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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74096-762-8
Hanna Martens erschrak heftig, als sie ins Schwesternzimmer der chirurgischen Station kam, wo sie mit Oberschwester Elli eine Tasse ihres schon berühmten Kaffees trinken wollte.
Da saß Oberschwester Elli doch tatsächlich am Tisch und weinte!
Das war für die junge Ärztin ein so ungewohnter und alarmierender Anblick, daß sie zuerst gar nichts tun konnte. Sie blieb stehen, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Endlich tat sie einen tiefen Atemzug und ging näher auf Elli zu, die das Gesicht hinter den Händen verborgen und anscheinend noch nicht bemerkt hatte, daß da jemand war. Erst, als Hanna behutsam eine Hand auf ihre zuckende Schulter legte, schrak Elli zusammen und sah auf.
Ihr Gesicht drückte alles mögliche aus: Schuldbewußtsein, daß sie sich so hatte gehen lassen, Verlegenheit, weil sie jemand in dieser Situation entdeckt hatte und schließlich auch Hilflosigkeit.
Diese Hilflosigkeit war so stark in ihr, daß sie, ob sie wollte oder nicht, wieder in Tränen ausbrach. Diesmal bewußt und sehr, sehr verzweifelt. Es mußte schon schlimm sein, wenn Oberschwester Elli so die Beherrschung verlor, dachte Hanna Martens bei sich und zog sich einen zweiten Stuhl heran. Sie ließ Elli weinen, denn sie hatte die Erfahrung gemacht, daß Tränen einen Menschen zwar traurig machen, aber ihn auch unendlich erleichtern konnten.
Endlich gelang es der Oberschwester, sich zu beruhigen.
Sie zog das Taschentuch und tupfte sich die letzten Tränen ab. Dann sah sie Hanna an.
»Tut mir leid, Chefin – aber das mußte sein.«
»Möchten Sie mir nicht sagen, was eigentlich geschehen ist? Ich habe Sie noch nie so – so – elend gesehen, Oberschwester.«
»Das ist genau der richtige Ausdruck, Chefin. Elend! Ich fühle mich hundsmiserabel elend.«
Hannas Blick wurde prüfender. Und dann griff sie nach Ellis Handgelenk, fühlte ihre Stirn und sagte befehlend: »Sie gehören ins Bett. Und zwar sofort.«
»Unmöglich, Chefin. Ich habe keine Vertretung und…«
»… und die Klinik wird nicht zusammenbrechen, wenn Oberschwester Elli mal an sich denkt, indem sie sich augenblicklich auf der inneren Station in ein Einzelzimmer legt und sich behandeln läßt. Je schneller Sie das tun, Elli, desto schneller sind Sie auch wieder gesund. Was nützen Sie denn den Patienten, wenn Sie krank umherschleichen und alle möglichen anderen auch noch anstecken? So sind Sie in ein paar Tagen wieder okay.«
»So, wie ich mich augenblicklich fühle, kann ich mir das gar nicht vorstellen!« Man hörte der Oberschwester an, daß ihre Abwehr schwächer wurde. Sie mußte sich wirklich hundeelend fühlen, wenn sie überhaupt zugab, daß ihr etwas fehlte!
Hanna sorgte dafür, daß Oberschwester Elli augenblicklich ein Einzelzimmer, das sie für besondere Fälle immer freihielten, bekam. Schließlich war Oberschwester Ellis Grippe so ein Sonderfall. Hanna wußte, daß sie ausgezeichnet gepflegt würde. Immerhin war sie Oberschwester, und alle hatten großen Respekt vor ihr. Es gab sogar einige, die sie heimlich als Drachen bezeichneten. Aber das war übertrieben. Oberschwester Elli sah nur zu, daß alles seinen rechten Gang lief, daß das Wohl der kleinen Patienten immer im Vordergrund stand – und daß nirgendwo geschlampt wurde. Schlamperei war etwas, das Oberschwester Elli niemals duldete und auch so schnell nicht verzieh!
Hanna war der Ansicht, daß die Oberschwester damit genau recht hatte.
