Buch
Dunkle Wolken kündigen an einem Frühlingsabend ein Gewitter an, doch bei der Familie Cleve herrscht rege Betriebsamkeit. Es ist Muttertag, und alle haben sich zum traditionellen Festessen versammelt: Da ist Charlotte, die Mutter des neunjährigen Robin, der kleinen Allison und der erst wenige Monate alten Harriet, und da sind Charlottes Mutter Edie sowie ihre drei Schwestern. Während die Frauen letzte Vorbereitungen für das Essen treffen, zucken bereits erste Blitze am Himmel, und plötzlich überkommt Charlotte eine dumpfe Ahnung drohenden Unheils. Als ein gellender Schrei die Luft zerreißt, weiß sie, dass tatsächlich etwas Schreckliches geschehen ist: Eine Nachbarin hat Robin entdeckt – erhängt an einem Baum. Die mysteriösen Umstände von Robins Tod werden nie ganz aufgeklärt, der Mörder wird nie gefasst. So wächst Harriet heran, ohne ihren Bruder je gekannt zu haben, und ihre bohrenden Fragen nach seinem grausamen Schicksal werden in der Familie nur mit beharrlichem Schweigen beantwortet. Doch Harriet hat ihren eigenen Kopf, und als sie zwölf Jahre alt ist, macht sie sich auf die Suche nach dem Mörder ihres Bruders ...
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel
»The Little Friend« bei Alfred A. Knopf, New York.
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Copyright © der Originalausgabe 2002 by Donna Tartt
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in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
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Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
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ISBN: 978-3-641-22596-4
V003
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Für Neal
»Gleichwohl ist … die geringste Erkenntnis, die wir von diesen höchsten Wahrheiten erreichen können, wertvoller und unserer Sehnsucht würdiger als die sicherste Erkenntnis der geringfügigen irdischen Dinge.«
THOMAS VON AQUIN SUMMA THEOLOGICA I, 1,5 AD 1
Meine Damen und Herren, ich bin nunmehr mit einer Handschelle gefesselt, an deren Herstellung ein britischer Mechaniker fünf Jahre gearbeitet hat. Ich weiß nicht, ob ich mich daraus befreien werde oder nicht, aber ich kann Ihnen versichern, dass ich mein Bestes tun werde.
HARRY HOUDINI, LONDON HIPPODROME, SAINT PATRICK’S DAY 1904
PROLOG
Für den Rest ihres Lebens würde Charlotte Cleve sich die Schuld am Tod ihres Sohnes geben, weil sie entschieden hatte, das Muttertagsessen abends um sechs stattfinden zu lassen und nicht mittags nach der Kirche, wie es bei den Cleves sonst üblich war. Die älteren Cleves hatten ihren Unmut über diese Planung zum Ausdruck gebracht, und wenn dies auch hauptsächlich auf ihren prinzipiellen Argwohn gegen jegliche Art von Neuerung zurückzuführen war, ahnte Charlotte, dass sie auf das unterschwellige Murren hätte hören sollen – als eine zarte, aber ominöse Warnung vor dem, was geschehen würde, eine Warnung, die einem zwar selbst rückblickend noch reichlich undeutlich erscheint, die aber vielleicht so gut war wie jede andere, auf die wir in diesem Leben hoffen dürfen.
Sosehr die Cleves das Erzählen liebten und sich gegenseitig sogar die geringfügigeren Ereignisse ihrer Familiengeschichte wiederholt schilderten – Wort für Wort, mit ausgefeilten stilistischen und rhetorisch wirksamen Pausen, ganze Sterbeszenen oder auch hundert Jahre zuvor gemachte Heiratsanträge –, die Ereignisse dieses schrecklichen Muttertags wurden doch niemals erörtert. Niemals, nicht einmal in unbeobachteten Zweiergruppen, zusammengeführt durch eine lange Autofahrt oder durch geteilte Schlaflosigkeit in nächtlichen Küchen, und das war ungewöhnlich, denn mit Hilfe dieser familiären Erörterungen machten die Cleves sich einen Reim auf die Welt. Noch die grausamsten und willkürlichsten Katastrophen – der Feuertod, der einen von Charlottes Cousins im Säuglingsalter ereilt hatte, oder der Jagdunfall, bei dem Charlottes Onkel zu Tode gekommen war, als sie noch zur höheren Schule ging – wurden ständig bei ihnen durchgespielt, und die sanfte Stimme ihrer Großmutter und die strenge ihrer Mutter verschmolzen harmonisch mit dem Bariton ihres Großvaters und dem Geschnatter der Tanten. Bestimmte Ausschmückungen, improvisiert von wagemutigen Solisten, wurden eifrig aufgenommen und vom Chor ausgearbeitet, bis sie schließlich mit vereinten Kräften bei einem einzigen Lied angelangt waren, einem Lied, das dann auswendig gelernt und von der ganzen Gesellschaft wieder und wieder gesungen wurde, und nach und nach höhlte es die Erinnerung aus und nahm den Platz der Wahrheit ein: Der zornige Feuerwehrmann, gescheitert in seinen Bemühungen, den winzigen Leichnam wiederzubeleben, vollzog die süße Wandlung zum weinenden Feuerwehrmann. Der trübselige Hühnerhund, den der Tod seines Herrn für mehrere Wochen in Verwirrung stürzte, gestaltete sich zur kummervollen Queenie der Familienlegende, die ihren Geliebten unermüdlich im ganzen Hause suchte und nachts untröstlich in ihrem Zwinger heulte und die in freudiger Begrüßung bellte, wenn der liebe Geist durch den Garten herankam, ein Geist, den nur sie selbst wahrnehmen konnte. »Hunde können Dinge sehen, die wir nicht sehen können«, intonierte Charlottes Tante Tat stets aufs Stichwort an der entsprechenden Stelle der Geschichte; sie hatte eine mystische Ader, und der Geist war eine von ihr eingeführte Neuerung.
