Chefarzt Dr. Norden
– 1179 –

Auge um Auge, Zahn um Zahn

Ein Drama erschüttert das Leben der Nordens

Helen Perkins

Impressum:

Epub-Version © 2021 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74096-469-6

Weitere Titel im Angebot:

Katja Baumann lugte in das Büro ihres Chefs und tippte dabei demonstrativ auf ihre Armbanduhr. Dr. Daniel Norden, der Chefarzt und Leiter der Münchner Behnisch-Klinik, schlug eben die letzte Seite einer Kostenaufstellung zu. Diese Dinge gehörten nun mal zum Posten eines Klinikchefs, auch wenn die medizinische Seite dem Arzt aus Leidenschaft weitaus lieber war.

Der hoch gewachsene, sportliche Mediziner mit den klugen Augen winkte lachend ab. »Bin schon fertig. Keine Sorge, ich habe die Zeit nicht vergessen. Das wäre bei dieser überaus trockenen Lektüre auch kaum möglich.«

»Ich sollte Sie daran erinnern, dass Sie um sechs Uhr gehen wollen. Immerhin ist Samstag …«

»Und was für einer.« Daniel Norden rieb sich die Hände. »Ich kann mich kaum noch daran erinnern, wann meine Frau und ich gemeinsam ein freies Wochenende hatten. Und dieses überaus seltene Ereignis will gebührend genossen werden.«

»Das will ich aber auch meinen«, ließ Felicitas Norden sich da von der Tür zum Vorzimmer her vernehmen. Die Blondine mit den erstaunlich blauen Augen war Leiterin der Pädiatrie in der Behnisch-Klinik und auf diesem Posten ebenso eingespannt wie ihr Mann. Sie hatte Verständnis, wenn Daniel mal wieder später als geplant Feierabend machte, denn ihr erging es ja oft ebenso.

An diesem Samstag aber bestand sie darauf, dass sie pünktlich, wie verabredet, heimfuhren. Eine sehr stressige Woche lang hinter ihnen beiden.

Während Fee Norden einen schwierigen Fall mit sehr viel Engagement zu einem guten Ende hatte bringen können, musste ihr Mann mit zwei Todesfällen zurecht kommen, was ihm nicht leicht fiel. Natürlich war es eine Binsenweisheit, dass nicht jeder Patient geheilt werden konnte. Doch die endgültige Niederlage, die der bleiche Schnitter stets im Gepäck hatte, ließ den Ausnahmemediziner Daniel Norden noch immer an seinen eigenen Fähigkeiten zweifeln und ihn überlange grübeln, ob er auch wirklich alles richtig gemacht und nichts versäumt hatte.

In einem solchen Fall gab es nur eine ›Therapie‹: Abstand. Ein Wochenende zu zweit ohne Stress und Hektik, dafür mit gutem Essen, guter Musik und harmonischer Zweisamkeit eines immer noch und immer wieder verliebten Paares, das sich trotz vieler Ehejahre und fünf Kinder mental noch im Zustand zweier verliebter Teenager befand. Und Fee war fest entschlossen, ihren Dan mit diesem süßen Heilmittel wieder so richtig aufzumöbeln.

»Schatz, ich komme«, ließ er sie mit einem vielsagenden Lächeln wissen. »Die Klinik wird am Montag noch da sein. Das hoffe ich jedenfalls …«

Fee schüttelte nachsichtig den Kopf und fragte Katja Baumann, die bereits in ihren Mantel geschlüpft war und nun nach ihrer Handtasche griff: »Pläne fürs Wochenende?«

Die hübsche Brünette hob die Schultern. »Hagen und ich wollen ein bisschen faulenzen. Vielleicht raffen wir uns noch auf und gehen essen, aber mehr ist nicht drin. Das triste Winterwetter drückt doch ziemlich aufs Gemüt.«

Fee nickte und warf einen Blick aus dem Fenster. Es war bereits dunkel, über der Isarmetropole hingen tiefe, graue Wolken, aus denen es fein schneite.

»Also los, mein Schatz, stürzen wir uns ins Wochenende«, sagte Daniel Norden unternehmungslustig. »Darf ich dich vielleicht zum Essen einladen?«

Fee lächelte. »Ist das ein unmoralisches Angebot?«

Daniel grinste. »Und wenn?«

»Nehme ich es mit Kusshand an«, lachte seine Frau.

Hand in Hand verließen sie gleich darauf die Behnisch-Klinik. Daniel Norden fuhr zu einem kleinen, gemütlichen Restaurant ganz in der Nähe, wo sie sich ein italienisches Menü munden ließen.

