er angerufen hat, ziemlich barsch darauf hingewiesen, dass er bei uns nicht erwünscht ist.«
»Und wie siehst du das? Ich meine, er ist dein Vater, nicht?«
»Ich brauche ihn nicht, Feli. Ich kenne ihn kaum. Er ist aus unserem Leben verschwunden, als ich fünf war. Aber Finn hat deshalb wieder mit ihr gezankt. Er meint, er hätte das Recht darauf, ihn zu sehen. Ich glaube, er bedeutet ihm mehr als mir.«
»Er kann ihn ja besuchen, wenn er sich bei euch nicht blicken lassen soll.«
Feli hatte mit Finn nie darüber gesprochen, aber es ging ihr eben durch den Kopf, dass die ständigen Auseinandersetzungen zwischen ihm und seiner Mutter wohl daher rühren mochten, dass er seinen Vater vermisste. Nerissa konnte sehr unversöhnlich sein.
Für Kristin schien das Thema jedenfalls erledigt, sie schwärmte weiter von ihrer zukünftigen Beschäftigung bei der Frauenzeitschrift, in der ihre Mutter Moderedakteurin war.
»Und das Allerschärfste ist, dass sie meine Idee verwenden will. Du weißt doch, zu der mich dein Kopftuch inspiriert hat.«
Feli erinnerte sich an diesen Moment. Sie hatte das Tuch, das sie im vergangenen Jahr geschenkt bekommen hatte, hin und wieder um den Hals geschlungen getragen und damit die Aufmerksamkeit einiger Mitschülerinnen erregt. Vor allem von denjenigen, die ihre Haare bedeckt trugen. Es war allerdings auch ein ausgesprochen schönes Seidentuch. Es schimmerte in braunen, rötlichen und cremefarbenen gewundenen Mustern, hier und da waren kleine grüne Steinchen aufgestickt. Allerdings waren vier mit Goldfäden eingefasste Löcher darin. Feli wusste zwar ganz genau, wozu sie dienten, aber das konnte sie selbst ihrer besten Freundin nicht verraten. Also gab sie an, dass die zu einer besonderen Form der Drapierung gehörten, von der sie aber dummerweise vergessen hatte, wie sie funktionierte.
»Also wird Nerissa einen Kopftuch-Wettbewerb ausrichten?«
»Bandana-Contest. Hört sich besser an, meint die Werbetante. Aber im Prinzip ist es das. Es werden diejenigen ausgewählt, die auf die eleganteste Art ein Kopftuch tragen können. Die Muslimas werden uns die Bude einrennen. Aber du könntest mit deinem Tuch auch eine Chance haben. Hast du es schon mal um den Kopf gebunden?«
Hatte sie, aber trotzdem schüttelte Feli den Kopf.
»Ich bin weder elegant noch habe ich Lust, mich aufzubrezeln.«
Kristin verdrehte ob dieser Abfuhr zwar theatralisch die Augen, aber sie schien nicht verärgert zu sein.
»Ja, ja, du wirst immer mehr zum Naturburschen. Wie Finn auch. Der kraucht schon seit Tagen mit Rudi durch den Wald und versucht, das Schlimmste zu verhindern.«
Feli grinste. Rudi war gemeinhin auch bekannt als »The Master of Desaster«. Derzeit bereiteten sich Finn und er unter Nathan Walkers Aufsicht auf die Prüfung für den Jagdschein vor, und wann immer Finn vorbeikam, berichtete er von den unzähligen Missgeschicken, die Rudi mit geradezu boshafter Aufdringlichkeit zu verfolgen schienen.
»Musste Rudi wieder auf Bäume klettern, um den aufgescheuchten Wildschweinen zu entkommen?«
»Er ist vom Hochsitz gekippt. In die Brombeeren gefallen.«
»Autsch.«
»Finn hat ihn rausgehäkelt. Rudi hat Glück gehabt, war nur ordentlich zerkratzt.«
»Und was hat der Förster dazu gesagt.«
»Nichts. Nathan Walker ist nach Kanada abgereist. Eine Familienangelegenheit. Komm, wir fahren einkaufen – ich will auch so ein Kopftuch, wie du es hast. Ich werde nämlich an dem Contest teilnehmen.«
»Und darum muss ich dich jetzt in die Stadt fahren?«
»Ganz genau. Dafür hat man doch eine Freundin mit dem Motorrad-Führerschein.«
»Wenn ich man bloß auch ein Motorrad hätte«, grummelte Feli.
»Das hör ich von Finn auch ständig. Aber für heute tut’s auch sein Roller.«
Ergeben seufzte Feli auf.
Aber eigentlich war die Idee gar nicht so schlecht. Immerhin durfte sie, seit Finn studierte, über seinen Roller verfügen, wann immer sie ihn brauchte.