Aber Robin: ihr lieber kleiner Robs. Mehr als zehn Jahre später war sein Tod noch immer eine Qual; da gab es kein Detail zu beschönigen, und keiner der narrativen Kunstgriffe, die den Cleves zu Gebote standen, konnte das Grauenvolle daran beheben oder umwandeln. Und da diese eigenwillige Amnesie verhindert hatte, dass Robins Tod in jene gute alte Familiensprache übersetzt wurde, die selbst die bittersten Geheimnisse zu behaglicher, begreiflicher Form glättete, war die Erinnerung an die Ereignisse jenes Tages von chaotischer, fragmentierter Beschaffenheit – gleißende Spiegelscherben eines Albtraums, die aufblitzten beim Duft der Glyzine, beim Knarren einer Wäscheleine oder wenn das Licht eines Frühlingstags einen bestimmten Gewitterton annahm.
Manchmal erschienen diese eindringlich aufstrahlenden Erinnerungen wie die Bruchstücke eines bösen Traums – als wäre das alles nie geschehen. Und doch schien es in vielfacher Hinsicht das einzig Wirkliche zu sein, das in Charlottes Leben je geschehen war.
Die einzige Erzählweise, die sie diesem Gewirr von Bildern überstülpen konnte, war die Überlieferung des Rituals, das seit ihren Kindertagen unverändert war: der fest gefügte Rahmen des Familientreffens. Aber selbst das war wenig hilfreich: Gebräuche waren in jenem Jahr missachtet, Hausregeln ignoriert worden. Rückblickend verschmolz alles zu einem Wegweiser, der in Richtung Katastrophe deutete. Das Essen hatte nicht wie sonst im Hause ihres Großvaters stattgefunden, sondern bei ihr. Die Ansteckbouquets waren aus Cymbidiumorchideen gewesen, nicht aus den üblichen Rosenknospen. Hühnerkroketten – die alle gern aßen, die Ida Rhew immer gelangen, die man bei den Cleves zu Geburtstagen und an Heiligabend reichte – hatte es jedoch noch nie am Muttertag gegeben; da hatte es, soweit sich irgendjemand erinnern konnte, überhaupt nie etwas anderes gegeben als Zuckererbsen, Maispudding und Schinken.
Ein stürmischer, leuchtender Frühlingsabend, tief hängende, verwischte Wolken und goldenes Licht, der Rasen übersät von Löwenzahn und Wiesenblumen. Die Luft roch frisch und straff nach Regen. Lachen und Geplauder im Haus, und einen Augenblick lang erhob sich die quengelnde Stimme von Charlottes alter Tante Libby hoch und klagend über die andern: »Aber ich habe so etwas noch nie getan, Adelaide, noch nie im Leben habe ich so etwas getan!« Der ganzen Familie Cleve machte es Spaß, Tante Libby aufzuziehen. Sie war eine Jungfer und hatte Angst vor allem, vor Hunden und Gewittern und Früchtebrot mit Rum, vor Bienen, Negern und der Polizei. Ein kräftiger Wind zerrte an der Wäscheleine und wehte auf dem Brachgrundstück auf der anderen Straßenseite das hohe Unkraut flach. Die Fliegentür flog zu. Robin kam herausgerannt, quiekend vor Lachen über einen Witz, den seine Großmutter ihm erzählt hatte (Warum ist der Brief feucht? Weil die Frankiermaschine leckt.), und sprang immer zwei Stufen auf einmal herunter.