Beim Espresso fragte Fee: »Wie geht es dir, Dan?«

»In deiner Gesellschaft? Wunderbar.«

»Du sollst kein Süßholz raspeln, sondern ehrlich sein«, mahnte sie. »Du hast einiges einstecken müssen in dieser Woche.«

Er wurde ernst. »Ja, ich kann es nicht leugnen. Der Fall Reiter war tragisch. Wäre die junge Frau eine halbe Stunde früher gefunden worden, hätten wir sie noch retten können. Aber das Schlafmittel war bereits in ihrem Kreislauf. Keine Chance. Und die Leukämie-Patientin, die knapp einen Tag, bevor wir einen passenden Stammzellenspender gefunden haben, verstorben ist, hat mir ebenfalls ziemlich zu schaffen gemacht.« Er seufzte. »Es ist dieses Gefühl, zu spät zu kommen, zu langsam zu sein, nicht gut genug, das setzt mir zu.«

»Du bist gut genug, Schatz«, versicherte Fee und drückte seine Rechte sacht. »Du bist der Beste. Das sage ich als Ehefrau und Kollegin, wohlgemerkt.«

»Das ist Balsam für meine Seele«, scherzte er.

»Und davon gibt es noch mehr, wenn wir heimkommen. Sollen wir zahlen und aufbrechen?«

»Gern. Haben wir eigentlich sturmfreie Bude?«

Fee musste kichern. »Nicht ganz. Die Zwillinge werden uns nicht stören. Dési besucht eine Freundin, und Janni will heute Abend auf eine Party gehen. Aber Alex ist daheim.«

Die Zwillinge waren die jüngsten Sprösslinge der Nordens. Sie hatten das Abitur bereits in der Tasche, sich aber noch nicht für ein Studienfach entschieden.

Ganz im Gegenteil zu Alexander Norden. Er war der Sohn von Daniels Cousin Michael, der an der Uni von Las Palmas einen Lehrstuhl innehatte und mit einer Spanierin verheiratet war. Alex hatte sich entschlossen, ebenfalls Medizin zu studieren, doch lieber in Deutschland. Deshalb wohnte er im Haus der Nordens, bis er eine bezahlbare Bleibe gefunden hatte.

Als Fee und Daniel wenig später heimkamen, verließ Dési eben mit Tasche und Rucksack das Haus.

»So viel nimmst du für eine Übernachtung mit?«, wunderte ihr Vater sich ehrlich.

Das hübsche Mädchen interessierte sich sehr für Mode und dachte daran, vielleicht Design zu studieren. Dési war immer außergewöhnlich gestylt. An diesem Abend trug sie zu einem Spitzenkleid dicke Strumpfhosen, einen Armeeparka und Doc Martens Boots. Ihre blonden Locken hatte sie zu einer Zwiebel mitten auf dem Kopf verwurstelt. Sie schaute ihren Vater fragend an.

»Das nennst du viel? Marci und ich wollen neue Outfits zusammen stellen. Hätte sie keinen vollen Kleiderschrank, müsste ich noch zwei Taschen mehr mitschleppen.«

»Marci ist die Tochter von Richter Busch«, ließ Fee ihren Mann wissen. »Sie studiert Modedesign.«

Daniel seufzte. »Na, dann sind ja die Richtigen beisammen …«

Nun trat Désis Zwillingsbruder Janni in die offene Haustür und wunderte sich: »Was ist denn das für ein Auflauf? Machst du deine Modenschau gleich hier und jetzt, Schwesterherz?«

Dési verzog den Mund. »Immer witzig, unser Professor. Wie siehst du überhaupt aus? So kannst du dich aber nirgends sehen lassen. Ausgeleierte Jacke, uraltes Shirt, und deine Brille ist immer noch geklebt, Mann o Mann!«

»Ich war heute beim Optiker, die Neue ist noch nicht fertig. Und für eine Party bei Olli reicht’s allemal. Wir legen keinen sonderlichen Wert auf Äußerlichkeiten. Es gibt schließlich Wichtigeres im Leben.«

»Wird das etwa ein Philosophentreffen?«, fragte Daniel.

»Iwo.« Dési lachte. »Eher ein paar traurige Nerds auf der Suche nach dem schönen Geschlecht.«

»Schön?« Janni hob die Schultern. »Ich weiß nicht …«

»Jetzt sei friedlich, sonst nehme ich dich nicht mit, und du kannst mit der U-Bahn fahren. Mam, kriege ich deinen Wagen?«

Fee kramte ihren Schlüssel aus der Tasche und bat: »Fahr bitte vorsichtig. Und – wenn möglich – stell ihn nicht wieder ins Halteverbot. Die Knöllchenpreise haben saftig angezogen.«

Das Mädchen grinste. »Keine Sorge, Marcis Eltern haben eine geräumige Doppelgarage und sind übers Wochenende nicht da.«

Janni lächelte spöttisch. »Wie praktisch.«

»Sei nicht so frech, sonst nehme ich dich wirklich nicht mit«, drohte Dési, woraufhin ihr Bruder ihr eine Tasche abnahm, um sie zu tragen. Sie kabbelten sich auf dem Weg zum Auto allerdings weiter, das war bei ihnen der Normalzustand.