6. Master of Desaster
Finn bewegte sich lautlos zwischen den Stämmen der Buchen hindurch. Das gelang ihm von Mal zu Mal besser. Dann und wann blieb er stehen, um zu lauschen und die Luft zu schmecken. Frühling, fast Sommer war es, und es roch – grün. Aber unter all dem Grün lag auch ein Anhauch tierischer Duftnoten. Er konzentrierte sich auf den, den er finden wollte.
Richtig, er war hier gewesen, der scheue Waldkater. Ein kleines Büschel graubrauner Haare hatte sich an einem Baumstamm verfangen und bestätigte Finns Witterung. Aufmerksam sah er sich um.
Bevor Nathan Walker, der Förster, abgereist war, hatte er ihn gebeten, sich um die ausgewilderten Waldkatzen zu kümmern – was heißen sollte, sie vorsichtig zu beobachten. Drei Tiere waren vor einiger Zeit in das Revier entlassen worden, und eine der Kätzinnen hatte wirklich Junge bekommen. Sie aber waren inzwischen weitergezogen, hatten sich hoffentlich einen eigenen Lebensraum erobert.
Finn setzte das Fernglas an und suchte die Gegend ab. Auch darin war er inzwischen geübt. Laub, bemooste Steine, altes Holz boten den Waldkatzen Schutz, beinahe unsichtbar konnten sie sich machen. Aber sie liebten es auch, sich den Pelz in der Sonne zu wärmen, und so widmete er sich besonders den lichten Flecken.
Und richtig, dort auf dem alten Dolmen lag der Kater.
Zufrieden mit seiner Beobachtung setzte Finn das Fernglas ab und ging vorsichtig näher an die aufgerichteten Steine, die vor uralter Zeit vielleicht einmal ein Grabmal oder eine Kultstätte gewesen waren. Heute galten sie als Kulturdenkmal, aber für Finn hatten sie auch noch eine völlig andere Bedeutung. Wie so oft berührte er den goldenen Ohrring mit den Fingern.
Manchmal träumte er noch immer entsetzliche Dinge, aber oft wanderten seine Gedanken auch zurück zu jenen unbeschreiblichen Monaten, in denen er selbst eine Katze gewesen war. In einem anderen Land, zu dem dieser Dolmen der Eingang war. Was er dort erlebt hatte, konnte er keinem anvertrauen. Niemand würde ihm glauben, dass es eine Welt gab, in der die Katzen groß wie Tiger waren und eine höhere Kulturstufe als die Menschen erreicht hatten. Niemand außer Feli und Nathan. Feli, weil sie ebenfalls, wenn auch in menschlicher Gestalt, in Trefélin gewesen war, und Nathan, weil er zur gleichen Zeit Bastet Merit, die Königin der Katzen, in der Form einer kleinen Hauskatze beherbergt hatte. Und weil Nathan über eine Ausbildung verfügte, die es ihm zumindest in seiner Vorstellung erlaubte, das Katzenland zu besuchen.
Nathan Walker war in seiner Jugend bei einem indianischen Schamanen in die Lehre gegangen.
Ein bärbeißiger Mann, hatte Finn einst gedacht, als er das erste Mal mit ihm unter nicht eben günstigen Bedingungen zusammengestoßen war. Doch heute schämte er sich seines blöden Verhaltens. Seine Kumpels und er hatten an eben diesem Dolmen groben Unfug getrieben. Und danach war Finns Leben ziemlich gründlich durcheinandergeraten. Er war nicht böse darüber; die Erfahrungen, die er gesammelt hatte, waren überwiegend nützlich und hatten sein Selbstvertrauen gestärkt. Außerdem hatte es ihm die Freundschaft von Feli und einer frechen Katze eingebracht. Na ja, Chipolata könnte ein bisschen verschmuster sein und häufiger mal die Krallen bei sich lassen. Und – ja, Feli könnte auch verschmuster sein. Obwohl – hin und wieder war sie wirklich lieb zu ihm. Nur über unverbindliche Schmusereien ging ihr Verhältnis nicht hinaus. Dafür aber konnte man ausgesprochen gut mit ihr reden. Was hatte er früher immer darunter gelitten, dass die Frauen ihn nicht ernst nahmen. Feli nahm ihn jetzt ernst, Kristin auch, nur seine Mutter – aber das war ein anderes Ding. Als er nach seinem denkwürdigen Auszug aus dem Haus wieder zurückgekommen war, hatte er ihr mit ziemlich deutlichen Worten gesagt, dass er nicht Jura studieren würde, sondern Forstwirtschaft. Sie hatte herumargumentiert und von vertanen Chancen und Möglichkeiten gesprochen, aber er war hartnäckig geblieben, und irgendwann hatte sie mit den Schultern gezuckt und gesagt, er solle machen, was er für richtig hielt.