Es hätte zumindest jemand draußen sein müssen, der auf das Baby aufpasste. Harriet war damals noch nicht einmal ein Jahr alt, ein schweres, ernstes Baby mit schwarzem Schopf, das niemals weinte. Sie war draußen auf dem Weg vor dem Haus, festgeschnallt in ihrer tragbaren Schaukel, die vor- und zurückwippte, wenn man sie aufzog. Ihre Schwester Allison, vier Jahre alt, spielte auf den Stufen still mit Weenie, Robins Katze. Anders als Robin, der in diesem Alter unaufhörlich und ausgelassen mit seinem rauen Stimmchen geschwatzt und sich vor lauter Vergnügen über seine eigenen Witze auf dem Boden gekugelt hatte, war Allison scheu und ängstlich und weinte, wenn jemand ihr das ABC beibringen wollte; und die Großmutter der Kinder (die auf dieses Verhalten mit Ungeduld reagierte) kümmerte sich kaum um sie.
Tante Tat war schon früh draußen gewesen und hatte mit dem Baby gespielt. Charlotte selbst, die zwischen Küche und Esszimmer hin- und herrannte, hatte ein-, zweimal den Kopf hinausgestreckt – aber sie hatte nicht genau Acht gegeben, weil Ida Rhew, die Haushälterin (die beschlossen hatte, ihre montägliche Wäsche schon jetzt in Angriff zu nehmen), immer wieder im Garten erschien, um Kleider auf die Leine zu hängen. Charlotte war deshalb zu Unrecht beruhigt gewesen, denn an ihrem normalen Waschtag – montags – war Ida immer in Hörweite, ob im Garten oder bei der Waschmaschine auf der hinteren Veranda, und so konnte man selbst die Kleinsten gefahrlos draußen allein lassen. Aber Ida war an diesem Tag gehetzt, verhängnisvoll gehetzt, denn sie hatte die Gäste zu versorgen und nicht nur das Baby, sondern auch den Herd im Auge zu behalten. So war sie miserabler Laune, weil sie normalerweise sonntags um eins nach Hause kam, und jetzt musste nicht nur ihr Mann, Charley T., selbst für sein Essen sorgen, sondern sie, Ida Rhew, versäumte auch noch die Kirche. Sie hatte darauf bestanden, das Radio in die Küche zu stellen, damit sie wenigstens die Gospelshow aus Clarksdale hören konnte. Mürrisch wurschtelte sie in ihrem schwarzen Dienstbotenkleid mit der weißen Schürze in der Küche herum, die Lautstärke ihrer Evangeliumssendung bockig laut gestellt, und goss Eistee in hohe Gläser, während die sauberen Hemden draußen auf der Wäscheleine sich drehten und um sich schlugen und in ihrer Verzweiflung vor dem kommenden Regen die Arme hochrissen.
Robins Großmutter war auch irgendwann auf der Veranda gewesen; so viel stand fest, denn sie hatte ein Foto gemacht. Es gab nicht viele Männer in der Familie Cleve, und handfeste, maskuline Tätigkeiten – Bäume beschneiden, Reparaturen im Haushalt vornehmen, die Älteren zum Einkaufen und in die Kirche fahren – waren größtenteils ihr zugefallen. Sie erledigte das alles fröhlich und mit einem forschen Selbstbewusstsein, zum Erstaunen ihrer schüchternen Schwestern. Von ihnen konnte keine auch nur Auto fahren, und die arme Tante Libby hatte solche Angst vor Geräten und mechanischen Apparaten jeglicher Art, dass sie schon bei der Aussicht darauf, eine Gasheizung anzuzünden oder eine Glühbirne zu wechseln, in Tränen ausbrach. Sie waren zwar fasziniert von der Kamera, aber auch auf der Hut vor ihr, und sie bewunderten den unbekümmerten Wagemut ihrer Schwester im Umgang mit diesem männlichen Instrument, das Laden und Zielen und Abdrücken erforderte wie eine Pistole. »Seht euch Edith an«, sagten sie dann, wenn sie sahen, wie sie den Film zurückspulte oder mit fachmännischer Geschwindigkeit die Schärfe einstellte. »Es gibt nichts, was Edith nicht kann.«
Es war eine Familienweisheit, dass Edith bei aller Brillanz auf vielfältigen Fachgebieten keine besonders glückliche Hand mit Kindern hatte. Sie war stolz und ungeduldig, und ihre Art ließ wenig Platz für Herzlichkeit. Charlotte, ihr einziges Kind, lief immer zu ihren Tanten (vorzugsweise zu Tante Libby), wenn sie Trost, Zuneigung und Bestätigung brauchte. Harriet, das Baby, hatte noch kaum erkennen lassen, dass sie irgendjemanden bevorzugte, aber Allison graute es vor den energischen Versuchen ihrer Großmutter, sie zur Aufgabe ihrer Schweigsamkeit anzustacheln, und sie weinte, wenn sie bei ihr bleiben musste. Aber, oh, wie hatte Charlottes Mutter den kleinen Robin geliebt, und wie hatte er ihre Liebe erwidert. Sie – eine würdevolle Dame mittleren Alters – spielte mit ihm im Vorgarten Fangen, sie fing Schlangen und Spinnen in ihrem Garten und gab sie ihm zum Spielen, und sie brachte ihm lustige Lieder bei, die sie als Krankenschwester im Zweiten Weltkrieg von den Soldaten gelernt hatte.