Fee betrat rasch das Haus, denn sie fror. Daniel schloss die Haustür hinter ihnen und nahm ihr die Jacke ab.

»Wo ist denn Alex mit seinen Gästen?«, wunderte er sich, denn im Wohnraum brannte kein Licht.

»Sie werden oben sein.« Fee lächelte zufrieden. »Hauptsache, wir haben das Wohnzimmer für uns …«

»Hm, Roter oder Weißer?«

Sie musste nicht lange überlegen. »Roter und etwas Jazz.«

»Damit könnte ich mich auch anfreunden«, gab Daniel lächelnd zu und ging hinunter in den Weinkeller. Kurze Zeit später saßen die Nordens gemütlich auf einem der beiden bequemen Sofas und genossen ein Glas rubinroten Wein zu den einschmeichelnden Klängen von Miles Davis‘ unverkennbarer Trompete. Fee kuschelte sich lächelnd an ihren Mann und schloss die Augen. Sie fühlte sich einfach rundum wohl, so konnte es bleiben. Dies war ein wirklich gelungener Start in ein entspanntes Wochenende.

Dass es leider nicht so bleiben sollte, ahnte sie noch nicht …

*

»Mami, wann sind wir denn nun endlich daheim? Ich bin sooo müde!« Die kleine Linda Holzhäuser gähnte und verdrehte dabei die Augen. Ihre Mutter seufzte. »Bald, Schätzchen, bald …«

Der Auftrag in Wasserburg war eine ziemliche Pleite gewesen.

Miriam Holzhäuser war freiberufliche Fotografin und arbeitete regelmäßig mit einigen Münchner Zeitungen zusammen. An diesem Samstag hatte sie sich mit einem Journalisten vom Tageblatt in einem jungen Unternehmen treffen sollen, um Fotos für die Gründergeschichte zu machen. Aber der Kollege der schreibenden Zunft war nicht sonderlich zuverlässig, er hatte sie versetzt. Miriam hatte nach einem längeren Telefonat mit der Redaktion dann zumindest die Fotos machen können, sodass sie nicht ganz umsonst nach Wasserburg gefahren war. Doch der ganze Samstag war draufgegangen, und sie hatte ihre Tochter mitnehmen müssen, weil einfach kein Babysitter aufzutreiben gewesen war.

Linda hielt sich mit ihren zwölf Jahren sowieso für viel zu alt, um auf diese Weise betreut zu werden. Doch sie hatte sich in Wasserburg ebenfalls gelangweilt und war nun quengelig.

»Was hältst du davon, wenn wir morgen Schlittschuh laufen gehen?«, schlug Miriam nun vor, um die Atmosphäre zu entschärfen. Linda hob die Schultern und brummte: »Von mir aus.« Die Fotografin warf einen Blick in den Rückspiegel und lächelte ihrer Tochter zu. Linda verzog nur leicht den Mund, doch im nächsten Moment weiteten sich ihre Augen, und sie schrie entsetzt: »Pass auf, Mama, da vorne!«

Als Miriam wieder auf die Straße schaute, hatte sie das Gefühl, sich unvermittelt und ohne jede Vorwarnung mitten in einem Albtraum zu befinden. Die Autobahn vor ihnen war blockiert. In einer Entfernung von ein paar hundert Metern waren mehrere Auto ineinander gefahren. Ein Lastwagen von einer Spedition lag quer über der Fahrbahn. Der Unfall musste gerade erst passiert sein, denn nichts regte sich dort vorn, es gab keine Absperrungen, keine Warnhinweise. Weder Polizei noch Rettungsfahrzeuge waren vor Ort.

Miriam stieg mit ganzer Kraft auf die Bremse. Sie bemühte sich, den Wagen in der Spur zu halten, was nicht einfach war. Der leichte Schneefall hatte eine nasse, glänzende Schicht auf den Asphalt gelegt, die zudem den normalen Bremsweg verlängerte.

Mit wachsendem Entsetzen sah sie die Unfallstelle rasend schnell auf sich zukommen. Es würde nicht reichen, um einen Aufprall zu vermeiden. In fieberhafter Panik überlegte sie, was sie tun sollte. Es gab keine Alternativen. Rechts und links nur die Leitplanken, dazu der Gegenverkehr hinter dem Mittelstreifen. Trotzdem riss Miriam in hilfloser Verzweiflung das Steuer herum. Linda schrie. Ihr Auto drehte sich und knallte dann mit der Beifahrerseite auf die Ladefläche des Lasters.

Ein ohrenbetäubendes Krachen, Splittern von Glas, Bersten von Metall. Miriam hörte noch immer Lindas Schreien, während sie spürte, wie ihr Airbag sich öffnete. Ein letzter, dumpfer Schlag, dann war es vorbei. Stille umgab sie.

Die Fotografin hing paralysiert in ihrem Sitz. Sie schmeckte Blut, hob mühsam den Blick und murmelte: »Linda, alles in Ordnung?« Keine Antwort. Noch einmal: »Linda, bist du okay?«