»Wie lange wollen Sie mich denn hier liegen lassen, Chefin?« wollte Elli wissen. Jetzt, da sie im Bett lag, fühlte sie sich schon sehr viel besser. Es tat gut, sich zu dehnen und andere für sich arbeiten zu lassen. Es tat ihr aber wahrscheinlich auch nur so lange gut, wie sie sich so elend fühlte wie jetzt.
»Das eine sage ich Ihnen, Chefin – sobald ich mich einigermaßen fühle, stehe ich wieder auf und versehe meinen Dienst«, sagte Elli und machte ein entschlossenes Gesicht. Hanna lachte und fuhr ihr über die glühende Wange.
»Jetzt wollen wir erst einmal Ihrem Fieber und damit der Grippe zu Leibe rücken. Und dann reden wir weiter.«
Hannas Pieper, den sie ständig bei sich trug, meldete sich. Eilig erhob sie sich und sagte, indem sie schon die Türklinke niederdrückte, um zu gehen: »Sobald ich kann, bin ich wieder hier. Sie sollen sich nicht verlassen fühlen, Elli. Und jetzt versuchen Sie einmal, ein wenig zu schlafen. Schlaf ist ein gutes Heilmittel.«
Elli schloß ergeben die Augen. An ihr sollte es jedenfalls nicht liegen, wenn sie nicht so schnell wie möglich wieder fit war.
Als Hanna Martens sie nach etwa einer Stunde aufsuchte, schlief Oberschwester Elli sanft und selig. Hanna lächelte vor sich hin und schlich sich wieder aus dem Zimmer. Sollte sie erst einmal schlafen, danach konnte man weitersehen.
Am Abend sprach sie mit ihrer Mutter und der Füchsin über Oberschwester Elli. Die Füchsin nickte nachdenklich und sagte dann mitfühlend: »Auf so was habe ich schon lange gewartet. Elli verausgabt sich bei der Arbeit, ganz gleich, was sie gerade tut. Wenn sie dann mal was aufgeschnappt hat, ist’s bei ihr doppelt so schlimm, weil sie nie mit ihren Kräften haushält. Aber wie oft habe ich ihr das schon gesagt – und sie hört einfach nicht auf mich. Bei Elli Gaus ist jedes Wort zuviel.«
»Recht hat sie, die Füchsin«, sagte Bea Martens und warf ihrer Tochter einen vorwurfsvollen Blick zu. »Du und Kay, ihr seid beide ausgezeichnete Ärzte. Das sagt jeder, auch ich. Und ich bin, als eure Mutter, sehr stolz auf euch beide. Aber bei Elli habt ihr versagt. Eine Grippe kriegt man nicht von einer Minute auf die andere. Die schleppt man längere Zeit mit sich herum. Und wer hat das gemerkt? Kein Mensch, obwohl die arme Elli tagtäglich von allen möglichen Ärzten umgeben ist. Also, bei ihr habt ihr euch wirklich nicht mit Ruhm bekleckert – weder du noch Kay.«
Kay trat ein. Er hatte die letzten Worte seiner immer noch schönen Mutter gehört und wußte nicht, um was es sich handelte. Er kam gerade aus dem OP, wo er bei einem Jungen, der mit seinem Fahrrad verunglückt war, einen Trümmerbruch am Schienbein genagelt hatte.
»Von wem oder was wird hier gesprochen?« erkundigte er sich und stiebitzte sich ein Stück Kuchen, den die Füchsin gebacken hatte, weil sie wußte, daß Hanna gern etwas Süßes aß.
»Von dir, mein Sohn, und von Hanna und von allen anderen Ärzten der Klinik.« Bea Martens bewies wieder einmal, daß sie kein Blatt vor den Mund nahm.
Sie sah zu, wie Kay sich in einen Sessel setzte und die Beine von sich streckte. Und schon wurde sie milder. Sie, als Arztfrau, wußte genau, wie schwer der Beruf war und wie sehr er die Kräfte eines Menschen beanspruchen konnte.
»Ist irgend etwas mit der Klinik, was man mir bisher noch nicht gesagt hat?« Kay sah sich aufmerksam in der Runde um und beruhigte sich sofort, als er das Lächeln in Hannas Augen erkannte.