EdieEdieEdieEdieEdie! Sogar ihr Vater und ihre Schwestern nannten sie Edith, aber Edie war der Name, den er ihr gegeben hatte, als er gerade hatte sprechen können und kreischend vor Vergnügen wie toll auf dem Rasen umhergerannt war. Einmal, als Robin ungefähr vier war, hatte er sie ganz ernst altes Mädchen genannt. »Armes altes Mädchen«, hatte er gesagt, gravitätisch wie eine Eule, und ihr dabei mit seiner kleinen, sommersprossigen Hand die Stirn getätschelt. Charlotte wäre es nicht im Traum eingefallen, mit ihrer schneidigen, geschäftsmäßigen Mutter so vertraulich umzugehen, schon gar nicht, wenn sie mit Kopfschmerzen im Schlafzimmer lag; aber die Sache hatte Edie sehr erheitert, und inzwischen war es eine ihrer Lieblingsgeschichten. Ihr Haar war grau, als er zur Welt kam, aber als sie jünger war, war es leuchtend kupferrot gewesen, genau wie Robins. Für Robin Rotkehlchen schrieb sie auf die Schildchen an seinen Geburtstags- und Weihnachtsgeschenken oder Für meinen roten Robin. In Liebe von deinem armen alten Mädchen.
EdieEdieEdieEdieEdie! Er war jetzt neun, aber seine traditionelle Begrüßung, sein Liebeslied an sie, war zu einem Scherzwort in der Familie geworden, und er sang es quer durch den Garten, wie er es immer tat, als sie an jenem Nachmittag, an dem sie ihn zum letzten Mal sah, auf die Veranda herauskam.
»Komm und gib dem alten Mädchen einen Kuss«, rief sie. Für gewöhnlich ließ er sich gern fotografieren, aber manchmal war er scheu – dann kam nichts als ein verwischter Rotschopf, spitze Ellenbogen und Knie auf hastiger Flucht dabei heraus –, und als er jetzt die Kamera an Edies Hals sah, nahm er Reißaus und bekam vor Lachen einen Schluckauf.
»Komm zurück, du Schlingel!«, rief sie, und dann hob sie spontan die Kamera und drückte trotzdem auf den Auslöser. Es war das letzte Bild, das sie von ihm hatten. Verschwommen. Eine flache grüne Fläche, leicht schräg, mit einem weißen Geländer und dem wogenden Glanz eines Gardenienbusches scharf im Vordergrund, am Rande der Veranda. Ein düsterer, gewitterfeuchter Himmel, ineinander verfließendes Indigo und Schiefergrau, wallende Wolken, umstrahlt von Zacken aus Licht. In der Ecke des Bildes rannte Robin, ein verwischter Schatten mit dem Rücken zum Betrachter, über den nebligen Rasen hinaus und seinem Tod entgegen, der – beinahe sichtbar – dastand und ihn erwartete, an dem dunklen Fleck unter dem Tupelobaum.