»Es ist Elli«, erklärte sie. »Ich habe sie heulend im Schwesternzimmer gefunden und festgestellt, daß sie Fieber hat. Wahrscheinlich hat sie sich eine handfeste Grippe eingehandelt. Du kannst dir vorstellen, welches Unglück das für sie bedeutet. Und Mutter macht mir Vorwürfe, daß wir das nicht gleich erkannt haben. Wenn du mich fragst – sie hat recht. Wir hätten wissen müssen, daß mit Elli etwas nicht in Ordnung war. Aber wir haben eben nicht an eine solche Möglichkeit gedacht – und so war Elli einfach nicht krank, wenn du verstehst, was ich damit ausdrücken will.«
Kay verstand sofort. Er sah Hanna besorgt an.
»Hat es sie schlimm erwischt?« wollte er wissen. Hanna gab seinen Blick beruhigend zurück.
»Ach, was heißt schon schlimm?« fragte sie dann zurück. »Sagen wir, es hat sie mittelprächtig erwischt. Jedenfalls langte es, um sie sofort ins Bett zu stecken. Ich habe sie an den Dauertropf gehängt, aber das hat sie nur halb mitbekommen, weil sie so erschöpft war, daß sie beinahe weiterschlief.«
»Ich werde sie morgen sofort besuchen.«
»Tu das.« Hanna wirkte sehr zufrieden. »Elli wird sich ganz sicher darüber freuen.«
Sie sahen sich noch gemeinsam einen Krimi im Fernsehen an. Kay behauptete immer, daß er sich dabei herrlich entspannen könne. Nach dem Krimi trennten sie sich, um sich schlafen zu legen. Morgen begann ein neuer Tag, angefüllt mit Arbeit und Sorge um ihre zahlreichen kleinen Patienten.
*
Acht Tage lang fühlte sich Oberschwester Elli hundeelend, obwohl alles getan wurde, um die Grippe so schnell wie möglich zu überwinden. Aber man mußte wieder einmal einsehen, daß es Krankheiten gab, die ihre Zeit brauchten, ehe sie wieder abklangen.
»Hoffentlich lassen Sie sich im nächsten Herbst impfen, Elli«, sagte Hanna heute, als sie mit Elli, die ihre ersten Gehversuche machte, über den Flur ging.
»Ganz bestimmt!« erwiderte Elli gehorsam. Sie hatte, obwohl sie als Krankenschwester genau wußte, was notwendig war und was nicht, eine geradezu panische Angst vor Spritzen jeder Art. Sie konnte nicht zählen, wieviele Spritzen sie tagtäglich verabfolgte. Aber schon der Gedanke, daß sie selbst eine bekommen könnte, jagte ihr Angstschauer über den Rücken. Bisher hatte sie es vor jedermann verbergen können – aber irgendwann würde man es wissen und lauthals über sie lachen.
Oberschwester Elli und Angst! Das gab’s doch überhaupt nicht. Und dann noch vor einer Injektion? Unmöglich!!!
Aber es war tatsächlich so, und Elli wünschte sich, diese dumme Angst zu überwinden. Aber sie geriet immer wieder nur bei der Vorstellung, eine Spritze über sich ergehen lassen zu müssen, geradezu in Panik.
Nur gut, daß es niemand wußte – noch nicht…
»Wann erlauben Sie mir endlich, meine Arbeit wieder aufzunehmen, Chefin?« fragte Elli jetzt mißlaunig. Sie war von Natur aus ein motorischer Mensch und konnte sich nicht vorstellen, irgendwann einmal tatenlos zu sein und einfach die Hände in den Schoß zu legen.
»Da werden Sie sich wohl noch einige Wochen gedulden müssen, meine Liebe«, gab Hanna freundlich zurück.
Elli blieb so plötzlich stehen, daß man beinahe den Eindruck gewann, sie sei unversehens gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen.
»Da habe ich mich wohl verhört, oder?« stieß Elli aufgeregt hervor. Hanna ergriff sie lachend beim Arm und zog sie weiter bis zum Wintergarten, in dem sich um diese Tageszeit niemand aufhielt. Hier drückte sie sie in einen Armstuhl und setzte sich neben sie.