Tage später, als sie im verdunkelten Zimmer lag, war im Nebel der Tabletten ein Gedanke durch Charlottes Kopf gehuscht. Immer wenn Robin irgendwo hinging – zur Schule, zu einem Freund, zu Tante Edie, um den Nachmittag bei ihr zu verbringen –, war es ihm sehr wichtig gewesen, auf Wiedersehen zu sagen, und zwar auf zärtliche und häufig ausgedehnte und zeremonielle Art und Weise. Sie hatte tausend Erinnerungen an kleine Zettel, die er geschrieben hatte, an Kusshände aus Fenstern, an seine kleine Hand, die vom Rücksitz eines abfahrenden Wagens auf und ab flatterte: Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen! Als Baby hatte er sehr viel eher bye-bye als hello sagen können, und er hatte die Leute damit begrüßt und sich von ihnen verabschiedet. Charlotte kam es besonders grausam vor, dass es diesmal kein Aufwiedersehen gegeben hatte. Sie war so außer sich gewesen, dass sie sich nicht mehr klar an ihren letzten Wortwechsel mit Robin entsinnen konnte, ja, nicht einmal daran, wann sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, während sie doch etwas Konkretes brauchte, irgendeine kleine, unwiderrufliche Erinnerung, die die Hand in ihre schieben und sie begleiten konnte, wenn sie jetzt blind durch diese jäh entstandene Wüste des Daseins stolperte, die sich vom gegenwärtigen Augenblick bis zum Ende ihres Lebens vor ihr ausdehnte. Halb von Sinnen vor Trauer und Schlaflosigkeit, hatte sie unentwegt mit Libby geplappert (Tante Libby war es gewesen, die sie über diese Zeit hinweggebracht hatte, Libby mit ihren kühlen Tüchern und ihrem Lavendelöl, Libby, die Nacht um Nacht mit ihr wach geblieben war, Libby, die nie von ihrer Seite gewichen war, Libby, die sie gerettet hatte), denn weder ihr Ehemann noch sonst jemand hatte ihr auch nur den fadenscheinigsten Trost spenden können, und auch wenn ihre eigene Mutter (die auf Außenstehende den Eindruck machte, sie »verkrafte die Sache gut«) sich in ihren Gewohnheiten und ihrer Erscheinung nicht veränderte und weiter tapfer ihren täglichen Pflichten nachging, würde sie doch nie wieder so sein wie früher. Der Schmerz hatte sie versteinert, und es war schrecklich mitanzusehen. »Raus aus dem Bett, Charlotte!«, blaffte sie und stieß die Fensterläden auf. »Hier, trink eine Tasse Kaffee, bürste dir das Haar, du kannst nicht ewig so herumliegen.« Und sogar die unschuldige alte Libby erschauerte manchmal vor der gleißenden Kälte in Edies Blick, wenn sie sich vom Fenster abwandte und ihre Tochter anschaute, die reglos im dunklen Schlafzimmer lag: wild und erbarmungslos wie Arcturus.
»Das Leben geht weiter.« Das war einer von Edies Lieblingssätzen. Es war eine Lüge. In jenen Tagen erwachte Charlotte immer noch in einem medikamentösen Delirium, um ihren toten Sohn für die Schule zu wecken, und fünf- oder sechsmal in der Nacht schrak sie aus dem Bett hoch und rief seinen Namen. Und manchmal glaubte sie einen oder zwei Augenblicke lang, Robin sei oben und das alles nur ein böser Traum. Aber wenn ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten und sie das scheußliche, verzweifelte Durcheinander (Papiertaschentücher, Pillenfläschchen, welke Blütenblätter) auf dem Nachttisch verstreut sah, fing sie wieder an zu schluchzen – obwohl sie schon geschluchzt hatte, bis ihr die Rippen wehtaten, denn Robin war nicht oben und auch sonst an keinem Ort, von dem er je wieder zurückkommen würde.
Er hatte Spielkarten zwischen die Speichen seines Fahrrads geklemmt. Als er noch lebte, war es ihr nicht klar gewesen, aber durch dieses Knattern hatte sie sein Kommen und Gehen verfolgen können. Ein Kind in der Nachbarschaft hatte ein Fahrrad, das sich genauso anhörte, und immer wenn sie es in der Ferne hörte, überschlug sich ihr Herz für einen schwebenden, ungläubigen Moment von prachtvoller Grausamkeit.
Hatte er nach ihr gerufen? Der Gedanke an seine letzten Augenblicke zerstörte ihre Seele, und trotzdem konnte sie an nichts anderes denken. Wie lange? Hatte er leiden müssen? Den ganzen Tag starrte sie an die Schlafzimmerdecke, bis die Schatten darüber hinwegschlichen, und dann lag sie wach und starrte im Dunkeln auf das Schimmern des Leuchtzifferblatts.
»Du tust niemandem auf der Welt einen Gefallen, wenn du den ganzen Tag weinend im Bett liegst«, sagte Edie energisch. »Du würdest dich sehr viel besser fühlen, wenn du dich anziehen und zum Frisör gehen würdest.«
In ihren Träumen war er ausweichend und distanziert, enthielt ihr irgendetwas vor. Sie sehnte sich nach einem Wort von ihm, aber er schaute ihr nie in die Augen, sprach nie. Libby hatte ihr während der schlimmsten Tage immer wieder etwas ins Ohr gemurmelt, etwas, das sie nicht verstanden hatte. Es war uns nie bestimmt, ihn zu haben, Darling. Er hat nicht uns gehört, und wir sollten ihn nicht behalten. Es war unser Glück, dass er überhaupt so lange bei uns war.