»Ich habe gewußt, daß ich mich auf einen Kampf mit Ihnen vorbereiten muß«, begann sie behutsam. »Aber es ist gut, wenn wir ihn sofort ausfechten, denn ich kenne Sie als einen durchaus vernünftigen und einsichtigen Menschen.«
»Diese Einleitung macht mich aber ganz schön mißtrauisch, Chefin«, stellte Elli mißlaunig fest. Hanna sah sie zwingend an und fragte: »Was würden Sie einem Menschen raten, der gerade eben eine schwere, viel zu spät behandelte Grippe hinter sich gebracht hat?«
»Nun, wenn er es sich leisten könnte, würde ich ihm raten, in die Berge, in denen schon Schnee liegen muß, zu fahren und sich in der schönen, sauberen Luft zu erholen.«
»Na, und das können Sie sich wirklich leisten, Elli.«
Die Oberschwester sah vor sich hin, aber dann zwang sie sich endlich ein kleines Lächeln ab.
»Jetzt haben Sie mich aber ganz schön verladen, Chefin, was?« stieß sie hervor, und man sah ihr an, daß sie nicht wußte, ob sie nun wütend sein sollte oder nicht. Hanna ließ ihr gar keine Zeit.
»In Steidlingen, hinter Schluchsee im Schwarzwald, Elli, haben sie schon hohen Schnee. Sie wissen doch, daß ich, wenn ich mir schon mal einen Urlaub leiste, nach Steidlingen fahre, nicht wahr? Es gibt dort keine eleganten Hotels, nur eine Dorfkneipe, in der man ein ausgezeichnetes Viertele trinken kann. Wenn ich nach Steidlingen fahre, wohne ich auf einem großen Bauernhof. Dort hat man gleich so was wie Familienanschluß. Die Häberles sind einfach reizende Leute. Man kann herrliche Spaziergänge machen, es gibt sogar eine wunderbare Langlaufpiste dort und…«
»Ich will arbeiten, Chefin, und nicht faulenzen und mich verwöhnen lassen und…«
»Das gehört aber alles noch zur Therapie bei Ihnen, Elli. Seien Sie also nicht so eigensinnig, sondern tun Sie endlich auch mal was für sich selbst. Das Leben ist anstrengend genug für Sie. Sie fahren also nach Steidlingen, abgemacht?«
Elli sah Hanna offen an.
»Halten Sie das wirklich für dringend notwendig, Chefin?« wollte sie wissen und wußte selbst nicht, was sie sich für eine Antwort wünschte.
»Ja, Elli, das halte ich für dringend notwendig. Nicht, daß Sie ernsthaft krank waren – aber Sie verausgaben sich so sehr, daß Sie endlich einmal auch an sich selbst denken sollten. Denken Sie doch an den schönen Wagen, den Sie von Gaby Terlany geschenkt bekommen haben. Ich weiß zufälligerweise, daß Sie die Inspektionen immer sorgsam machen lassen, die vorgeschrieben sind.«
»Natürlich, schließlich will ich ja lange was von diesem herrlichen Auto haben«, gab Elli zu und merkte nicht einmal, daß sie wieder in eine Falle getappt war. Hanna lächelte sie freundschaftlich an.
»Sehen Sie? Und wir hier, wir wollen auch lange was von Ihnen haben, Elli. Und deshalb schicke ich Sie jetzt zur Inspektion in den Schwarzwald. Vorher wird nicht mehr gearbeitet.«
»Na schön.« Elli seufzte tief auf. »Ich gebe nach. Nur – ich möchte schon ein bis zwei Tage vorher wissen, wann es losgehen soll.«
»Das werden Sie schon heute erfahren, denn ich werde nachher mit den Häberles telefonieren.«
»Na, Telefon haben sie wenigstens. Da ist man nicht vollständig von der übrigen Welt abgeschnitten«, sagte Elli trübe. Hanna lachte.
»Sie werden die übrige Welt vergessen, wenn Sie erst einmal an Ort und Stelle sind.«
*