Und dieser Gedanke war es, der Charlotte im Nebel der Medikamente an jenem heißen Morgen in ihrem verdunkelten Zimmer in den Sinn kam: dass Libby die Wahrheit gesagt hatte. Dass Robin, seit er ein Baby gewesen war, auf irgendeine seltsame Art sein Leben lang versucht hatte, ihr auf Wiedersehen zu sagen.
Edie war die Letzte, die ihn gesehen hatte. Danach wusste eigentlich niemand mehr etwas Genaues. Während die Familie im Wohnzimmer plauderte – die Schweigepausen wurden jetzt länger, und alle schauten sich wohlig um und warteten darauf, dass sie zu Tisch gerufen wurden –, kauerte Charlotte auf Händen und Knien vor der Anrichte im Esszimmer und wühlte nach ihren guten Leinenservietten (beim Hereinkommen hatte sie gesehen, dass der Tisch mit den baumwollenen Alltagsservietten gedeckt gewesen war; Ida behauptete – typisch –, sie habe noch nie von den andern gehört und die karierten Picknickservietten seien die einzigen, die sie habe finden können). Charlotte hatte die guten eben gefunden und wollte Ida rufen (Siehst du? Sie waren genau da, wo ich es gesagt habe.), als sie plötzlich das sichere Gefühl hatte, dass etwas nicht stimmte.
Das Baby. Dem Baby galt ihr erster Gedanke. Sie sprang auf, ließ die Servietten auf den Teppich fallen und rannte hinaus auf die Veranda.
Aber Harriet fehlte nichts. Sie saß immer noch angeschnallt in ihrer Wippe und starrte ihre Mutter mit großen, ernsten Augen an. Allison saß auf dem Gehweg und hatte den Daumen im Mund. Sie wiegte sich – offenbar unversehrt – vor und zurück und gab ein wespenartiges Summen von sich, aber Charlotte sah, dass sie geweint hatte.
Was ist los?, fragte sie. Hast du dir wehgetan?
Aber Allison schüttelte den Kopf, ohne den Daumen aus dem Mund zu nehmen.
Aus dem Augenwinkel sah Harriet am Rande des Gartens eine Bewegung aufblitzen – Robin? Doch als sie aufblickte, war dort niemand zu sehen.
Bist du sicher?, fragte Charlotte. Hat das Kätzchen dich gekratzt?
Allison schüttelte den Kopf: nein. Charlotte kniete nieder und untersuchte sie rasch: keine Beulen, keine Schrammen. Die Katze war verschwunden.
Immer noch voller Unbehagen gab Charlotte ihr einen Kuss auf die Stirn und führte sie ins Haus (»Willst du nicht in die Küche gehen und sehen, was Ida macht?«), und dann ging sie wieder hinaus, um nach dem Baby zu sehen. Sie hatte diese traumartig aufblitzende Panik schon öfter gespürt, meistens mitten in der Nacht, und immer wenn ein Kind weniger als sechs Monate alt gewesen war; dann war sie aus tiefem Schlaf hochgeschossen und zum Kinderbett geeilt. Aber Allison fehlte nichts, und das Baby war wohlauf … Sie ging ins Wohnzimmer und deponierte Harriet bei ihrer Tante Adelaide, hob die Servietten vom Esszimmerteppich auf und wanderte – immer noch halb schlafwandelnd, sie wusste nicht, warum – in die Küche, um das Aprikosenglas für das Baby zu holen.
Ihr Mann Dix hatte gesagt, dass man mit dem Essen nicht auf ihn warten sollte. Er war auf der Entenjagd. Das war gut und schön. Wenn Dix nicht in der Bank war, war er meistens auf der Jagd oder drüben im Haus seiner Mutter. Sie stieß die Küchentür auf und schob einen Schemel vor den Schrank, um das Glas für das Baby herauszuholen. Ida Rhew stand gebückt vor dem Herd und zog ein Blech mit Brötchen heraus. Gott, sang eine brüchige Negerstimme aus dem Transistorradio, Gott ändert sich nie.
Die Gospelsendung. Diese Gospelsendung war etwas, das Charlotte quälte, auch wenn sie nie jemandem davon erzählt hatte. Wenn Ida diesen Krach nicht so laut aufgedreht hätte, dann hätten sie vielleicht hören können, was im Garten vor sich ging, hätten vielleicht merken können, dass etwas nicht stimmte. Andererseits (nachts warf sie sich im Bett hin und her und versuchte ruhelos, die Ereignisse bis zu einer ersten Ursache zurückzuverfolgen) war sie es gewesen, die die fromme Ida gezwungen hatte, überhaupt am Sonntag zu arbeiten. Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest. Der Jahwe des Alten Testaments hatte Menschen immer wieder für sehr viel weniger zerschmettert.
Diese Brötchen sind fast fertig, sagte Ida Rhew und beugte sich wieder vor dem Herd.
Ida, die übernehme ich schon. Ich glaube, es gibt Regen. Hol doch die Wäsche herein, und rufe Robin zum Essen.
Als Ida steif mit einer Armladung weißer Hemden ächzend zurückkam, sagte sie mürrisch: Er kommt nicht.
Sag ihm, er soll auf der Stelle herkommen.
Ich weiß nicht, wo er ist. Hab ihn ein halbes Dutzend Mal gerufen.
Vielleicht ist er über die Straße gelaufen.
Ida warf die Hemden in den Bügelkorb. Die Fliegentür knallte. Robin, hörte Charlotte sie schreien. Komm her jetzt, oder es setzt was.
Und dann noch einmal: Robin!
Aber Robin kam nicht.
Ach, um Himmels willen, sagte Charlotte, und sie trocknete sich die Hände an einem Küchenhandtuch ab und ging hinaus.
Draußen wurde ihr – mit leisem Unbehagen, das mehr Ärger war als irgendetwas anderes – klar, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie suchen sollte. Sein Fahrrad lehnte an der Veranda. Er wusste, dass er so kurz vor dem Abendessen nicht mehr weggehen durfte, schon gar nicht, wenn sie Besuch hatten.
Robin!, rief sie. Ob er sich versteckt hatte? In der Nachbarschaft wohnten keine Kinder in seinem Alter; zwar kamen ab und zu verwahrloste Kinder, schwarze wie weiße, vom Fluss herauf zu den breiten, von Eichen überschatteten Gehwegen der George Street, aber jetzt war keins von ihnen zu sehen. Ida hatte ihm verboten, mit ihnen zu spielen, aber manchmal tat er es trotzdem. Die Kleinsten waren zum Erbarmen mit ihren verkrusteten Knien und schmutzigen Füßen; Ida Rhew verscheuchte sie schroff aus dem Garten, aber Charlotte gab ihnen, wenn sie sich mild gestimmt fühlte, mitunter einen Vierteldollar oder ein Glas Limonade. Wenn sie hingegen älter wurden – dreizehn oder vierzehn –, war sie froh, wenn sie sich ins Haus zurückziehen und es Ida überlassen konnte, sie mit all ihrem Ingrimm zu verjagen. Sie schossen mit Luftgewehren auf Hunde, stahlen Sachen von den Veranden der Leute, benutzten eine unflätige Sprache und streunten bis spät nachts durch die Straßen.
Ida sagte: Ein paar von den verkommenen kleinen Jungs sind vorhin die Straße runtergelaufen.
Wenn Ida »verkommen« sagte, meinte sie »weiß«. Ida hasste die armen weißen Kinder und gab ihnen mit unbeirrbar einseitigem Zorn die Schuld an sämtlichen Gartenmissgeschicken, selbst an denen, für die sie nach Charlottes Ansicht unmöglich verantwortlich sein konnten.
War Robin bei ihnen?, fragte Charlotte.
Nein.
Wo sind sie jetzt?
Hab sie verjagt.
In welche Richtung?
Runter, Richtung Depot.
Die alte Mrs. Fountain von nebenan in ihrer weißen Strickjacke und mit der Schmetterlingsbrille war in ihren Vorgarten gekommen, um zu sehen, was los war, begleitet von ihrem hinfälligen Pudel Mickey. Die beiden sahen sich auf komische Weise ähnlich: spitze Nase, starre graue Löckchen, misstrauisch vorgeschobenes Kinn.
Na, rief sie fröhlich, feiert ihr ’ne große Party da drüben?
Nur die Familie, rief Charlotte zurück und suchte den dunkler werdenden Horizont jenseits der Natchez Street ab, wo die Bahngleise sich flach in die Ferne erstreckten. Sie hätte Mrs. Fountain zum Essen einladen sollen. Mrs. Fountain war Witwe, und ihr einziges Kind war im Koreakrieg gefallen, aber sie war eine Nörglerin und eine bösartige Klatschbase. Mr. Fountain, Inhaber einer Textilreinigung, war früh gestorben, und die Leute behaupteten scherzhaft, sie habe ihn unter die Erde geredet.
Was ist los?, fragte Mrs. Fountain.
Sie haben Robin nicht gesehen, oder?
Nein. Ich war den ganzen Nachmittag oben und habe den Speicher ausgeräumt. Ich weiß, ich sehe furchtbar aus. Sehen Sie den ganzen Plunder, den ich herausgeschleppt habe? Ich weiß schon, dass die Müllabfuhr erst am Dienstag kommt, und es ist mir unangenehm, das ganze Zeug einfach so auf der Straße zu lassen, aber ich weiß nicht, was ich sonst machen soll. Wo ist Robin denn hingelaufen? Können Sie ihn nicht finden?
Er ist sicher nicht weit, sagte Charlotte und trat auf den Gehweg hinaus, um die Straße hinunterzuspähen. Aber es ist Essenszeit.
Gibt gleich ein Gewitter, sagte Ida Rhew und schaute in den Himmel.
Sie glauben doch nicht, dass er in den Fischteich gefallen ist, oder?, fragte Mrs. Fountain besorgt. Ich hab immer schon befürchtet, dass eins von diesen Kleinen da mal reinfällt.
Der Fischteich ist nicht einmal einen halben Meter tief, sagte Charlotte, aber sie machte doch kehrt und ging nach hinten in den Garten.
Edie war auf die Veranda herausgekommen. Ist was?, fragte sie.
Er ist nicht hinten, rief Ida Rhew. Ich hab schon geguckt.
Als Charlotte an der Seite des Hauses am offenen Küchenfenster vorbeiging, hörte sie immer noch Idas Gospelsendung.
Sanft und liebevoll ruft Jesus,
Ruft nach dir und ruft nach mir,
Sieh nur, an der Himmelspforte
Wacht und wartet er auf uns …
Der Garten lag verlassen da. Die Tür des Werkzeugschuppens stand offen: leer. Eine faulige Schicht von grünem Schaum lag unberührt auf dem Goldfischteich. Charlotte blickte hoch, und ein Blitz zuckte wie ein zerfaserter Draht durch die schwarzen Wolken.
Mrs. Fountain sah ihn zuerst. Ihr Schrei ließ Charlotte wie angewurzelt stehen bleiben. Sie drehte sich um und rannte zurück, schnell, schnell, aber nicht schnell genug – trockener Donner grollte in der Ferne, der Gewitterhimmel tauchte alles in ein seltsames Licht, und der Boden neigte sich ihr entgegen, als sie mit den Absätzen in der schlammigen Erde versank, während immer noch irgendwo der Chor sang, und ein jäher, kräftiger Wind, kühl vom aufziehenden Regen, rauschte über ihr durch die Eichen, dass es klang wie das Schlagen riesiger Flügel, und der Rasen bäumte sich grün und gallig auf und umwogte sie wie das Meer, während sie blindlings und voller Entsetzen dorthin stürzte, wo, wie sie wusste – denn es war alles da, alles, in Mrs. Fountains Schrei –, das Allerschlimmste sie erwartete.
Wo war Ida gewesen, als sie angekommen war? Wo Edie? Sie erinnerte sich nur an Mrs. Fountain, die eine Hand mit einem zerknüllten Kleenex fest an den Mund presste und hinter der perlschimmernden Brille wild mit den Augen rollte, an Mrs. Fountain und den kläffenden Pudel und an das volle, unirdische Vibrato – von irgendwoher, von nirgendwoher und von überallher zugleich – in Edies Schreien.
Er hing mit dem Hals an einem Strick, der über einen niedrigen Ast des schwarzen Tupelobaums geschlungen war, der an der ausgewucherten Ligusterhecke zwischen Charlottes und Mrs. Fountains Haus stand, und er war tot. Die Spitzen seiner schlaffen Tennisschuhe baumelten zwei Handbreit über dem Gras. Die Katze, Weenie, lag bäuchlings ausgestreckt und o-beinig auf einem Ast und schlug mit einer Pfote geschickte Finten nach Robins kupferroten Haaren, die glänzend vom Wind zerzaust waren – das Einzige an ihm, das noch die richtige Farbe hatte.
Komm heim, sang der Radiochor melodiös:
Komm heim,
du, der du müde bist, komm heim …
Schwarzer Rauch quoll aus dem Küchenfenster. Die Hühnerkroketten auf dem Herd waren angebrannt. Einst ein Lieblingsgericht der Familie, konnte sie nach jenem Tag niemand mehr anrühren.
KAPITEL 1
Die tote Katze